Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Schattenriß der Zeit

Worin hatte doch Rahel das Unglück der Zeiten erblickt? »Daß eine immer in die andere greift, und nicht die neue in die alte, sondern die alte noch in die neue.« Von der Epoche, die hier vergegenwärtigt wird, gilt das bis in des Wortes letzte Schwere. Und die »alte« Zeit war diesmal gewiß nicht die »gute«, sie trug darüber hinaus die Physiognomie seelischen Greisentums und den hippokratischen Zug.

Ein gealterter und vereinsamter Mann – in lebensferner Dämonie – hatte Friedrich der Große die langen späten Jahre seiner Regierung hindurch den preußischen Staat gelenkt; – es war ein ausgesprochenes Altersregiment in Habgier und Lüsternheit, Willkür und Schwäche, das sein Nachfolger Friedrich Wilhelm II. führte. Die unselige zweite und dritte Teilung Polens bezeichnen die äußere Politik in ihrem ungezügelten Machthunger, das Wöllnersche Religionsedikt die innere in ihrem schwächlichen Mißtrauen. Wie es damals am Hofe und in der Stadt ausgesehen, erfährt man aus einer Schilderung Schadows, des gewiß Zuverlässigen, die Varnhagen aufgezeichnet hat: »Zur Zeit Friedrich Wilhelms II. herrschte die größte Liederlichkeit, alles besoff sich in Champagner, fraß die größten Leckereien, frönte allen Lüsten. Ganz Potsdam war wie ein Bordell; alle Familien dort suchten nur mit dem Könige, mit dem Hof zu tun zu haben, Frauen und Töchter bot man um die Wette an, die größten Adligen waren am eifrigsten. Die Leute, die das wüste Leben mitgemacht haben, sind alle früh gestorben, zum Teil elendiglich, der König an der Spitze.« – Dem Erben blieb die Hinterlassenschaft aus beidem, der Teilung Polens und dem Wöllnerschen Religionsedikt.

Denn diese Teilung Polens glimmt, wie Glut aus der Asche, im Fortgang der geschichtlichen Entwicklung bei jedem scharfen Luftzug wieder auf. Sie findet in dem Frieden zu Basel (1795), in dem Deutschland das linke Rheinufer einbüßen sollte, ihre naturgesetzliche Ergänzung, sie erneut sich in gewisser Weise im Frieden zu Campo Formio (1797), im Frieden zu Lunéville (1801). Man könnte in dem unwürdigen Länderschacher, der (1803) im Reichs-Deputationshauptschluß zum Austrag kam, und in der Errichtung des Rheinbundes (1806) die Anwendung dieser Machtpolitik auf Deutschland selbst, das Sichaustoben einmal wachgerufener gewalttätiger Instinkte sehen. Dem Wöllnerschen Religionsedikt aber war in der Reaktionszeit, die auf die Freiheitskriege folgte, etwas wie Auferstehung und ein sehr ungeistiges Pfingsten beschieden.

Besteht eine Art neptunischen Wellenganges zwischen den Revolutionen, der großen französischen des Jahres 1789 und der sehr schmächtigen deutschen 1848, mag man die revolutionär aufgerufene Zeitstimmung im Bilde eines Meeres begreifen, das Winde aufpeitschen, das gestillt wird, um wieder anzuschwellen, immer aber die schweren Wogen in gleichbleibender Richtung wälzt – so ist es, als bildete sich aus solchem Meer heraus unvorhergesehen, vulkanisch, ein felsiges Eiland, das dann wieder in den Fluten versinkt: das Napoleonische Weltreich. Denn in dieser Zeitspanne ist es, als wären alle Kräfte, hüben und drüben, unter vielfachem Atmosphärendruck gespannt, zum Ausbruch gekommen. Aber der Wellengang, ob auch unter dem vulkanischen Geschehen überhört, über der gigantischen Eruption aus den Augen gelassen, nimmt doch seinen sicheren und unaufhaltsamen Fortgang. Und andererseits: dies Napoleonische Reich, ob nun auch unter den Fluten begraben, ist nicht tot, sowenig es Tod im Sinne des Aufhörens für irgendein organisches Lebewesen gibt; es wirkt fort; Anschauungen, die es wachgerufen, Lebensgewohnheiten, die es gepflegt, politische Instinkte, die es großgezogen hat, wurzeln und keimen weiter, gewiß in Frankreich, aber auch in ganz Europa, und nicht zum wenigsten in Deutschland.

Man spricht von Reaktionszeit, wenn man an die Jahre nach den Freiheitskriegen denkt. Aber das trifft gleichsam nur das Kleid oder die Zeituniform mit den Ordenssternen. Man könnte, wollte man auf den lebendigen Organismus und den Blutgang in den Adern blicken, mit besserem Recht von Revolutionszeit sprechen. Denn das Streben nach politischer Mündigkeit ist im Volke nicht ertötet, es nimmt zu. Und jede der reaktionären Maßnahmen der Regierungen ist letzten Endes nichts als Stachel, es unter peinigenden Hautreizungen wachzuhalten.

Was diese Reaktion innerlich bedeutete, ist in den beiden Tatsachen, daß Schleiermacher in seinen Predigten und Universitätsvorlesungen polizeilich überwacht wurde (1823) und in dem Ausspruch des Ministers Eichhorn (1844): »Wenn Fichte käme und wollte jetzt hier Reden halten wie an die deutsche Nation im Jahre 1808, ich wäre der erste, sie ihm zu verbieten«, zur Genüge gekennzeichnet: es war der Versuch eines Kampfes gegen den Geist. Man scheute nicht davor zurück, ihn in seinen lautersten Vertretern zu treffen. Man glaubte, den lebendigen Geist unter Stein und Mörtel begraben zu können.

Den äußerlichen Gang der Ereignisse kennzeichnen ein paar Daten, die wie Sprossen einer Leiter aufsteigen. Auf das Wartburgfest (1817) folgt der Aachener Kongreß (1818), dem Humboldt bereits mit großem Mißbehagen zusieht; an die Ermordung Kotzebues (1819) fügen sich die Wiener Schlußakte (1820), die die Vereinbarungen der Karlsbader Ministerkonferenz über Verschärfung der Zensur und Beaufsichtigung der Universitäten festlegen und Metternich die beherrschende Stellung sichern; die Teplitzer Beschlüsse (1833) mit ihrer weiteren Beschränkung der Rechte der Stände hinken nach; denn inzwischen hat die vorwärtsdrängende Strömung aus dem fernen griechischen Freiheitskrieg (1821-29) Antrieb gewonnen, die Julirevolution des Jahres l830, die polnische Revolution der Jahre 30-32 haben in naher Nachbarschaft die Welle hochgerissen. Das Jahr 1833 aber bezeichnet, als Gründungsjahr des Deutschen Zollvereins, auf scheinbar abliegendem und anders geartetem Untergrund das Einsetzen einer Bewegung, die irgendwie in den damals als revolutionär empfundenen Wellengang einmünden und ihm neue, gleichsam dem Boden entstiegene Kräfte zuführen sollte.

Im Panorama dieses Zeitgeschehens steht die Figur Friedrich Wilhelms III. als die eines Besorgten und Zögernden; er trägt, scheint es, hausväterliche Kleidung; ein Mahner an das, was in allem Wandel gesicherter Besitz bleiben sollte; ein Pflichtbewußter; eine Postkutschennatur, die eines Tages in der Eisenbahn aufwacht; ein kalligraphisch Schreibender, dem hastende Geister diktieren. Folgt auf ihn (1840) Friedrich Wilhelm IV., so scheint nicht nur die erhöht stehende Figur, es scheint vor allem die Beleuchtung verändert. Der Neuankömmling stellt sich nicht ins Tageslicht, er sorgt vor allem, daß künstliches Dunkel um ihn sei. Ein Anspruchsvoller, der wenig Ansprüchen genügt; ein Träumer, der Zukunft in Vergangenheit sucht; ein Begabter, der kaum zu geben hat; ein Unfruchtbarer; der Nichtverstehende und Unverstandne.

