Georg Heim
Heitere Geschichten
Georg Heim

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89 Was ist eine Sitzung?

Es war im November 1914. Ich war fast alle vierzehn Tage einmal in Berlin, bald von dieser, bald von jener Reichsstelle gerufen, um an einer sogenannten Sachverständigensitzung teilzunehmen. Es waren da Fachleute aus dem ganzen Deutschen Reich zusammengerufen, um in kriegswirtschaftlichen Fragen sich gutachtlich zu äußern. Die Sache war noch nicht organisiert wie im späteren Verlauf des Krieges, wo Kriegsgesellschaften und Beiräte wie die Pilze aus dem Boden schossen.

Die Sitzungen hatten oft eine sehr lange Dauer, was immer auf Meinungsverschiedenheiten schließen läßt. Es gibt überhaupt kein Land auf der Welt, in dem soviel in Sitzungen gearbeitet wird wie in Deutschland. Beschlüsse werden nicht immer mit guten Gründen erfochten; hier gilt das Wort: Ausdauer macht alles, und für den Hartnäckigen arbeitet die Zeit. Wenn ein großrheinisches Syndikat nach Ablauf des Syndikatsvertrages neuerdings seine Lieferungsquoten festsetzte, dauerten die Sitzungen oft zwölf bis vierzehn Stunden, bis weit über Mitternacht. Schuld an der langen Dauer war immer ein bekannter 90 Rheinindustrieller, der mit unglaublicher Zähigkeit und mit immer neuen Schwierigkeiten seine Interessen verfocht, die eine allseitige Ablehnung erfuhren. Aber er hat fast immer erreicht, was er wollte, er zermürbte seine Gegner, denn schließlich wollte doch jeder einmal nach Hause.

Nach einer Sitzung im Spätherbst 1914, die den ganzen Tag von früh 10 Uhr bis in die Nacht hinein gedauert hatte, begaben sich die Teilnehmer in ein Berliner Hotel, um ein gemeinschaftliches Abendessen im reservierten Zimmer einzunehmen. Männer der Industrie, des Wirtschaftslebens, der Landwirtschaft, der Wissenschaft, des Militärs, der Reichsregierung.

Es kam die Rede auf die vielen Sitzungen, und schließlich kam ein Staatssekretär auf den Gedanken, einen Professor zu fragen: Was ist eigentlich eine Sitzung? »Eine Sitzung ist die Zusammenkunft von Personen in der gleichen Sache, um durch Aussprache zu einem bestimmten Beschluß zu kommen, der der Wahrheit und Richtigkeit möglichst nahe kommt.« Ein zweiter Tischgenosse, ebenfalls ein gelehrter Herr, definierte eine Sitzung als Meinungsaustausch von Sachverständigen unter gegenseitiger Korrektur von Irrtümern, so 91 daß ein Beschluß zustande komme, der der Wahrheit und Richtigkeit sich möglichst annähere.

Ein dritter und vierter Herr gab noch seine Definition. Einer meinte, eine Sitzung sei eine Beratung, die mit einem Essen ende.

Meiner Unbedeutendheit bewußt, schwieg ich zu all dem, aber der Staatssekretär richtete an mich die Frage: Nun, Sie Bayer, wie definieren Sie eine Sitzung?, worauf ich bemerkte: Ich bitte, mir meine Definition zu erlassen, sie ist für Berliner Ohren nicht geeignet; nördlich des 52. Breitegrades hat man andere ästhetische Maßstäbe. Was man bei uns ruhig mit anhört, erregt bei Euch Anstoß.

Meine Ablehnung war schlecht formuliert, denn jetzt war die Neugierde rege, und von allen Seiten bestürmte man mich, ich müsse meine Definition zum besten geben. Und so geschah es mit den Worten:

»Eine Sitzung ist der Triumph des Teiles, auf dem wir sitzen, über den Kopf.«

Ich mußte mich wieder einmal überzeugen, wie die Naivität die komplizierteste Auffassung schlägt. Möchte noch bemerken, daß ich an Stelle des Satzes: »der Teil des Körpers, auf dem man 92 sitzt« in Wahrheit nur ein Wort gesagt habe, das die Druckerschwärze nicht gut verträgt und das jeder Deutsche nur unter Hinweis auf Götz von Berlichingen zitiert.

Ich will nicht renommieren, aber ich hatte offenbar den Vogel abgeschossen, denn die Heiterkeit war eine elementare, und fast jeder Teilnehmer zog sein Notizbuch heraus, um sich die Definition aufzuschreiben . . . Nord und Süd hatten sich verstanden.


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