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Elftes Kapitel

Es war zwei Uhr, als schüchtern an die Thür des Zimmers geklopft wurde, welches Clarissa angewiesen worden war.

Das liebliche Mädchen hatte vor allem die wenigen, in ihrem Köfferchen mitgebrachten Gegenstände geordnet und sich dann nach einer kleinen Erfrischung angeschickt, ihrem William zu schreiben.

Es war ein langer Brief, in welchem sich die ernste Seite ihres Charakters und eine über ihr Alter hinausgehende Beobachtungsgabe abspiegelten. Eine Stelle in diesen ersten, in der Fremde geschriebenen Zeilen, die später, als die Gerechtigkeit endlich erwacht war und sich entschlossen hatte, die Schuldigen zu treffen, aufgefunden wurden, lauteten:

»Bei Tagesanbruch erwachte ich aus einem leichten Schlummer, als wir eben an der belgischen Grenze angekommen waren. Die Sonne schien schon warm und ich konnte die herrlichen Ebenen Flanderns bewundern, welche sich von der Meerenge bis nach Brüssel erstreckten.

Die Feldarbeiter fingen eben an, sich zwischen den vom Tau feuchten Feldern zu zerstreuen. Der Zug schoß pfeilschnell an Städten mit alten Türmen und an großen Dörfern, die sich rechts und links aus den Kornfeldern erhoben, vorbei. In der ganzen Landschaft fühlte man die gleiche treffliche Ordnung, die gleiche frische Arbeitsamkeit heraus.

Ich liebe es bereits, dieses Land, in welchem ich einen Teil meines Lebens zubringen werde. Das Landhaus des Grafen von Brederode ist entzückend, und aus meinem Zimmer atme ich, während ich Dir schreibe, mit Wonne die süßen Düfte eines unermeßlichen Waldes ein, der die Besitzung von einer Seite umgiebt und an dessen dunklem Laube ich mich erfreue. Die reiche Natur rings umher entspricht vollkommen der Vorstellung, welche ich mir von dem fleißigen Belgien gemacht habe, und wenn ich auch England sehr vermisse, kann ich der göttlichen Vorsehung doch nur dafür danken, daß sie mir einen mit Naturschätzen so reich begabten und unserem teuren Alt-England so ähnlichen Aufenthalt beschieden hat.

Du wirst herkommen, nicht wahr? Vor allem, um mich zu sehen und dann auch, um gleich mir diese schöne Gegend zu bewundern. Denn habe ich auch hier nicht die herrliche Bucht von Scarborough, so fehlt dagegen bei uns dieser Wald, welcher die Blicke bezaubert. Nur meine gute Mutter und meine lieben neckischen Schwestern vermisse ich hier.

Aber ich habe Dir noch nichts von meinen Reisegefährten gesagt – wirst Du denken, indem du meine Krähenfüße liesest und auch noch nichts von der Familie, in der ich leben soll, und meiner Schülerin. In Wahrheit haben wir bis jetzt nur wenige Worte gewechselt und ich kenne nur erst den Edelmann, in dessen Haus mich mein Stern geführt hat, und selbst den nur flüchtig. Aber man klopft und ich schließe diese Botschaft mit der Versicherung, daß, wenn Deine Clarissa auch hier ist, ihr Herz doch stets bei Dir jenseits der Meerenge weilt.

Mit treuer Liebe
Deine Clarissa.«

Als Miß Morton den Speisesaal betrat, wurde sie von dem hier herrschenden Reichtum beinahe geblendet. Nach allen Regeln der feinsten Sitte stellte ihr der angebliche Graf die kleine Französin vor, welche unter dem Namen »Nana« die Rolle seiner Tochter spielte. Man wies Clarissa einen Platz zwischen ihrer vorgeblichen Schülerin und Raphaela an, welche ihr bereitwillig alles erklärte, was ihr bei ihrer unvollkommenen Kenntnis der französischen Sprache unverständlich blieb, trotzdem die kleine Nana ihre Worte mit den lebhaftesten Geberden und dem ausdrucksvollsten Mienenspiel begleitete. Die Kleine schien ein wahrer aber reizender Dämon in ihrem kurzen Rosakleide mit dem trotzigen Gesichtchen und schonen Ebenholzhaaren, die in verschwenderischer Fülle über ihre entblößten Schultern herabflossen.

»Fräulein, wir wollen boxen«, rief die Kleine, »Belgien gegen England«, und sie zeigte dabei ihre winzigen Fäustchen und lachte wie eine aus Bedlam Entsprungene.