Man sieht, wie ein Mann – er ist zeichnerisch begabt – nach seinen Angaben und in Anlehnung an überkommene ehrwürdige Stile einen Altar bauen läßt. In seiner Eigenschaft als Oberhaupt der Kirche steht er im Begriff, die Einweihungsrede zu halten – da fällt lebendiges Feuer vom Himmel und auf den geschmackvollen Altar hinab.

 

In dieser Zeit war Jugendungestüm.

Dem Vorwärtsschreitenden erscheint die erstiegene Höhe niedrig. Vergegenwärtigt man sich aber diese Stein-Hardenbergische Gesetzgebung in ihrer menschlichen Auswirkung, so mutet das Erreichte ungeheuer an, das wahrhaft Wesentliche scheint gesichert zu sein. Aufhebung der Erbuntertänigkeit und freies Eigentumsrecht; Städteordnung; Gewerbefreiheit; dazu die Gesindeordnung des Jahres 1810: was seit Menschheitsgedenken als unerläßliche Menschheitsfron gegolten hatte, war abgefallen – man möchte nicht sagen, vom Sturmwind fortgerissen, sondern vielmehr durch innere Triebkraft ausgeschieden – an jeden einzelnen war der Ruf ergangen, sich fortan aus eigner Kraft seine Arbeitsstätte im Staatsganzen und für das Staatsganze zu sichern, gewiß nicht Freiheit, aber der Raum zur Kraftentfaltung, gewiß nicht Gleichheit, aber die Möglichkeit, sich den Bevorzugten gleichzustellen, war gegeben. Auch vergißt man heute viel zu leichtfertig die ungeheuren Schwierigkeiten, die zu überwinden waren und überwunden wurden. Um nur ein Beispiel anzuführen: die Ritterschaft in Pommern besaß 260 Geviertmeilen, darunter 100 Quadratmeilen bäuerliches Land; durch die Edikte des Jahres 1811 wurden 70 Quadratmeilen freies Eigentum der Bauern.

An diesen umwälzenden Neuordnungen, die doch zugleich Neuschöpfungen waren, bemessen, erscheint die Verfassungsfrage beinahe untergeordnet, so sehr sie auch in jenen Zeitläuften im Brennpunkt des Interesses stand und als der eigentliche Maßstab galt. In dem Deutschland, in dem unter Vorgang Bayerns (1818) die Südstaaten eine Verfassung erhalten hatten, mußte das Preußen der Stein-Hardenbergischen Gesetzgebung, und nicht einmal zu Unrecht, als das rückständige, sogar als das fortschrittfeindliche Prinzip erscheinen. Es ist aber, als wäre das Bei- und Nebeneinander widersprechender Züge wesentlich gewesen, dieser Zeit die ihr eigentümliche Physiognomie zu geben.

Widersprechend denn auch das Aussehn der Figuren, die damals als politische Geschäftsträger fungierten, der Diplomaten. In seinen »Denkwürdigkeiten des eignen Lebens« rühmt sich Varnhagen, als preußischer Gesandter am Badenschen Hofe, der Badenschen Sache – es galt den Rückfall der Pfalz – durch zahllose selbstgeschriebene Zeitungsartikel und Zeitschriftenaufsätze, die selbstverständlich ungezeichnet blieben, gedient zu haben. Also ein höchst modern anmutender Typ: der Diplomat als Journalist. Und in denselben Denkwürdigkeiten erzählt derselbe Varnhagen von dem »Kollegen« Berstett, der sich in gleicher Angelegenheit beim Kaiser Alexander von Rußland Gehör verschaffte, zu weinen anfing, in Verzweiflungsausbrüche verfiel, in immer gesteigertem Weinen den Kaiser anflehte, bis der, einigermaßen dekontenanciert, dem Bittenden willfahrte. Eine höchst patriarchalisch anmutende Figur: der Diplomat als Herzensbeschwörer.

Die Zeit der unausgeglichenen Gegensätze.

 

Und diese Zeit, die wir im Bilde von Großmutters Zimmer erblicken – an den getönten Wänden hängen die Schattenrisse, der runde Tisch vor dem Sofa ist sauber gedeckt, die bescheidene aber doch sehr sorgfältig zubereitete Mahlzeit wird aufgetragen – war eine Epoche der denkbar schwersten wirtschaftlichen Erschütterungen.

Man weiß, welch ungeheure Lasten Napoleon den besiegten Staaten auferlegte – aus Preußen wurden nach der Schlacht von Jena 159 Millionen und im Verlauf der folgenden Jahre weitere 300 Millionen gezogen, man kennt die Praxis der französischen Generale, die sich von den besetzten Städten die »Glocken abkaufen« ließen, man denkt an Schadow, der seine Goldne Medaille Rom in Kriegsnöten beisteuerte, das »Gold gab ich für Eisen« der eingetauschten Trauringe ist geradezu Symbol der Freiheitskriege geworden, man weiß aber auch von den Gehaltsabzügen, die die Beamten »freiwillig« auf sich nehmen mußten, und von den gefährlichen Folgen der Verordnungen über die Selbstbesteuerung des Haussilbers. In Kriegszeiten schien das alles ertragbar, aber der siegreiche Friede brachte kaum Besserung. Die dauernden Militärtransporte hatten die Landstraßen nahezu unbefahrbar gemacht; die Aufhebung der Kontinentalsperre hatte ein Anfluten englischer Waren zur Folge, und die etwa zu 30 Prozent unter Erzeugungspreis angebotene englische Baumwollenware tötete die einheimische Fabrikation; die fast durchgängig direkte Besteuerung in Preußen lastete ungemein schwer; im Jahre 1820 setzte das ein, was man unter preußischem Sparsystem versteht und was in harten Budgetkürzungen zum Ausdruck kam. Es war »die arme Zeit«, und der Staatsrat berechnete, daß in ganz Preußen nur etwa 8000 Familien jährlich 24 Thlr. zu steuern vermochten; von inländischen Zeitungen und Zeitschriften wurden kaum 43 000 Exemplare verkauft; der Tagelohn für ländliche Arbeiter stand in den altpreußischen Provinzen auf 3 bis 4 Sgr. Ein Aufschwung trat erst mit dem Jahre 1828 ein und war im wesentlichen der Motzschen Finanzführung zu verdanken. Es wuchs aber die Dichtigkeit der Bevölkerung auf der Geviertmeile in den Jahren 1816 bis 1831 von 2006 auf 2521 Köpfe, seit 1822 konnte der Konsum an Kolonialwaren ständig steigen.

Ermöglicht war die Durchführung der Stein-Hardenbergischen Gesetzgebung mit ihrer Aufhebung der Erbuntertänigkeit, ermöglicht war die Volksverpflegung in diesen Jahren lastender Teurung nur durch Thaers Anbahnung einer Intensivierung der Ackerwirtschaft: die Not hatte gleichsam aus sich heraus den Helfer gestellt. Für die Industrie bedeutete das Jahr 1833 mit Gründung des Deutschen Zollvereins den Aufschwung: bereits im Jahre 1844 sah Berlin im Zeughaus eine Industrieausstellung des Preußischen Zollvereins (der 1827 die erste Berliner Industrieausstellung vorangegangen war).

