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Einundzwanzigstes Kapitel

Eine halbe Stunde später befand sich Clarissa wieder in dem Hause der Schande, aus dem sie so kühn die Flucht ergriffen hatte. Die Studenten waren von einem schlauen Kuppler übertölpelt worden.

Pandarus erwartete sie auf der Schwelle. Sein mit Blut überströmtes Gesicht gab ihm ein wildes Aussehen; aber noch furchtbarer war sein Blick, als er dem Clarissens begegnete.

Wie eine Feder von Madame und zwei oder drei Dienerinnen aufgehoben, wurde unsere Heldin wieder in ihren eleganten Kerker geschleppt, doch nicht ohne verschiedene Stöße und Knüffe von Seiten der schrecklichen Mädchen, welchen, wie es schien, alles daran lag, zu beweisen, daß sie an der Flucht der Gefangenen nicht beteiligt waren.

Clarissa unterdrückte jeden Schmerzenslaut, aber als ihre Peinigerinnen sie endlich verlassen hatten, kam eine so tiefe Verzweiflung über sie, daß wir mit Recht daran zweifeln dürfen, ob es jemals in der Welt eine größere gegeben hat. Sie war der Freiheit so nahe gewesen, hatte einen Augenblick die Hoffnung, ja mehr noch, die Gewißheit der Rettung gefühlt, hatte alle ihre Leiden wie eine grausame Täuschung ihres verwirrten Geistes ansehen, und hoffen dürfen, bald wieder in England zu sein, in den Armen ihrer Mutter, ihrer Geschwister, bei ihrem William! Und nun? Alles vorbei, wie ein liebliches Luftgebilde, das bei seinem Verschwinden dem verschmachtenden Wanderer sein vergebliches Ringen doppelt fühlbar macht. Von neuem war sie der Gnade oder Ungnade des fürchterlichen Menschen überliefert, dessen Gewinnsucht für den Augenblick noch von dem Verlangen nach Rache für die Verletzungen, die er bei Anlaß ihrer Flucht erlitten hatte, übertroffen wurde.

Was sollte aus ihr werden? Diesmal fühlte sie sich wirklich verloren. Auf den Knieen liegend, die Hände gefaltet und die brennende Stirn auf ihr Lager gedrückt, verbrachte die Ärmste von Fieberfrost geschüttelt, die ganze Nacht in Thränen und Gebet. Und Gott möge ihr die Lästerung verzeihen, wenn sie mehr als einmal an seiner Gerechtigkeit verzweifelte, denn das Übermaß des Leidens überstieg ihre Kräfte.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Pandarus in das Gemach Clarissens trat, und sie noch auf den Fußboden hingeworfen fand. Sie hörte das leise Geräusch der sich öffnenden Thüre, und als sie sich umwandte, sah sie ihren grausamen Feind vor sich stehen. Er trug einen Teller mit etwas Speise in der Hand. Sein Gesichtsausdruck war fürchterlich.

»Von nun an«, sagte er, »werde ich Sie selbst bedienen, das wird sicherer sein, aber vorher sollen Sie mir für Ihre Flucht bezahlen.« Clarissa verstand ihn nur teilweise, aber sie erriet den Rest aus der krampfhaften Geberde, welche seine Worte begleitete.

Pandarus war in furchtbarster Wut. Sein sonst schon abstoßendes Gesicht war grauenhaft anzusehen. Denn man sah noch die Spuren der Hiebe, die er in letzter Nacht erhalten hatte, und sein ganzes Gesicht trug den Stempel von Verbrechen und wilder Rache.

Der Elende zog plötzlich unter seinem langen Hausrocke einen hellbraunen, polierten Stock hervor, der nichts anderes als ein Ochsenziemer war, und sagte mit teuflischem Lachen:

»Mein Fräulein, für Ihr bedauernswertes Benehmen von gestern werde ich Ihnen eine Lektion geben, welche, hoffe ich, dazu dienen wird, Ihre unbezähmbare Freiheitsliebe zu zügeln.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ergriff der Henker dabei sein Opfer, das er wie einen Rosenzweig unter seiner Hand bog, und indem er sich mit der rechten Hand des Ziemers bediente, erteilte er der unschuldigsten Frau auf Erden eine Züchtigung, die nicht härter und roher sein konnte. Als sein starker Arm endlich erlahmte, hörte er auf, und ließ das junge Mädchen von Blut bedeckt, und bewußtlos auf den Teppich des Fußbodens niedersinken.

Dann öffnete er die Thür und rief seine Frau. »Frau«, sagte er, »ich glaube, ich habe sie getötet. Aber sie ist auch schuld daran, daß ich gestern von diesen verdammten Studenten halb tot geschlagen worden bin.«

»Mein Gott«, rief die Kupplerin, »du bist doch zu unvorsichtig. Wir müssen nun sehen, uns so gut wie möglich aus der Geschichte zu ziehen.«

Das niederträchtige Paar hob den Körper – man konnte beinahe sagen: den Leichnam – Clarissens auf, denn sie gab kein Lebenszeichen mehr von sich, und legte ihn auf das Bett. Ihre Wunden wurden verbunden, und ein den Verbrechern ergebener und vollkommen verschwiegener Arzt gerufen. Er erklärte, daß noch Hoffnung sei, die Unglückliche zu retten, ja sie könne mit Anwendung großer Sorgfalt vielleicht sogar völlig geheilt werden.

Sechs Wochen hindurch schwebte Clarissa bewußtlos zwischen Tod und Leben, aber ihre Jugend siegte, der Tod erbarmte sich ihrer noch nicht.

Madame Pandarus pflegte ihre schöne Kranke mit einer über alles Lob erhabenen Aufmerksamkeit und Einsicht; denn sie wollte, wie sie sagte, um alles in der Welt nicht, daß das schönste Mädchen, die sie je besessen, in die andere Welt hinüberginge, ohne sie für ihre Mühe und ihre Unkosten entschädigt zu haben. Man mußte sie retten, oder wenigstens ihr Leben verlängern.

Als das körperliche Befinden Clarissens sich etwas besserte, obschon ihr Geist noch immer umnachtet war, schrieb Pandarus dreien seiner reichsten und vornehmsten Kunden, daß er ein außerordentlich schönes Mädchen zu ihrer Verfügung habe.

Diese Herren verfehlten denn auch nicht, der Einladung zu folgen. Sie fanden die Kranke wunderschön, so sehr auch die Krankheit ihre Wangen gebleicht hatte; ja, das Leiden schien sie noch idealer gemacht zu haben. Kehrte sie nicht von der Pforte des Grabes, oder vielmehr des Himmels zurück? Und hatte sie nicht einen Schimmer davon in ihren Zügen behalten? Selbst die Verworfensten mußten von ihrem Anblick gerührt sein, mußten vor dem Gedanken, diesem mißhandelten, engelgleichen Leib die äußerste Schmach anzuthun, zurückbeben! Vielleicht trug auch der ungeheure Preis, den das schändliche Kupplerpaar für das niedrigste Verbrechen forderte dazu bei, die drei Roué's, unter denen sich auch Dollons »Freund« befand, abzuschrecken; es machte ihnen denn doch mehr Vergnügen, mit weniger schönen, aber lebensvollen und willigen Gegenständen ihrer Begierden zu verkehren ...


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