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Musikalität

Was die Gestalt des Faust für das Humanitätszeitalter bedeutet hatte, das wird für diese bewegte und in der Unruhe nach Melodik des Daseins verlangende Zeit zwischen den Revolutionen die Figur des Johannes Kreisler, dieses Kostgängers zwischen Genialität und Geistesumnachtung.

In Irrsinn sollte E. T. A. Hoffmanns Kapellmeister Kreisler enden, aber man sieht ihn immer nur auf der Schwelle zu dem dunklen Bereich, und weil soviel Finsternis auf ihn wartet, trinkt er jeden Lichtstrahl durstiger in sich ein.

Wer dieser Johannes Kreisler ist? Ein Liebender. Einer, der sich sein frommes Gemüt und damit Begeisterungsfähigkeit gewahrt hat. Er ist verletzbar wie ein Kind. Und weil Musik seine Welt ist, wird ihm jeder falsche Ton, jeder Mißbrauch mit der Kunst, jede gefallsüchtige und leichtfertige Zurschaustellung zu körperlichem Schmerz. Der ruft sein Temperament und die Ironie in ihm auf. Dann grimassiert er den Wahnsinn, der doch in Wirklichkeit schon wartend hinter seinem Stuhl steht und ihm bereits lähmend in den Schädel krallt. Dann wird dieser Liebende zu einem Rücksichtslosen, der jede gesellschaftliche Bindung abstreift und dem es toller Genuß ist, die Furcht, die ihn hetzt, den andern einzuflößen.

Ein Liebender und sein ganzes Dasein ist der Musik verschrieben. Erglüht er für ein Mädchen, so deshalb, weil sie den Ton in ihrer Kehle hat, der die Saite in seinem Innern zum Schwingen bringt. In Musik löst sich ihm alles auf – die Menschen, mit denen er zu tun hat, die Gartenbeete, die er durchschreitet, die Welt, die ihn umgibt, nicht zum wenigsten sein eigenes Leben. Er verblutet, genest und verblutet wieder an Musik.

Derart schlendert et durchs Dasein. Einer, der den Melodien der eigenen Seele lauscht und fromm gestimmt wird, wenn die Umgebung sie ihm widertönt. Es kommt über ihn, und er zeichnet die Weisen auf, die ihm im Innern erklangen. Sehr im Gegensatz zu Faust fühlt er sich aber nicht zum Werk verpflichtet. Faust: das unendliche Streben; Kreisler: das unendliche Zerfließen. Dort: der Starke, der sich in den Mittelpunkt seiner Welt stellt, sich mit ihrem, sie mit seinem Willen zu durchdringen; hier: der Zärtliche, der Stimmen auffängt und ihnen Antwort gibt; der Verletzbare, der aber im Grunde seines Herzens weiß, daß alles in dieser Welt, was nicht Musik wäre, Täuschung bedeuten müßte.

Der sich selbst und sein Dasein musikalisch erlebt, aber trotzdem (oder eben deshalb) sein Ich und sein Schicksal nicht zu »komponieren« vermag; Chaotiker und Liebender; Ironiker und Hingebungsbedürftiger; der Enthusiast unter der Äolsharfe einer vielfach dissonierenden Zeit: das ist E. T. A. Hoffmanns Kapellmeister Kreisler, den sich diese Epoche recht aus ihren Nöten und ihrer Sehnsucht heraus zum Ebenbilde schuf.

In Ida Hahn-Hahns Roman »Gräfin Faustine« heißt es einmal, die Musik sei eine Überwölbung dieser Welt mit einer zweiten.

 

An Zelter schreibt Goethe bereits im Jahre 1799: »Wenn meine Lieder Sie zu Melodien veranlaßten, so kann ich wohl sagen, daß Ihre Melodien mich zu manchem Liede aufgeweckt haben.« Das hätte an sich nicht viel zu bedeuten, würden in dieser Zeit nicht alle Künste und darüber hinaus alle geistigen Betätigungen in Musik einbezogen.