Seit 1826 erfreute sich Berlin der Gasbeleuchtung, 1838 wurde die Eisenbahn zwischen Berlin und Potsdam eröffnet: Varnhagen durfte verzeichnen, daß im Durchschnitt täglich über zweitausend Personen, an manchen Tagen bis gegen viertausend, fuhren.

Aber man gewinnt erst letzten Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse der Zeit, wenn man vergegenwärtigt, daß es die Epoche war, in der beides entstand: die großen Vermögen und das Proletariat. Merkwürdigerweise war es Hegel, der als einer der ersten Blickschärfe besaß, das zu erkennen.

– – Man wünscht zu erfahren, wie sich in dieser Zeitspanne der schweren wirtschaftlichen Erschütterung die unserem Bewußtsein lebendig Gebliebenen durchs Dasein schlugen. Man begehrt aus dem Buch der allgemeinen Erwägungen hinaus und auf die Straße und in das bescheidene Heim.

Schon im Jahre 1799 müssen – in dieser Unausgeglichenheit der Einnahmen und der Ansprüche – befremdende Zustände in Berlin geherrscht haben. Fichte, der sehr Zuverlässige, schreibt unter dem 7. August dieses Jahres aus Berlin an seine Frau: »Ich kenne einen Kriegsrat, der einen Bedienten in prächtiger Livree hält. Dieser kocht verwichenen Sonnabend für seine Familie ein halbes Pfund Rindfleisch und sechs Pfund Kartoffeln und Mohrrüben zum Mittagessen. Es findet sich, daß das Fleisch nicht weich gekocht ist; es wird sonach nur das Gemüse gespeist und das halbe Pfund Fleisch den andern Tag wieder gekocht zum Sonntagessen. Seine Frau wäscht das Hemd, das sie den Sonntag tragen will, Sonnabends selbst in ihrer Stube und geht indes ohne Hemd. – So sollen gar viele Berliner leben. So freilich können wir es nicht.«

In diese nicht eben geregelten Verhältnisse bricht die Kriegsnot ein. Schadows tägliche Ausgaben für Einquartierung betragen (1808) 7 Thlr., das Wiener Vermögen seiner Frau wurde bereits 1807 durch den Kurs auf den fünften Teil gebracht. Von der Teurung des Jahres 1809 berichtet Wilhelm von Humboldt getreulich und in Einzelheiten seiner Frau: Berlin sei zu einem Dorf geworden, man gehe im Frack zu Fuß an Hof, wenn man etwas bekannt sei, in Stiefeln; das Rindfleisch kostet 4 Sgr. das Pfd.; für aufgenommenes Geld zahle man 15 Prozent; die Verordnung über die Abgabe von 6 Gr. auf das Lot vom Haussilber habe zur Folge, daß die Leute ihr Silbergerät vielfach vergraben; viele lassen sich mit Fleiß überfahren, um dergestalt zu einem Schmerzensgeld zu kommen; es gibt ihrer aber auch, die statt des geforderten Mindestmaßes von 5 Prozent eine freiwillige Abgabe von 10 Prozent ihrer Besoldung leisten: »Du glaubst nicht, was die Besseren hier jetzt patriotisch sind.« Noch im Jahre 1814 ist die Teurung arg: »Wir aßen für 1 Thlr. 4 Gr. Courant Salzeier und Salat«, schreibt Schleiermacher aus Belitz.

Die Schwere der Hungersnot brachte der Winter 1816 auf 1817, zu der der trostlose Zustand der deutschen Verkehrsverhältnisse das seine beitrug: 20 000 Deutsche wurden zur Auswanderung gezwungen, von denen etwa ein Zehntteil nach dem russischen Polen zog: Varnhagen fand die Auswanderer in solchen Scharen und in so beklagenswertem Zustand Morgen für Morgen vor der Tür seiner Amtswohnung in Karlsruhe, daß er es nicht übers Herz brachte, sie unverpflegt weiterziehn zu lassen; Rahel, die half, wo sie helfen konnte, und der sich beim Anblick so vielen Elends das Herz zusammenkrampfte, schrieb, daß man Brot aus Baumrinde esse und tote Pferde wieder ausgrabe, und Dorothea Schlegel zog als Moral aus so trüber Erfahrung den Satz: »Alles, was die Regierungen hergeben, alle Almosen, Zuschüsse usw. werden nicht die wieder wohlhabend machen, die durch Kriege, mangelhafte oder gar verkehrte Anstalten, durch Luxus, Unglauben, Population, Maschinen, Tabellen und egoistische Berechnungen elend gemacht sind.«

Bereits 1826 tritt eine Finanzkatastrophe ein, und Lea Mendelssohn schreibt: »Hier allein sind achtzehn Häuser gefallen, worunter die festgegründetsten ... Bekannte von uns sitzen im Gefängnis, andere haben sich das Leben genommen; die Zerstörung, Mutlosigkeit, der gegenwärtige Ruin und die trübe Aussicht für die Zukunft sind nicht bange genug zu schildern.« Im Jahre 1831 wird Schinkel zu Beratungen zugezogen, ob es möglich sei, der Arbeitslosigkeit durch Inangriffnahme öffentlicher Bauten zu steuern, aus dem Jahre 1841 hört man von neuer Teurungswelle: »Alle Preise steigen, das Geld allein wird wohlfeiler.«

Und dazu bleibt – dunkler Hintergrund zu allem Wechsel des Zeitgeschehens – das gespenstische Elend der Weber im schlesischen Gebirge. Varnhagen notiert (1844) in sein Tagebuch: »Der Oberpräsident von Merckel hat aus Schlesien berichtet, die Not der Weber im Gebirge sei nicht so groß als der Lärm, den man davon mache; auch sei es keine außerordentliche, sondern nur die gewöhnliche, seit vielen Jahren dort einheimische; so gut wie dieses Jahr hätte man schon vor zehn Jahren dort Unterstützung bedurft, würde man auch nach zehn Jahren noch derselben bedürfen. Dieser Bericht war hier den Oberbehörden und dem Hofe ganz willkommen, dergleichen hört man gern, das Gewissen wird erleichtert und die Sorge ruht aus.«

Gewiß, der Tag füttert den Tag und macht ihn wieder hungrig. Man verschließt den Blick vor den Gewaltvorgängen, um mit dem Bürger wohl eingezäuntes Dasein auszugenießen – nur daß hier auch der Zaun morsch und baufällig geworden ist.

Man betrachte die Gehaltsabstufungen etwa des Jahres 1822. Es scheint in keinem Verhältnis zu stehn, wenn der Oberbürgermeister von Berlin ein Gehalt von 5500 Thlrn., der Bürgermeister ein Gehalt von 3500 Thlrn. bezog, während E. T. A. Hoffmann als Kammergerichtsrat nur 1600, der Baurat Langerhans nur 1380 Thlr. erhielt. Und man blickt tiefer in die sozialen Verhältnisse der Zeit hinein, wenn man zu den Subalternen hinabsteigt. Der erste Rendant von Berlin stand sich auf 1050 Thlr., ein Stadtsekretär auf 1100, ein Registrator auf 700, ein Kanzlist auf 450, die Nuntien wurden mit 300, die Magistratsdiener gar mit 150 Thlrn. abgefunden. Schleiermacher bezog 1802 als »Hofprediger« in Stolpe – er verabscheute den Titel – 630 Thlr., er veranschlagte seine Einnahme aus Kollegiengeldern in Halle 1804 auf 30 Thlr. im Semester, während er im Jahre 1830 in Berlin allein seine Kolleggelderausstände auf 12 000 Thlr. bezifferte, die Witwenpension für seine Frau aber nur 460 Thlr. jährlich betrug. Die höchsten Gehaltsstufen lernt man durch die Humboldts kennen: Staatsräte bezogen 1810, aber auch noch 1820, 2000 Thlr. Gehalt, Minister (1810) 8000, Humboldt als Gesandter in Paris (1814) 26 000, Bülow als Gesandter in London (1827) 25 000 Thlr. Im Jahre 1842 sind die Ministergehälter auf 12 000 Thlr. gestiegen, Savigny aber bezieht 4000 Thlr. mehr als jeder andere Minister. – Der Kriegsrat aber, von dem Fichte erzählte (1799), der 800 Thlr. Besoldung hatte, bezahlte für einen guten Bedienten monatlich 12 Rthlr.