»O nein«, sagte Clarissa, von den Geberden der Kleinen belustigt, »ein herzliches Einverständnis ist besser«, und sie umarmte die kleine Pariserin, welche ihre Zärtlichkeit mit Wucherzinsen erwiderte. Es war ja nicht anders zu erwarten gewesen. Die engelgleiche Erscheinung unserer Heldin riß jeden unwiderstehlich hin. Dem Laster anheim gefallen oder vielmehr zum Laster gezwungen, in einem Alter, wo sonst Kinder noch mit der Puppe spielen, hatte Nana mit der schnellen Fassungsgabe ihrer Landsleute sofort begriffen, daß sich hinter der Rolle, welche man sie spielen hieß, irgend eine Schurkerei verbarg.

Ah – bah, war sie nicht selbst betrogen, verraten, verkauft worden? Was that es ihr, wenn eine Genossin mehr in dem Schmutz gezogen wurde?

»Vergnügen vor allem,« dachte sie, »sonst bleibt uns ja nichts in dieser Welt«.

Aber der erhabene Ausdruck der Tugend in den Zügen der Fremden war so übermächtig, daß Nana sich vornahm, wenn möglich ihrer angeblichen Gouvernante bei günstiger Gelegenheit einen Wink zu geben, in welches Netz sie geraten war.

Das trefflich zubereitete Mittagessen vereinigte alle Leckerbissen, welche ein französischer Koch einem verwöhnten Gaumen bieten kann, die gewähltesten Weine flossen in Strömen, die Gemüter belebend, und lustige Witze erheiterten das Mahl. Sullecartes und Raphaela thaten der Gastfreundschaft ihres Wirtes alle Ehre an, und die kleine Nana ließ den Röderer mit beunruhigender Beharrlichkeit ihre Kehle hinabgleiten. Mehr als einmal war Miß Morton auf dem Punkte, ihr eine Bemerkung darüber zu machen; aber sie dachte, es wäre eher Sache ihres Vaters, seine launische Tochter in die Schranken einer ihr angemessenen Mäßigkeit zu verweisen. Es kam so weit, daß am Schlusse des Diners das arme Kind, betäubt vom Trinken und Lachen vollständig ihre Rolle vergaß, eine Cigarette hervornahm, tapfer zu rauchen begann und den Gästen ein Lied vorsang, das weder ihrem Geschlecht, noch ihrem Alter angemessen war.

Als Raphaela das Erstaunen Clarissas hierüber bemerkte, hatte sie, obschon sie selbst mehr als nötig getrunken, die Geistesgegenwart ihr zu sagen: »Sie sehen, Sie werden da die vollständige Erziehung nachzuholen bekommen. Das Mädchen ist über alles Maß verzogen worden, und es bedarf Ihres ganzen Einflusses, um aus ihr eine vernünftige Dame zu machen.«

Gegen 6 Uhr nahmen Sullecartes und sein Weib Abschied. Sie wollten mit dem Eilzuge nach London zurückkehren.

Die kleine Nana wurde zu Bett gebracht und Clarissa zog sich, etwas angewidert, in ihr Zimmer zurück. Sie hatte von der gefälligen Raphaela noch erfahren, daß die Frau Gräfin auf unbestimmte Zeit abwesend sei, und daß sie dieselbe nicht so bald kennen lernen würde.

In den darauf folgenden Tagen dauerte beinahe das gleiche tolle und ausschweifende Leben fort. Umsonst versuchte Clarissa ein wenig Autorität über das junge Wesen auszuüben, welches sie für ihre Schülerin hielt. Helles Gelächter war die einzige Antwort, welches sie von Nanette erlangen konnte. »Versuchen Sie es mit Sanftmut,« sagte Pandarus mit ernster Miene zu ihr. »Die Töchter dieses Landes haben Quecksilber im Blute, sie sind lebhaft und ungezügelt, aber wenn es Ihnen einmal gelungen ist, die Aufmerksamkeit meiner Tochter zu fesseln, so werden Sie sehen, wie rasch sie in Ihrem Unterrichte fortschreiten wird. Verlieren Sie nur den Mut nicht! Gerade weil die Aufgabe schwer ist, wünsche ich, daß eine Person von Ihrem Charakter sich ihr vollständig widme.«

Während er so sprach, überdachte er dabei ernstlich den Weg, um Clarissa Morton auf immer in ihr Verderben zu stürzen. Er hatte ihretwegen schon öfter Unterredungen mit seiner Frau gehabt, ohne ins Klare zu kommen.

Es waren häufig junge Leute von vornehmer Familie an seinen Tisch geladen, und ihnen gesellte sich eine Anzahl jener heruntergekommenen Individuen bei, welche von der Unsittlichkeit leben, verdorbene Journalisten, schmucke und auffallend herausgeputzte Louis usw.

Diese Herren kamen hin, um sich zu unterhalten, und gingen soweit, in ihrem Straßen-Englisch Erklärungen vorzubringen, welche Miß Morton in naiver Weise auf Rechnung zu starken Weingenusses setzte und auf welche sie übrigens mit eisigem Schweigen und mit kluger Zurückhaltung antwortete.