Ernst Moritz Arndt vergegenwärtigt sich einmal im »Geist der Zeit« die Art, wie die Antike im Gegensatz zum Christentum der Natur gegenübergestanden habe, und nennt daraufhin das Christentum seinem Wesen nach musikalisch. Dieselbe Empfindung spricht aus Schleiermachers »Reden«: Wie eine heilige Musik sollen die religiösen Gefühle das tätige Leben begleiten; der bürgerliche Beruf des Menschen sei gleichsam nur die Melodie seines Lebens, Religion müsse sie zu einer vollstimmigen und prächtigen Harmonie erheben. Dorothea bezeichnet Friedrich Schlegels Art zu philosophieren als musikalisch, im Gegensatz zu seiner Kritik, die architektonisch erscheine, Rahel spricht – was beinahe auf das gleiche herauskommt – von dem »metaphysischen« Sebastian Bach, weil er »ohne Gemütsbeziehung in den Tönen untereinander selbst wirkt und dichtet«. Von Friedrich Schlegel stammt der Ausspruch, die Architektur sei versteinerte Musik, ein Wort, das, wofern man an Schinkel denken will, über Geistreichelei hinaus zu gefühlsgewisser Wahrheit wird. Pückler-Muskau knüpft daran an und meint: »Ebenso könnte man vielleicht die höhere Gartenkunst mit der Musik vergleichen und wenigstens ebenso passend, als man die Architektur eine gefrorene Musik genannt hat, sie eine vegetierende Musik nennen. – Sie hat auch ihre Symphonien, Adagios und Allegros, die das Gemüt durch unbestimmte und doch gewaltige Gefühle gleich tief ergreifen.«

Merkwürdiger noch die Macht, die Musik im Unterbewußtsein gewann. Rahel notiert (1815) nachfolgenden Traum: »Diese Nacht träumte mir, ich höre ein so schönes Präludium, aus der Höhe, oder wo es sonst herkam; genug, ich sah nichts, welches eine so große Harmonie entwickelte, daß ich auf die Knie sinken mußte, weinte, betete, und immer ausrief: Hab' ich es nicht gesagt, die Musik ist Gott, die wahre Musik, damit meinte ich Harmonien und keine Melodien, ist Gott! Immer schöner wurde die Musik; ich betete, weinte, und rief immer mehr; wie durch einen Schein, und ohne Gedankenformen, wurde mir alles, das ganze Sein in meiner Brust, hell und deutlicher; das Herz ging mir vor glücklichem Weinen entzwei: und ich erwachte.« Damit wäre Musik über die Religion hinaus, dem ursprünglichen Gottesbewußtsein zugewiesen, und somit der Ring geschlossen.

Wenn dieser Epoche der Begriff des Gesamtkunstwerks entsteht – man weiß jetzt, was sich zeitlich dahinter birgt: Nicht eine Verschwisterung der Künste galt es, noch ein gemeinsames, gleichberechtigtes Wirken auf einen einheitlichen künstlerischen Eindruck hin, sondern: Musik zog die anderen Künste alle in ihren Schoß und stillte sie mütterlich nach ihrer Weise.

Und darüber hinaus: Musik versuchte das Leben als solches einbettend einzulullen. Man denkt an das Flötenspiel des großen Preußenkönigs, und es ist, als hätte ein Hauch davon, abendlich, und nachdem die Arbeit des Tages zum Abschluß gekommen, durch protestantische Lande gegeistert.

Dieser Zeit wird Musikalität denn auch geradezu zu einer Forderung, und zu deren Vollstreckerin wirft sich Bettina auf, dieselbe Bettina, die ihre eigene Seele eine leidenschaftliche Tänzerin nach einer inneren Tanzmusik, die niemand außer ihr vernehme, genannt hat, und der Bruder Clemens die Metaphysik dazu gedichtet hat, den Charakter des Menschen dem Thema einer Musik vergleichend: insofern er die Harmonie des Ganzen mitbegründet, habe er nur den Charakter seines Instruments; um harmonisch zu werden, müsse man schon eine gewisse Anzahl von Tönen umfassen. Bettina also fordert, Musik müsse in der Seele walten, ohne Musik könne nichts im Geist bestehn. Musik bringe alles in Einklang: Ein Gewitter sei ein Hymnus mit der Musik. Musik sei der Urgeist aller Elemente, das Meer sei Musik. Musik sei die sinnliche Geistesnatur. Die Sprache sei eine geistige Musik.