Die Wohnungspreise – man nimmt zunächst wieder das Jahr 1822 als Norm – hielten sich in bescheidenen Grenzen. Man fand in Berlin ein Logis von 4 Stuben und Zubehör am Mühlendamm für 120, am Neuen Packhof für 180, am Gendarmenmarkt für 210 Thlr., eine Parterrewohnung von 6 Zimmern Unter den Linden für 300 Thlr. Im Jahre 1810 berechnet Schleiermacher eine Berliner Beletage in bester Gegend auf 250 Thlr., Humboldt mietet im selben Jahr die untere Etage im Reußischen Palais, Leipziger Str. 3, mit 22 bis 24 Piecen für 550 Thlr. – der Preis habe »ehemals« 800 Thlr. betragen. Für möblierte Zimmer zahlt Fichte in Berlin (1799), drei Fenster vorn hinaus, eins hinten hinaus, 360 Rthlr., im Jahre 1808 zahlt Dorothea Schlegel in Wien für eine möblierte Wohnung – »vier Treppen hoch und der Eingang zum Zimmer durch das kleine, ziemlich dunkle Schlafzimmer, ohne Bettgardinen, ohne Fenstergardinen, die Meubles ganz ordinär und unzusammenpassend, aber reinlich und rechtlich, ohne Lehnstuhl, ohne Sofa, bloß geflochtene Stühle« – 6o Papiergulden, Börne aber findet 1821 in Stuttgart zwei sehr schöne Zimmer mit Aussicht ins Freie für 10 Gulden, in Frankfurt zahlte er 15. Rietschel hatte 1837 in Dresden ein Haus mit Garten für 10 000 Thlr. gekauft, er verkauft es 1847 für 20 500Thlr., die Häuser werden seiner Ansicht nach im Wert fallen, da tausend Wohnungen freistünden und immer mehr gebaut werde.

Man gewinnt über den Gehältermaßstab hinaus Einblick in die Gesamtkosten gutbürgerlicher Lebensführung. Im Jahre 1790 glaubt Humboldt, mit seiner Caroline von 1600 bis 1800 Thlrn. gut leben zu können, 1795 berechnet Fichte die Kosten seiner Berliner Lebenshaltung auf 1200 Rthlr. im Jahre, Schleiermacher gibt seiner Frau 1810 für den Gesamthaushalt (ausschließlich Wohnung) 75 Thlr. monatlich – Humboldts Freundin, die bescheidene Charlotte Diede, schlägt sich (1815) mit 10 Thlrn. monatlich durch – Humboldt verbraucht auf seinem Gut Burgörner 1822 für vier Personen in der Woche 5 Thlr. 21 Sgr., das ist 20 Sgr. pro Tag, 5 Sgr. für die Person. Börne bezahlt sehr guten Mittagstisch im ersten Gasthof Stuttgarts 1822 mit 42 Kr., Alexander v. d. Marwitz bringt mit Rahels Hilfe seine Geliebte, die ein Kind von ihm erwartet (1812), bei sehr ordentlichen Berliner Bürgersleuten unter und hat für Quartier und gute Verpflegung den Tag 8 Gr. zu bezahlen. So bescheidener Preisbemessung (Rahel versichert, und man glaubt's ihr, daß die Leute beinahe nichts dabei verdienen) entspricht es, wenn Börne 1821 erzählt, daß im Münchener Krankenhaus die Gesamtpflege nicht mehr als 1 Gulden 30 Kr. koste, und das Herrnhuter Brüderhaus (1822) in Dresden Kost für Bedürftige zu 6, 8, 10 Gr. pro Person abgibt.

Die Sommerwohnungen waren wohlfeil (Rahel mietet 1808 in der Schloßstraße in Charlottenburg Stube, Kammer, Küche für 6 Thlr. monatlich), doch hört man auch von billigen Reisen. Schinkel kommt 1824 auf der Reise nach Neapel mit seinem Freund Waagen zusammen mit den mitgenommenen 600 Thlrn. aus, und Kügelgen – das klingt nun freilich ganz wie das Märchen aus der guten alten Zeit – kehrt im Frühsommer 1819 in dem Städtlein Öderan bei einem Wirte ein, wird mit Nierenbraten, geschmorten Pflaumen, Butter und Käse beköstigt, erhält gutes Nachtquartier, Kaffee und frisches Weißbrot zum Frühstück, und hat dafür zu zahlen »zwei Groschen und acht Pfennig – wenn es dem jungen Herrn nicht zuviel ist«.

Verhältnismäßig hoch waren – und das spricht für den Geist der Zeit – die Honorare für künstlerische Leistungen. E. T. A. Hoffmann bezog als Kammergerichtsrat ein Gehalt von 1600 Thlrn., für eine mittellange Erzählung erhielt er ein Honorar von 330 Thlrn. Unter dem Siegel des Geheimnisses teilt Humboldt 1797 Caroline mit, daß Goethe 1000 Rthlr. für »Hermann und Dorothea« bekommen habe – »das macht 12 Gr. für jeden Vers« – dagegen sind Grillparzers Honorare (500 Gulden Papiergeld für die »Ahnfrau«, 3 Dukaten für »Sappho«) befremdend niedrig. Im Jahre 1809 verschafft Humboldt Rauch eine jährliche Pension von 400 Thlrn., im Jahre darauf sichert er Zelter eine Pension von 500 Thlrn. (Caspar David Friedrich bezieht 1824 als außerordentlicher Professor in Dresden nur 200 Thlr., Rietschel 1832 als Professor in Dresden nur 300 Thlr.) Dagegen verdient Zelter mit seiner Musik am Auferstehungstage (1807) 800 Thlr., mit seiner Karfreitagsmusik (1818) 1551 Thlr., Rauch erhält – der König ist gegen ihn verärgert, und die Bezahlung fällt daher »sehr karg« aus – für die Königin Luise etwa 8000 Thlr. (1836). Am erstaunlichsten sind die Einnahmen, die der Kongreß von Aachen Friedrich Gentz, dem offiziösen Schriftsteller, einträgt –: Varnhagen veranschlagt sie auf 4400 Dukaten, 700 Pfund Sterling, 6000 Gulden, wobei nur die größten Beträge berücksichtigt seien.

Trotzdem die arme Zeit, und die Jahre lagen nunmehr weit dahinten, da Alexander v. Humboldt sich 1804 in Paris samtene gestickte Kleider für 70 Louisdor hatte anfertigen lassen. Der Bürger hatte 1822 Gelegenheit, Leibröcke für 16-20 Thlr., Überröcke für 7-22, Tuchbeinkleider für 5 bis 8, Sommerpantalons für 3 Thlr. zu kaufen. Kostspielig war auch die Frauenkleidung nicht, bis auf die modischen Schals. Bei der Morgenpromenade in Franzensbad sollen die Kaschmirschals zu 1500 Thlr. und mehr den Kies der Alleen »gefegt« haben.