Sie schrieb an William in einem zweiten Briefe, der ihn natürlich ebensowenig erreichte, wie der erste:

»Die Sitten dieses Landes sind doch seltsam. Ich muß dir leider sagen, daß die kleine Brederode eine sehr unfügsame Schülerin ist, die gewiß niemals ein Wort Englisch lernen wird. Sie hat in ihrem Köpfchen sicher nicht mehr Gehirn, als ein kleiner Vogel, und besitzt dabei sehr starke Neigung zu guten Mahlzeiten und leider auch zum Trinken.

Noch spät in der Nacht höre ich das helle Gelächter der jungen Leute, welche das Schloß besuchen, und ich erkenne daraus immer das Lachen Nanettens. So heißt nämlich meine ungelehrige Schülerin. Was soll aus diesem jungen Mädchen werden? Welche Methode soll ich anwenden? Gieb mir doch einen Rat, denn ich bin mit meinem Latein zu Ende.

In den drei Wochen, seit welchen ich hier bin, habe ich sicher mein Gehalt als Erzieherin nicht so verdient, wie ich es wünschte.

Noch habe ich keinen Brief von dir erhalten, mein Lieber, und erwarte doch schon seit vielen Tagen Nachricht von dir. Ich habe der Mutter geschrieben, bin aber auch von ihrer Seite noch ohne Antwort. Das beunruhigt mich sehr.

Immer die Deinige Clarissa «.

Victor Pandarus war in Verlegenheit. Bei seiner Kenntnis des weiblichen Geschlechtes sah er ein, daß die plumpen Lockungen der gewöhnlichen Verführung ihm sein Opfer nicht überliefern konnten. Man mußte den Plan ändern, und andere Bahnen einschlagen. Er wünschte überhaupt, die Sache zu beschleunigen denn mehr als ein Vorwurf seiner vornehmen Kunden, denen er Hoffnung auf eine leichte Eroberung gemacht, hatte ihn mit Besorgnis erfüllt.

»Sie ist schön, – ja,« sagte ihm der Graf Gommeville, »aber es ist nichts mit ihr zu machen. Ich habe schon hundert Napoleons für diesen hübschen englischen Vogel ausgegeben und hol mich der Kuckuck, wenn sie auf meinen Gruß nur antwortet. Nein ich brauche etwas anderes.«

Die Enttäuschung des Herrn Pandarus war nicht ohne eine Mischung von Überraschung und vielleicht selbst von Gewissensbissen gegenüber der untadelhaften Haltung des reinen Engels auf dessen Fall er gerechnet hatte.

Selbst in den verworfensten Seelen bleibt immer noch ein letzter Rest von Gewissen, ein letzter, unter dem Glanz und Lärm der Ausschweifung erstickter Funke von menschlichem Gefühl, Wir möchten bei Erwägung aller Umstände nicht schwören, daß Pandarus dieses tugendhafte Mädchen, das ihm unwillkürlich Furcht einjagte, nicht lieber aus seinem Hause geschickt hätte. Aber er hatte 15,000 Francs für sie ausgegeben und seine Gäste hatten bereits in der Welt der Unzucht die Neuigkeit von der Ankunft eines Mädchens, schön wie der Tag, verbreitet. Er mußte um jeden Preis handeln, es ging um seine »Ehre«, um den Ruf seines »Geschäftes«. Er hätte in seinem Landhause zu den äußersten Mitteln schreiten können, aber unglücklicher Weise, man denkt eben nicht an alles, fehlten dort die nötigen Hilfsmittel, die Riegel, Schlösser, feste Thüren und die eventuelle Unterstützung einer gefälligen Polizei.

Nein, – es schien ihm klüger, mit den durchgreifenden Maßregeln in seinem Hause in der Stadt zu beginnen. Das war um so rätlicher, als Clarissa schon zwei- oder dreimal, nachdem sie ihn davon benachrichtigt, mit Nanette einen Spaziergang auf der Avenue Louise, dieser prachtvollen Verbindungsstraße zwischen Brüssel und dem Walde, unternommen hatte. Wie leicht konnte sie dort Jemand begegnen. Ihre keuschen Züge hatten die Aufmerksamkeit mehr als eines rechtschaffenen Mannes erregt, welcher mit Erstaunen das einfache Mädchen in Gesellschaft Nanettens erblickte, deren Haltung und Kleidung ungeachtet ihres zarten Alters, nur zu sehr von ihrer traurigen Erniedrigung zeugten.

Es wurde daher beschlossen, Clarissen in die eigentliche Anstalt des fürchterlichen Meisters im Handwerke der Ausschweifung zu bringen. Dort wollte man sehen, was zu machen war.


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