Solcher Überspannung gegenüber mag man an jene Sängerin denken, von der Varnhagen in seinen »Denkwürdigkeiten« erzählt, deren Stimme so überanstrengt wurde – denn sie sollte die erste aller Sängerinnen werden – daß sie sie ganz verlor. Aber auch an Hoffmanns Antonie, der die Schwindsucht in der Brust wühlt und deren Stimme dadurch den letzten, den überirdischen Klang erhält, mag man erinnert werden. Noch war die Zeit so geistig, daß sie ihr seelisches Bedürfnis mit aller Natur und allen Sphären in Einklang zu setzen suchte. Sie war zugleich genügend sinnlich veranlagt, um sich, ihrem seelischen Bedürfnis entsprechend, Kultur zu schaffen.

In dieser Zeit ist Wien fast ausschließlich im Besitz aller großen und schöpferischen Musik. Die protestantische Hauptstadt aber wird zu etwas wie einem Resonanzboden; der ist nun ganz und bis in jede Faser von dem Gewoge der Töne durchzittert und klingt es melodisch wider. So entsteht hier jene Musikalität, die aus sich heraus neu, aber vorwiegend auf anderen Gebieten, schöpferisch wird; der gemäß der Mensch seine Umgebung – sein Leben zu gestalten trachtet.

 

In dieser Epoche zwischen den Revolutionen stellen sich alle Künste auf Musikalität ein. Dichtkunst –: Man weiß, wie sehr die Romantiker, vor allem Tieck und Brentano, in ihren Reimspielen musikalische Wirkungen in Versverschürzung und Wortklang anstrebten, es gilt das aber auch von Jean Pauls Prosastil, zumal im »Titan«. Tiefer führt es, wenn Grillparzer in seiner Selbstbiographie erzählt, er habe, während sich ihm die Vorgänge des »Goldnen Vlieses« vergegenwärtigten, gewisse Symphonien mit seiner Mutter vierhändig gespielt, »und die Gedankenembryonen verschwammen mit den Tönen in ein ununterscheidbares Ganzes«. Der Plan sei ihm dann fern gerückt und in Vergessenheit geraten, als er aber später mit der Tochter der Karoline Pichler die nämlichen Musikstücke vorgenommen habe, sei ihm alles wieder deutlich vor die Seele getreten, und er habe sich nunmehr an die Ausarbeitung der Dramen gemacht. Hier also bildet die Musik bereits etwas wie den Kanevas, auf dem die Stickerei des Dichtwerks ersteht. Bei E. T. A. Hoffmann aber wird die Musik unmittelbar und bewußt bestimmend. Er selbst hat von seinen »Elixieren des Teufels« gesagt, der Roman fange mit einem Grave sostenuto an, das in ein Andante sostenuto e piano übergehe, um dann von einem Allegro forte abgelöst zu werden; und das ist mehr als nur ein Spiel mit Worten. Sein Märchen »Prinzessin Brambilla« hat Hoffmann dann bis in jede Einzelheit als musikalisches Kapriccio zu komponieren versucht, und das gilt nicht nur von der Stoffgliederung – die dichterische Erfindung bereits erwuchs aus musikalischem Gedankenspiel und erfuhr die dem Kapriccio gebührende Gestaltung. An einer Stelle des Märchens heißt es: es befinde sich hier eine Lücke. »Um musikalisch zu reden, fehlt der Übergang von einer Tonart zur andern ... ja, man könnte sagen, das Kapriccio bräche ab mit einer unaufgelösten Dissonanz.« In viel höherem Grade, als es bei Jean Paul der Fall war, ist nun auch der Prosastil bei Hoffmann mit seinen eigentümlichen Schachtelungen, Wiederholungen, refrainartigen Gliederungen, mit den absonderlichen Flüster- und Kichertönen und dem ironischen Pizzikato musikalisch bedingt. Hoffmann hat seinen Stil geradezu instrumentiert; an bestimmten Stellen hört man die Flöten-, dann wieder die Violinstimmen heraus.