Noch fehlte jeder soziale Ausgleich. Man denkt an Hegel zurück und daß er Blick für beides hatte, das Aufkommen der großen Vermögen und das Entstehen des Proletariats. Es ist die Zeit, in der die Rothschilds zu einer Weltmacht wurden, die Zeit auch, in der die Maschine (zumal in England) die Tausende entrechtete und versklavte. Friedrich Wilhelm IV. aber plante (1843) den »Schwanenorden« zum »ritterlichen« Kampf gegen Armut, Elend und Not.

 

Es ist die Zeit der tiefen, bis an die Wurzeln des Staatslebens greifenden Erschütterung der Autorität. Wohl wurde an Autorität damals auch in Familie und Geselligkeit, in Standesgeltung und Geburtsvorrechten gerüttelt, – bis aufs letzte der Grundlage beraubt wurde sie im staatlichen Gefüge. Und was das Merkwürdige ist: dieser Umsturz kam auf Rechnung derer, die alles dabei zu verlieren hatten. Es waren die Fürsten, die das Fürstentum seines Ansehns beraubten.

Der Ausgang auch dieser Bewegung ist in den Teilungen Polens zu suchen. Hier ist Treitschke unverdächtiger Zeuge, und er schreibt: »Wenn die Teilung selber eine Tat gerechter Notwehr war, so zeigte doch die Wahl der Mittel den sittlichen Verfall des Preußischen Staates. Durch Wortbruch und Lüge, durch Bestechung und Ränke jeder Art erreichte er sein Ziel.« Und Wortbruch und Lüge, Bestechung und Ränke blieben die Mittel in jenen häßlichen Vorgängen, die der Reichs-Deputationshauptschluß des Jahres 1803, die Mediatisierungen von 1806 bezeichnen, nur mit dem Unterschied, daß deutsche Fürsten hier auf solche Art widereinander wüteten, jeder Würde vergaßen, auch der, die gesellschaftlichem Anstand Selbstverständlichkeit bleiben sollte. Nicht einmal an Szenen des Zuhältertums gebrach es. Und kaum einer dieser Fürsten, dem die Erkenntnis gekommen wäre, wie groß der Verlust bei solchem Gewinn war. Letzten Endes bezahlte man die Länderfetzen mit dem Fürstentum als solchem.

Es ist denn auch ein bedenkliches Zeichen der Zeit, wenn kurz vor der Schlacht von Jena mehrere Prinzen des königlichen Hauses, im Verein mit Stein und Blücher, es für angängig oder notwendig erachteten, einen »Appell« an den König zu richten, der nichts anderes bedeutete, als ihm seine Politik vorzuzeichnen. Und dann sind es gerade die Jahre der Erneuerung des preußischen Staates und der Freiheitskriege, die der königlichen Autorität schweren Abbruch tun. An diesem Wege stehn die Tafeln mit den Namen der Schill und Yorck wie Meilensteine. Gewiß, Varnhagen übertreibt, wenn er schreibt: »Alle Berichte und Erörterungen bestärken mich in der alten Überzeugung und Einsicht, daß niemand wegen der Unfälle jener Zeit zu beschuldigen ist als der König selbst; er hat den ganzen Verlauf des Unglücks bereitet und herbeigeführt. Ich muß aber noch weiter gehen und behaupte, die Herstellung im Jahre 1813 ist nur geschehen, weil der König nicht einwirkte, sondern überwunden und beseitigt war, überwunden durch die Franzosen, beseitigt durch Yorck, Hardenberg, Scharnhorst, Blücher; Preußen war damals ein Gemeinwesen ohne König, doch wurde der Name geehrt und benutzt.« – Übertreibung gewiß, aber doch eben Übertreibung aus dem neuen Zeitempfinden heraus.

Und wie gehn die Freiheitskriege zu Ende? In dem erneuten Länderschacher des Wiener Kongresses, und wieder verlieren die Gewinnenden. Es ist aber, als sollte sich solche Saat immer wieder und aus sich selbst erneuern, und als schösse sie dadurch zugleich üppiger ins Kraut. War dieser Länderschacher in sich schon Satyrspiel, und verschmähten es die Fürsten nicht, sich auf solcher Bühne in Rüpelmasken vor aller Öffentlichkeit zu zeigen, so stellten sie sich in den Streitigkeiten um den Rückfall der badischen Pfalz in häßlicherer Nacktheit zur Schau.

Man vergegenwärtige, und es ist ungeheuerlich: als der Großherzog Karl von Baden im Jahre 1818 starb, war der gesamte Hofstaat davon überzeugt, er sei auf Geheiß des Königs von Bayern vergiftet worden! In Wirklichkeit scheint seine geheimnisvolle Krankheit allerdings anderen Ursprungs gewesen zu sein. Alexander von Sternberg nennt sie »der Art, daß sie keuschen Frauen ein Entsetzen einflößt«.

Der makellose Hausvater, der tief innerlich anständige Mensch: dennoch mußte auch Friedrich Wilhelm III. wie unter einer Geißel des Zeitgebots an der Erschütterung der Fürstenautorität, und sei es gerade kraft seiner ängstlich bürgerlichen Eigenschaften, mitwirken. Der Durchschnittssouverän der Zeit schien es geradezu als seine Sendung aufzufassen, das Fürstentum gehässig, lächerlich, verächtlich zu machen. Was der Londoner Ehescheidungsprozeß, der sich zum großen Teil auf deutscher Bühne und bei weit offenem Vorhang abgespielt hatte, an Schmutz zutage gefördert, wie er deutsche Höfe und deutsche Diplomaten in aller erdenkbaren Gesinnungsniedrigkeit gezeigt hatte (1820), war kaum einigermaßen in Vergessenheit geraten, als das unwürdige Spiel des Herzogs Karl von Braunschweig (1823) dafür sorgte, die Gemüter von neuem aufzureizen. Und wieder ein paar Jahre später: – »Ich ging spazieren (in Homburg) in das Lesezimmer, in den Spielsaal; der Kurfürst von Hessen in weißem Haar und Bart saß wieder unter allem Gesindel und spielte mit Rollen Goldes, schimpflich anzusehen!« (Varnhagen).

Gewiß, es war auch früher von deutschen Fürsten gesündigt worden; nur, daß eben damals, in dieser Zeit der Großväter und Großmütter, das Zeitbewußtsein wach geworden war und daß – Lächerlichwerden gefährlicher ist als Schandtat. Noch gibt es eine Autorität unter Furcht, keine bei Übersehen und Geringschätzung.

Und das war das Unheil, daß sich Komik auch an die nahezu tragische Figur des vierten Friedrich Wilhelm heftete. Man war nun doch »sehr früh aufgestanden« und empfand ihn als einen »Verspäteten«. Der Kreis von Männern, die er um sich scharte – als überlebte Greise fielen diese seine geistigen Paladine dem Spott anheim. Man erzählte sich von seinen wunderlichen Manieren, wie er alles, was er benutzt hatte, Mantel oder Bürste oder Schnupftuch, einfach zu Boden fallen ließ – und lächelte. Man besaß geschärftes Gewissen für die sozialen Unzuträglichkeiten der Zeit, hörte von seinem Schwanenorden – und lachte.

