Georg Heim
Heitere Geschichten
Georg Heim

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119 Der Schlaucherl

Was ich hier erzähle, ist ganz neugebackene Ware. Es ist zwar eine Geschichte, die sich vor 30 Jahren abspielte, aber gehört habe ich sie wenigstens erst vor wenigen Stunden in einem Wirtshaus am blank gescheuerten Ahorntisch, droben im Fichtelgebirge, in einem ringsum von Wald umsäumten Dörfchen. Da war die Rede vom Stehlen und von ertappten Dieben. Der Ausgangspunkt für diese Unterhaltung war der stolze Hinweis darauf, daß in diesem Dörfchen, obwohl von einer armen Bevölkerung bewohnt, jede Türe Tag und Nacht offen stehe.

Wie es nun so geht: Wenn in einer Gesellschaft von Gespenstern die Rede ist, so kommt jeder der Reihe nach mit einer noch wundersameren Gespenstergeschichte, und besonders an einem kühlen Herbstabend, an dem sich die Menschen wieder gemütlich und »griebig« zusammenhüscheln wie die Kaninchen im Stalle, da ist alles dankbar für jede Gabe. So waren wir am Vormittag von Maria Namen beim Diebsgeschichten-Erzählen. Die Reihe war an einem vierschrötigen, stämmigen Waldler in den besten Jahren, wetterhart, 120 Handschuhnummer 9½; die Schuhnummer kann nur nach Maß gearbeitet werden. Die Diebsgeschichte hat er in seiner Jugend selbst miterlebt.

Es war an Lichtmeß vor 30 Jahren. Die Ehehalten (Dienstboten), deren acht auf dem Bauernhof waren, hatten eben ihren Lohn erhalten, denn »an Lichtmeß ist der Knecht vorne dran«. An diesem Tage wird bei uns auf dem Lande altem Herkommen gemäß der Jahreslohn ausbezahlt, und zwar meistens vormittags nach dem Hauptgottesdienste. Schon am anderen Tag machte der Großknecht zu seinem Schrecken die Entdeckung, daß ihm die Truhe geöffnet und daraus sein Geld gestohlen worden war. Die Bestürzung des Knechtes war groß; denn der Lohn des Jahres, durch solche Arbeit verdient, bedeutet in diesem Falle mehr, als der Verlust des Einsatzes für den berufsmäßigen Börsenspekulanten.

Es gab nun eine große Untersuchung. Alle mußten sich's gefallen lassen, aber vergebens, obgleich nach allen Umständen der Dieb im Hause sein mußte. Es kam keine Festtagsstimmung im Hause auf. Jedoch ärger wie der Verlust des gestohlenen Gutes ist das erschütterte Vertrauen unter den Personen, die beisammen leben müssen.

121 Die Dienstboten saßen gerade am Tage nach Lichtmeß, mittags um 11 Uhr, in der großen Stube nach alter Sitte gemeinsam mit der Bauernfamilie am Tische. Es war nicht so wie sonst immer. Der Bauer hatte gerade die Sprache davon, daß er den Lohn lieber noch einmal zahlen wolle, wenn nur nicht durch den Diebstahl vielleicht ein Unschuldiger verdächtigt würde. In demselben Augenblick kommt ein Besuch zur Tür herein, eine in der ganzen Gegend bekannte Persönlichkeit. Es war ein alter Hausierer von einem benachbarten Städtchen, der auf dem Lande Eier und Schmalz zusammenkaufte und alle möglichen Geschäfte machte. Ja, wenn man einen Rat brauchte, so war er immer gerne bereit, Auskunft zu erteilen, und so wurde er auch hier über den Vorfall unterrichtet. »Alter Pirzer,« schloß der Bauer seinen Bericht, »bist doch sonst so ein Schlaucherl (Schlauberger), aber da weißt du auch keinen Bescheid!«

»Das werden wir gleich haben! Um Diebe herauszubekommen, dafür habe ich ein vorzügliches Mittel«, brummte das alte Männchen. Er ging in ein Nebenzimmer und kam gleich darauf wieder zurück mit acht fingerlangen Tuchbändeln in der Hand, ganz gleich lang geschnitten. Jedem von den 122 acht Dienstboten gab er einen Bändel in die Hand und hub nun also an zu reden: »So, den Dieb werden wir gleich haben. Morgen früh komme ich und hole die Bandl wieder. Wenn der Dieb unter euch ist, so wird bis morgen sein Bandl um die Hälfte länger gewachsen sein!«

Am andern Morgen in aller Früh, als die Milchschüssel auf dem Tische stand, war der alte Pirzer zum Bandlappell da. Jeder hielt sein Bandl bereit in der Hand. Beim Großknecht fing er mit dem Einsammeln an, dann kam er zum zweiten Knecht, dann zur Großmagd und so weiter. Sie gaben alle wieder ihr Bandl zurück, wie sie es von Pirzer erhalten hatten. Aber halt! Was ist das? Als der sogenannte kleine Knecht an die Reihe kam, gab er nur noch die Hälfte von dem Stück Bandl her, das er am Tage vorher erhalten hatte. – Wissen die verehrlichen Leser des Rätsels Lösung? Der Pirzer wußte sie sofort, er, der alte Schlaucherl. Er sagte es dem Bauernknecht auf den Kopf zu, daß er das Geld gestohlen hatte. Dieser fiel vor dem Bauern auf die Knie nieder und bat um Gnade und brachte sofort das gestohlene Geld herbei.

Wie konnte der Pirzer so rasch den Dieb wissen?

123 Sehr einfach. Der Kleinknecht mit seinem schlechten Gewissen fürchtete, daß das Bandl über Nacht um die Hälfte wachsen würde, drum hat er die Hälfte abgeschnitten.

Ja, der Pirzer war ein Schlaucherl!


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