Plastik –: Der zu tiefst musikalische Plastiker der Epoche ist Schadow, und indem man das ausspricht, denkt man vor allem an seine Doppelstatue der Prinzessinnen Luise und Friederike von Preußen, bei der die Gewandbehandlung zu durchkomponiertem symphonischen Kunstwerk wird. Die vom Taillenrund niedergehenden Kleidfalten der Luise treten zu den gewellt aufklimmenden, aber auch in dieser Bewegung gegliederten der Friederike in ein Widerspiel, das unmittelbar zu Musik wird und sich nur musikalisch bestimmen ließe. Und wiederum: Vergegenwärtigt man sich Schadows Gesamtwerk im Vergleich zu dem Rauchs, so hat man, von den äußeren Stileinflüssen abgesehn, den Eindruck, daß der Gegensatz am ehesten musikalisch, etwa in Nennung der Tempi und Tonarten, auszudrücken wäre.

Malerei –: Wie sehr Musik das Landschaftsbild bestimmte, ja, daß Caspar David Friedrichs Landschaften ganz wesentlich gemalte Musik waren, hat man bereits erfahren. Aber die Musikalität bleibt nicht auf das Landschaftsbild beschränkt. Schadows Sohn, der jungverstorbene Maler, scheint die musikalische Einstimmung des Vaters geerbt zu haben, seine Fresken der Casa Bartholdi werden dafür überaus beredt. Man folge den weisenden Armbewegungen der Bilder »Joseph im Gefängnis« und »Der blutige Rock«, und man fühlt sich unmittelbar musikalisch erregt und besänftigt; die zeichnerische Komposition scheint in Verbindung mit der Farbengebung, wenn auch unbewußt, auf Klangwirkung zu zielen. Ganz stark und zwingend aber gibt sich das in Schwinds Gemälden. In seinem Melusine-Zyklus »Der Einbruch in Melusines Gemach«: die Frauengestalten werden zu klingenden Wellen. In seinem »Gesellschaftsspiel«: die Bewegung der einzelnen Gruppen tönt, das Gesamtbild aber ist symphonisch gebunden. In seinem Bild »Auf der Brücke« setzt der Rhythmus ganz ersichtlich im begegnenden Schritt des Soldaten und des Wanderburschen ein, er wird, wesentlich modifiziert, von anderen Gestalten aufgenommen, und findet in der Ruhe der Landschaft den harmonischen Ausklang. Ist es an sich schon kein Zufall, daß in der Malerei der Epoche überaus häufig Hauskonzerte zum Gegenstand der malerischen Darstellung genommen werden, so erscheint auch auf diesem Sondergebiet Schwinds Sepiazeichnung »Ein Schubertabend bei Josef Ritter von Spaun« in ihrer deutlich ersichtlichen Umsetzung der Tonwirkungen in zeichnerische Komposition besonders charakteristisch. In ihrer Musikalität flüchtet die Malerei der Zeit, als bedürfte sie seelischer Bestätigung, in Sphären, die sie offenbar heimatlicher anmuten als ihr eigener Bereich.