Dazu die Sünden der Beamten, die im verfassungslosen Staat nicht den Tätern selbst, sondern den Staatsoberhäuptern zu Lasten fielen, und das um so schmerzlicher, als immer noch Ehrfurcht da war, und Zweifel an ihr würgte. Grillparzer spricht von dem Vorgehn gegen die sehr harmlose Gesellschaft »Die Ludlamshöhle« und schreibt: »Es war damals ein Polizeidirektor in Wien, den ich wohl einen Schurken nennen darf.« Prozesse gegen Männer wie Jahn und Arndt, das Zensurverbot (1824) gegen Fichtes Reden –: aber es wußte doch jedermann, der nur ein Mindestmaß an Bildung besaß, daß der Staat sich gegen seine treuesten Diener, der König gegen die, die ihm sein neues Preußen geschaffen und geschenkt hatten, ganz ohne Anlaß versündigte.

So begreift man: es ist die Zeit, in der die politischen Morde aufkommen, in der der Sozialismus bei den Massen Eingang findet.

Aber wie immer in dieser Zeit die Widersprüche beieinander wohnen: Trug ein unverantwortliches Beamtentum in falscher Dienstbeflissenheit dazu bei, die Fürstenautorität zu untergraben, so erstand doch eben damals recht eigentlich die preußische Beamtenautorität. Den Beamtenstaat zu schaffen und fest zu gründen, das war, aufs Wesentliche angesehen, Hardenbergs letzte Regierungshandlung gewesen. Die gedieh ihm. Die überlebte ihn. Treitschke zeichnet das Bild: »Wenn die steifen, sparsamen Berliner Geheimen Räte im Sommer nach Karlsbad oder Ems kamen, um sich von den Plagen des arbeitsreichen Winters zu erholen, dann ärgerte sich der gemütliche süddeutsche Badegast an dem scharf absprechenden Wesen der gestrengen Herren um so gründlicher, da er ihnen die geistige Überlegenheit selten bestreiten konnte.« Und Brentano läßt sein Gedicht, in dem er alle Jugendnöte aufzählt, in den Trostvers ausklingen:

»So geplackt und so geschunden,
Tritt man endlich in den Staat;
Dieser heilet alle Wunden,
Und man wird Geheimerat.«

Die Zeit der niedergehenden staatlichen Autorität, – aber man begreift diese Epoche erst vollends, wenn man sich vergegenwärtigt, daß eben damals Altväteranschauung, oder etwas wie Familiensinn, oder politische Romantik, zu wärmendem Herdfeuer geschürt, aufgeboten wurden, die schwindende Autorität zu ersetzen, vielleicht durch etwas Besseres, durch etwas wie bürgerliche Liebe. Bei aller Kärglichkeit der königlichen Persönlichkeit, – man wünschte sich, und darum erfand man sich Anekdoten:

Nun hatte Friedrich Wilhelm III. den Mann, bei dem er in den schlimmen Königsberger Tagen gewohnt hatte, in Berlin im Tiergarten angetroffen, erkannt und ins Theater eingeladen; nun hatte er dem Müller von Sanssouci, der, in Not geraten, ihm seine Mühle zum Verkauf angeboten hatte, durch eine Geldzuwendung sein Eigentum erhalten ...

Wenn Fürstenautorität in diesen Zeitläuften bis auf die Knochen abfaulte – von unten war dieser Prozeß nicht ausgegangen.

 

Damals aber, in dieser Spanne zwischen den Revolutionen und in dieser Epoche niedergehender Autorität erwuchs, was recht eigentlich Seele der Zeit ist: das neue Vaterlandsgefühl.

Man blicke den Bildnissen, die uns aus diesen Jahrzehnten und zumal denen der Freiheitskriege überkommen sind, in die Augen, es ist ein Leuchten darin, und das heißt bei Jünglingen und Männern freudigere Todesbereitschaft, bei Frauen, aber auch schon bei Jungfrauen, demütigere Mutterschaft.

Der Vaterlandsbegriff war Preußen aus Friedrichs des Großen Siegen erwachsen; das Gefühl entzündete sich recht eigentlich an Napoleons Gewalttätigkeit.

Wenn man auf den einen blickt, Schleiermacher, der dies Gefühl vorlebte, dann meint man die Jahre festlegen zu können, in denen es, scheinbar ungesäte Pflanze, dem Boden entwuchs. Im Jahre 1804 schreibt Schleiermacher in einem Brief: »Auch ist es mir wirklich etwas, im Vaterland zu bleiben, in einer alten und sicheren Ordnung der Dinge, unter einerlei Schicksal und Gesetz mit den meisten Menschen, die ich liebe, und zwar unter Gesetzen, die ich mir schon angeeignet habe, die ich im Ganzen liebe und ehre und weiß, daß sie zum Guten hinführen können und sollen« –: so spricht der Pfahlbürger. Und nun im Jahre 1806, abermals in einem Brief: »Bedenken Sie, daß kein einzelner bestehen, daß kein einzelner sich retten kann, daß doch unser aller Leben eingewurzelt ist in deutscher Freiheit und deutscher Gesinnung, und diese gilt es« –: Worte des in Begeisterung Entflammten, und ein paar Monate später wird Deutschland bereits der unvernichtbare Kern Europas genannt.

Und gleichzeitig (1807) taucht nun bei Fichte die Forderung einer Vaterlandsleidenschaft auf – »nicht der Geist der ruhigen bürgerlichen Liebe der Verfassung und der Gesetze, sondern die verzehrende Flamme der höheren Vaterlandsliebe, die die Nation als Hülle des Ewigen umfaßt, für welche der Edle mit Freuden sich opfert und der Unedle, der nur um des ersten willen da ist, sich eben opfern soll«, eine Auffassung, die später ähnlich bei Hegel wiederkehrt und aus der Überhitzung flimmert. Das aber, wissen wir, ist immer geschichtliche Notwendigkeit: jede Wahrheit, gleichviel ob des Gefühls oder der Erkenntnis, muß im Superlativ hinausgerufen werden, um im Positiv zu wirken. Und doch tut es wohl, aus demselben Jahr das besonnene Wort Ernst Moritz Arndts zu vernehmen: »Wir wollen durch die Bürgerschaft zur höheren Menschlichkeit: darum müssen wir unser Volk und unser Vaterland lieben.«

Zur Fackel, an der sich das Gefühl entzünden konnte und die ihm leuchtete, wurde recht eigentlich die deutsche Sprache. Sie galt denn auch Fichte als die beinahe einzig lebendige unter abgestorbenen Schwestern, und Humboldt schrieb noch 1816: »Man mag sagen, was man will, so ist die deutsche Sprache der einzige Schlüssel der Menschheit.« Aus solcher religiösen Versenkung in den Geist der Sprache erwuchs auch die Anschauung des deutschen Charakters, die damals allgemein wurde; die Humboldt übernahm und der er doch den an eigenem Erleben abgetönten Ausdruck lieh, wenn er (1818) an Caroline schrieb: »Ich glaube wirklich, daß der deutsche Charakter, auch in der Masse, durchaus der menschlichste und mithin edelste ist. Er hat gewiß am wenigsten von der Heftigkeit und Gewalttätigkeit, die im einzelnen tierisch und in der Masse wie eine Naturmacht, Sturm und Ungewitter erscheint. Es ist selbst gut in ihm, daß er, ohne Not, nicht einmal als Masse zu handeln liebt, das individuelle Dasein vorzieht, und daß nur wenig dazu gehört, damit er in diesem sich vom bloßen Naturwillen zu einiger, mehr oder minder hohen Ideenbeschäftigung erhebt.«

In einem Humboldt zum mindesten mußte denn auch die Empfindung wach werden, in welchem Geiste die damals eruptiv aufgeisernde »deutsche Frage« begriffen werden mußte, konnte notwendigerweise nur Scham darüber sein, wie sie mißbraucht wurde. Ein anderer begab er sich auf den Wiener Kongreß, ein anderer verließ er ihn. Aber bereits 1813 durchschaute er Metternich und daß der nicht begreife, daß es wirklich im intellektuellen und moralischen Sinne ein Deutschland gebe, das nicht Preußen und nicht Österreich sei, und erstaunlich frühe kam ihm das Bedenken, der Aufschwung im Handeln könne mit geistigem Niedergang verbunden sein; später sah er klar, daß das beiseitegeschobene Preußen Beruf und Möglichkeit besessen hätte, für Deutschland und Europa vorandeutendes Beispiel zu sein. Schleiermacher aber blickte bereits 1813 nach einem wahren deutschen Kaisertum aus, fähig, das ganze deutsche Volk zusammenzuschließen, dabei bereit, den einzelnen Ländern und ihren Fürsten ein Höchstmaß an Freiheit zu lassen.

War der Niedergang des Autoritätsempfindens dem deutschen Volk recht eigentlich von seinen Fürsten, ihrer Schwächlichkeit und Würdelosigkeit diktiert worden, so war dies neue Vaterlandsgefühl, bodenkräftig erwachsen, als ein Geschenk des Bürgertums, zumal des geistig lebendigen, dem Volksganzen, aber auch den Fürsten, dargebracht worden. Kunst, Wissenschaft und Heer hatten in ihren geistigen Vertretern zusammengewirkt, den lebendigen Samen zu streuen, und so ist es früh als Symbol empfunden worden, daß sich in der Frühstunde des Tages, an dem das Blücherdenkmal in Berlin enthüllt werden sollte, drei Männer auf dem noch menschenleeren Platz zusammenfanden: der Schöpfer des Denkmals, Rauch, Hegel und Gneisenau.

Die wirtschaftlichen Verhältnisse sollten das ihre dazu beitragen, der einmal entzündeten Flamme Nahrung zu bringen. Pferd und Wagen standen in dem verarmten Deutschland nur noch einer sehr kleinen Minderzahl zu Gebote, die Fußreisen waren aufgekommen. Nicht nur mehr der Handwerksbursche, auch der Student und junge Künstler, auch gereifte Männer pflegten sich auf Fußwanderungen zu begeben, sie befreundeten sich dem Lande inniger, der Preuße lernte in seinem sächsischen Quartiergeber den Deutschen kennen.

Nichts spiegelt deutlicher die innere Entwicklung als das Bild, das sich der Bürger vom Militär machte.

Im Sommer 1798 weilte Ernst Moritz Arndt zwei Monate in Wien und legte seine Eindrücke in einem Buch nieder. Dem österreichischen Soldaten, heißt es da, fehle das Point d'honneur ganz, er stehe unter dem untersten Pöbel; die Unteroffiziere seien gebildeter als die Offiziere. »Ich will keineswegs die Preußen in Schutz nehmen, die wieder zu hölzern und steif sind, aber als bessere Soldaten erscheinen sie wirklich, und genießen auch bei ihren Untergebenen und im ganzen Staate einer größern Achtung.« Und nun das Militär, das in die Freiheitskriege hinauszieht: »Die Konskription kommt hier gar nicht zustande, so viele Menschen lassen sich anwerben: die wohlerzogensten; Juden und alles; ach! es möchte jeder den alten Ruhm wieder aus der Erde graben. Wie die seigneurs sehen unsere Soldaten aus, höflich, comme il faut: wie die Franzosen. Sie bekommen keine Schläge mehr!!« So Rahel. Aber die Wendung tritt abermals ein, und die Freiheitskriege liegen jetzt weit dahinten. Selbst Treitschke kann nicht umhin, zu erwähnen, daß der Kommandeur der preußischen Garde, Herzog Karl von Mecklenburg, darauf aus war, im Gegensatz zu den Linienregimentern in seinem Offizierkorps wie in seiner Truppe ein dünkelhaftes Wesen zu züchten, und Alexander von Sternberg, Erzreaktionär und selbst der Adelsstolzen einer, schreibt: »Ist ein Stand in den Ruf gekommen, daß er sich absichtlich starr absondere, daß er sich um das Wohl des Ganzen nicht kümmere, so ist ihm damit der Hauptnerv seiner Bedeutung als Mitglied des Staatskörpers gelähmt. In diese unglückliche Stellung geriet das Militär in Preußen, das einst so vergötterte Militär, und wir finden es beim Ausbruche der Feindseligkeiten isoliert, in offener Parteistellung den Massen gegenüberstehen.« Damit ist das Jahr 1848 eingeläutet.

Das Vaterlandsgefühl war aber, einmal entzündet, glutvoll geblieben; fragt sich nur: »Was ist des Deutschen Vaterland?«

Inmitten der Freiheitskriege, kurz vor der Schlacht von Belle-Alliance, steht im Buch der Geschichte ein Vorgang verzeichnet, der erschreckend dartut, was die Frage Arndts nach dem Vaterland des Deutschen jenen Zeiten bedeutete: die sächsischen Truppen meuterten gegen Blücher; sie stürmten sein Haus; er mußte fliehen, entging mit Mühe dem Tode. Darauf Kriegsgericht: die Rädelsführer werden erschossen, die Fahne der sächsischen Garde wird vor der Front verbrannt, die Truppe wird heimgeschickt.

Was ist des Deutschen Vaterland? Wie sich das Vaterlandsgefühl an inbrünstigem Erfassen der deutschen Sprache entzündet hatte, so konnte auch jetzt nur die Sprache aus sich heraus Antwort geben: »Soweit die deutsche Zunge klingt / Und Gott im Himmel Lieder singt.«

Auf die Tragik der Freiheitskriege aber folgte auch hier das Satyrspiel der Reaktion. Denn nun kam – wiederum in Sachsen – der Begriff der »Mußpreußen« auf, die Maingrenze wurde eben dadurch, daß die süddeutschen Staaten Verfassungen erhalten hatten, Preußen sie schuldig blieb, zu einer Scheidungslinie, die sich um so härter eingrub, als hier Gefühls- und Empfindungsstürme in die hüben und drüben aufgepflanzten Staatenfähnlein bliesen. Die Wiener Schlußakte wurden offenkundig zu einer Fanfare des Partikularismus, und man wird schwerlich etwas Bezeichnenderes für die allgemeine Begriffsverwirrung ausfindig machen können als jenen Wiener Erlaß Friedrich Wilhelms III. an die Einwohner der neuen Provinz Posen, in dem es hieß: »Auch Ihr habt ein Vaterland und mit ihm einen Beweis meiner Achtung für Eure Anhänglichkeit an dasselbe erhalten. Ihr werdet meiner Monarchie einverleibt, ohne Eure Nationalität verleugnen zu dürfen.« Rückblickend erinnert man sich daran, daß eine preußische Kabinettsorder aus dem Jahre 1799 den Besuch außerpreußischer Bäder verboten hatte.

In der Jugend, in den Kreisen der Burschenschafter zumal, wurde der Gedanke an ein einiges Deutschland, um das Humboldt und Schleiermacher und Arndt gewußt hatten, zu Hoffnung und Willensziel. Zu der Verwirklichung trugen auch hier die wirtschaftlichen Verhältnisse das Wesentliche bei, und es scheint auch hier »Erde« ihr Geschöpf, den Menschen, gegängelt zu haben. Recht eigentlicher Schöpfer der deutschen Einheit wurde der preußische Zollverein, und das dumpfe Bedürfnis des Tages ratifizierte die Träume der Begeisterung.