Architektur –: Hat Friedrich Schlegel die Architektur eine versteinerte Musik genannt, so hat er im Hinblick auf Schinkel gewiß das Rechte getroffen. Man hat Schinkel gegenüber die Empfindung, als bedeuteten die überlieferten Stile etwas wie Tonarten für ihn, die er denn auch, gemäß der Gemütseinstellung zum architektonischen Thema, zu verwenden trachtet und ohne Voreingenommenheit verwendet. Bestimmend ist in jedem Fall die Landschaft, sei sie nun städtischer, sei sie ländlicher Art. Dadurch, daß das Bauwerk in sie einbezogen wird, man könnte beinahe sagen, aus ihr erwächst, ersteht die Möglichkeit der Musikalität. Man vergegenwärtige noch einmal das Schauspielhaus in Berlin, und man wird den Gesamtbau als dunklere Fermate zwischen den beiden helleren Tönen der Kirchenkuppeln empfinden. Derart beeindruckt, beginnt der Betrachter das Gebäude als solches bis in all seine Gliederungen hinein, gleichsam in musikalischer Auflösung, zu erfassen. Gewiß, es ist das eine Frage der Linienführung wie der Verhältnisse, der Gesamtwirkung wie der Gliederung – der architektonisch nicht einwandfreien Freitreppe aber kommt dabei eine so entscheidende, musikalisch gar nicht auszuscheidende Bedeutung zu – daß es ganz offenbar wird, daß diese Musikalität in Schinkels architektonischer Phantasie das Primäre seiner Konzeption gewesen ist. Sie ist es, die seinen Stil ausmacht. Und dieser Stil geht aus der Außen- in die Innenarchitektur mit aller erdenklichen Selbstverständlichkeit über. Nur daß hier die Farbengebung von lange nicht genügend eingeschätzter Bedeutung ist, und daß man an dem Schinkelbau unverständig frevelte, als man für den Zuschauerraum einen anderen völlig willkürlichen Anstrich wählte. Ein echt wilhelmisches Unterfangen! Man muß heute schon in den sogenannten Konzertsaal flüchten, um der Musikalität der Schinkelschen Innenarchitektur froh zu werden. Selbst die Wandgemälde sind hier in die Klangwirkung einbezogen, und es scheint kein Zufall zu sein, deutet vielmehr auf etwas wie innere Einstimmung, daß diese Bilder vielfach musikalische Motive zur Darstellung bringen. Selten war ein Künstler so zeiteingeboren wie Schinkel: Klassizist im Sinne der »Iphigenie«; Gotiker nach dem Herzen der Romantik; der Baumeister der Musikalität aus eigener Gemütseinstellung heraus. In gemessenem Abstand von seiner protestantischen Kunst ließe sich das architektonische Werk des Österreichers Josef Kornhäusel (1782-1860) für die Musikalität der katholischen zeitgenössischen Baukunst namhaft machen.

Kunstgewerbe –: Man darf nur Schinkel in seine kunstgewerblichen Arbeiten, etwa in seine Entwürfe für die Königliche Eisengießerei folgen, um von dem Wehen des gleichen Geistes angerührt zu werden. Eben deshalb, weil die Ausgestaltung des Möbels, der Vase und des Trinkglases mit der Architektur des Hauses in Einklang steht, läßt sich ja nur von Stil im eigentlichen Sinn hier reden. Es ist denn auch kein Zufall, daß im Kunstgewerbe der Zeit das Motiv des Delphins und der Lyra immer wiederkehrt. Nicht als ob man Musikalität oder gar deren Etikettierung bewußt angestrebt hätte: man überließ sich der Stimme im eigenen Innern, und das verwandte Sinnbild bot sich von selbst.

Und nun durchschreitet man in Gedanken ein letztes Mal das Biedermeierhaus, und es scheint alles verwandelt oder in melodischem Flusse begriffen zu sein. Die angebaute Freitreppe im Hof ist zu einer Tonskala geworden, zu der der Baum die Begleitung rauscht. Es ist Bewegung im weißen Tüll der Gardinen, jede Wandfärbung tönt ihren eigenen Akkord. Es ist, als instrumentierten Sofa, Schrank und Stuhl die Weise des Zimmers, und in der Servante mit ihren Tassen und Gläsern hebt ein leises Klingen an.

 

Eine Zeit der schweren Kriegsarbeit und der harten sozialen Not, der Hungerjahre; eine Zeit, in der umstürzende Erfindungen alles in Aufruhr setzen; in der Patriarchalität sinkt und Autorität schwindet; in der die schützenden Mauern fallen und in der die Wege weit werden; in der von Revolution zu Revolution ein rauher Luftzug weht, in der Religiosität vielfach erstarrt und zu Aberglauben verwest; in Wahrheit eine Zeit abnehmender Geistigkeit – und dieselbe Zeit, in unserem, dem heutigen Empfinden gespiegelt, wie ein Bereich der Sammlung, des Gehütetseins, der harmonischen Lebensführung.

Es ist kein Zweifel: Zum großen Teil rührt der Widerspruch daher, daß alle Nöte jener Zeit – Krieg, Hunger, Lockerung der sozialen Bindungen – von der unseren überboten worden sind. Im Orkan von heute dünkt der Sturm von gestern harmlos.

Wenn aber unser Bild von jener Zeit mit den gegebenen Tatsächlichkeiten in Widerspruch steht – muß daraus wirklich und mit Notwendigkeit folgen, daß unsere Auffassung falsch sei?

Man prüfe unbefangen die Einwirkung der Schicksalstatsachen auf die eigene Seelenstimmung, und man wird erstaunen und zugeben müssen, daß sie nicht unbedingt davon abhängig ist; daß sie sich ihre Freiheit wahrt; daß sie in ihrem letzten Dunkel in jener selben Melodie forttönt, die schon an die Ohren des Knaben schlug; daß sie, einem Fluß vergleichbar, die tatsächlichen Geschehnisse umgleitet und sie wie Inseln, die immer erkenntlich aber doch ausgeschieden bleiben, fortfließend umschlingt.

Ein anderes kommt hinzu: Alle Vergangenheit lügt, weil man sie nur in den wenigen, die sie überlebt haben, sieht. Das Gegenwartsleben ist fast ausschließlich an Tote gebunden, denn sie alle, deren Stimmungen auf uns einwirken, die unsere Stunden mit uns teilen, unser Mühen fördern oder beeinträchtigen, werden nahezu ausnahmelos schon nach fünfzig Jahren aus dem Gedächtnis der Menschheit ausgelöscht sein. Wir aber lebten, den Geist jener Zeit zwischen den Revolutionen vergegenwärtigend, mit den Schleiermacher, Humboldt, Schinkel, und kennen sie sehr viel genauer, als es ihren Zeitgenossen vergönnt war. Die mögen einen Aufsatz von Humboldt gelesen, eine Predigt von Schleiermacher gehört haben – davon, wie jene beiden sich ihr Havelland entdeckten und welche Botschaft der Tod ihnen zutrug, werden sie schwerlich viel erfahren haben. Vergangenheit lügt, weil sie an Stelle des Durchschnittsmenschen den Vereinzelten und Auserwählten setzt.

Wie aber, wenn eben jene Lüge tiefste Wahrheit wäre? Es ist dem nicht so, daß man aus sich heraus dächte oder empfände. Vielmehr scheint es, als bildete jede Zeit aus dem ihr Eigenen eine Gefühls- und Gedankenatmosphäre. Ungewiß, wie die zustande kommt. Soviel nur weiß man, daß das Werk der ihre Zeit wahrhaft Lebenden und deshalb Überlebenden, dieser Bevorzugten, diese Atmosphäre wesentlich speist. Sicher, daß die vielen und Namenlosen (aber auch die führenden Geister) aus ihr gespeist werden; jeder seinem Verlangen und seiner Aufnahmefähigkeit gemäß.

Es ist dem also doch so und kann nicht anders sein: Tritt uns als wesentliches Merkmal der Zeit aus den lebendig gebliebenen Zeugnissen eine einzig geartete, aus der Epoche erwachsene und sie bedingende Musikalität des Gestaltungsvermögens, der Empfindungsweise, der Lebensführung entgegen, so muß sie sich auch dem Volksganzen mitgeteilt und dessen Daseinsrhythmus beschwingt und besänftigt haben.

Und diese Musikalität der Epoche zwischen den Revolutionen ist es auch, die unsere Auffassung dieser nahen, uns holden Vergangenheit schuf. Das ist es: Noch hören wir, und sie ist zu uns gedrungen, die Melodie jener Zeit, die viele Dissonanzen löste. Zu einer Sehnsuchtsweise wurde sie uns.

 

Die Frage nach dem Mythos der Zeit hat aus sich heraus die Antwort gefunden. Es war nicht Zufall, wenn sehr verschieden geartete Dichter der Epoche die Gestalt der Lore Ley auf dem Felsen erschauten.

Nur ein singender Tod konnte einem melodisch eingesponnenen Leben Antwort geben.

Scheint es befremdlich, daß dieser ausgesprochen protestantischen Kultur aus dem spezifisch katholischen Landschaftsempfinden der Mythos erstand und daß es ein jüdischer Dichter war, der ihm die lebendige Fassung verlieh? Aber vielleicht stützt auch das die Erkenntnis, daß der Ruf jeder Zeit an alle ergeht, und daß Religion über den Religionen ist.

Die Lorelei mit ihrem Singen. Es ist wirklich vielleicht nicht das letzte, auf die Felsenriffe zu achten. Aber es scheint wichtig für die Zeit wie für den in ihr Wirkenden – und so nun auch für uns, die Nachgeborenen – daß eine Stimme aus der Höhe sei.


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