Mit dem Aufblühn des Vaterlandsgefühls mußte auch der Staatsbegriff entscheidende Wandlung erfahren, wie denn Schleiermacher 1806 nichts so sehr beklagt hatte als das Fehlen lebendigen Staatsbegriffes; den meisten bedeute der Staat nichts als eine Art Maschine.

Wirklich hatte auch Humboldt in seiner Jugendschrift das Wesen des Staates möglichst negativ zu fassen gesucht, im Hinblick auf den höchsten Lebenszweck, der Individualität ein Höchstmaß an Kraft und Bildung zu sichern. Durch Gentz kam dann die historische Staatslehre zu ihrem Recht, Fichte und Hegel war es vorbehalten, der Zeit ihr Wort zu geben. Denn nun heißt es bei Fichte: »Der vernunftgemäße Staat läßt sich nicht durch künstliche Vorkehrungen aus jedem vorhandenen Stoffe aufbauen, sondern die Nation muß zu demselben erst gebildet und herauferzogen werden.« Als Mittel für den höhern Zweck der ewig gleichmäßig fortgehenden Ausbildung des rein Menschlichen in der Nation wird der Staat erkannt. Erzieher und Erziehungsideal zugleich. Der Erziehungsgedanke kommt dann auch bei Hegel zur Geltung, zugleich aber tritt ein ganz Neues in Erscheinung: »Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee – der sittliche Geist als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Wille, der sich denkt und weiß und das, was er weiß, insofern er es weiß, vollführt.« Wenn man so will, die Transzendenz des Staates.

Merkwürdig aber: etwas von dem Fichteschen Gedanken wird gleichzeitig (1807) von dem Maler Philipp Otto Runge ausgesprochen. Und Caspar David Friedrich war es vorbehalten, das neue Vaterlandsgefühl zu malen.

 

Man blickt auf die Erfindungen und Entdeckungen der Epoche, denn vielleicht ist es mehr als nur menschlicher Aberglaube, vielleicht rufen Zeit und Erde sich wirklich unter dem Menschenvolk die Kräfte auf, die befähigt sind, ihrer, der Zeit und der Erde, notwendig gewordener Entwicklung zu dienen.

Völlig gewandelt wird das Verkehrswesen durch die Erfindung der Lokomotive (Stephenson 1825 und 1829), der die Nutzbarmachung eiserner Schienen (C. Nixon 1803) vorangegangen war, und die durch die Dampfbremse (Stephenson 1833) recht eigentlich erst verwendbar wurde. Die Erfindung der Drehbrücke (Walter 1804) und der Hängebrücke (Roebling 1840) konnten dem neuen Beförderungsmittel zugute kommen, es scheint aber auch verwandten Zwecken zu dienen, wenn Carl von Drais (1817) in der Draisine dem Fahrrad vorarbeitete, und der Bankier Jacques Laffitte (1819) den »Omnibus« ins Leben rief: das Volk in seiner breiten Masse sollte wohl beweglicher gemacht werden.

Neben die Erfindung der Lokomotive tritt die des Dampfschiffs (Fulton 1807) wie naturgebotene Ergänzung, die Konstruktion der Schiffsschraube (Ressel 1826 und Smith 1836) macht recht eigentlich den Dampfer lebensfähig. Und wieder bildet sich ein Kranz neuer Einrichtungen um die zentrale Erfindung: es werden die ersten Rettungsapparate für Schiffbrüchige (Manby 1808) ersonnen, Fresnel führt (1821) wesentliche Verbesserungen der Leuchtturmfeuer ein, Francis (1838) baut Rettungsboote aus kanneliertem Stahlblech mit stählernen Luftkästen.

Die Menschheit wurde beweglicher gemacht, es wurde gleichzeitig – wieder durch die Maschine – die Menschenansammlung in bestimmten Zentren verdichtet. 1801 war (Evans) die erste Hochdruckdampfmaschine erbaut worden, die die Grundlage für die Entwicklung des Dampfwagens abgab, sie war von Woolf (1804) wesentlich verbessert worden, es folgen, um nur ganz Wesentliches namhaft zu machen, die Erfindung der Dampffeuerspritze (Braithwaite und Ericsson 1830), die der Druckmaschine für Kattundruck (Perrot 1834), die der Nietmaschine für Dampfkesselbau (Fairbairn 1838), der Dampframme (Nasmyth 1844), während die Dampfbrennerei schon 1817 (Ludwig Gall) vorangegangen war, das Drahtseil 1827 (Julius Albert) und die ersten brauchbaren Maschinen zur Drahtseilfabrikation (Newall 1837) hergestellt wurden.

Und diese Zeit, die uns Ruhe zu atmen scheint, erfindet sich den Telegraphen. 1833 legen Gauß und Weber in Göttingen die erste deutsche Telegraphenverbindung, 1835 konstruiert Morse den Schreibtelegraphen, 1836 führt Stephenson den Telegraphen in den Eisenbahnbetrieb ein.

Es ist, als hätte die Erde in dieser Epoche nach Kräftigung verlangt, oder als wären alle Fortschritte der Zeit, nicht zum wenigsten die Stein-Hardenbergische Gesetzgebung, nur durch Intensivierung des Ackerbaus ermöglicht worden. 1804 hatte Théodore de Saussure die Humustheorie begründet, 1809 hatte Thaer, auf Saussure fußend, die Resultate der Naturwissenschaften der Landwirtschaft nutzbar gemacht, 1840 hatte Liebig die Verwendung künstlichen Düngers angebahnt, während 1804 bereits von Alexander von Humboldt der Guano empfohlen worden war und Sprengel (1830) seine Stickstofftheorie entwickelte. Die Filtration der Mistjauche wurde von Bromer (1836) gelehrt, im gleichen Jahre von Chadwick die Anlage von Rieselfeldern empfohlen, 1848 wurde von Fowler bereits die Idee des Dampfpfluges erfaßt. In dieser Epoche wurde aber auch die Rübenzuckerfabrikation (Franz Karl Achard 1801) erfunden und die Bereitung des Spiritus aus Zuckerrüben (Dubrunfaut 1824) ins Werk geleitet.

Dem Haushalt kamen denkbar mannigfache Erfindungen zugute. War schon 1802 der Gasometer (Pepys) erfunden worden, so wurden 1814 die ersten Gaslaternen in London angezündet (Winzler), im Jahre 1826 erhielt Berlin Straßenbeleuchtung mit Gas. Den Wohnzimmern kam zunächst die Erfindung der geflochtenen Kerzendochte (Cambacères 1834) zugute, die die Lichtschere außer Dienst setzte, und die der Moderateurlampe (Franchot 1836), die der Großväterbehausung am abendlichen Tisch die sanfte Helle gab. Für Kochzwecke kam die Berzeliuslampe (1808) sehr bald in Betracht. Man lernte (1807) von François Appert das Einkochen bei luftdichtem Verschluß und die Sterilisierung durch Franz Ferdinand Schulze (1836), man mochte sich dabei des neu erfundenen Emaillegeschirrs (Pleischl 1836) bedienen. Die Zündhölzchen weisen eine lange Erfindungsgeschichte auf (1805 Chancel, 1832 Kammerer, 1848 Böttger), die Stecknadeln kamen aus Amerika (Hunt 1817), die Stahlfedern aus London (Perry 1830). Die Nähmaschine wurde 1836 von Madersperger vorerst mehr angeregt als erfunden, sie war von Howe (1847) gebrauchsfähig gemacht worden, die Plattstich-Stickmaschine hatte Heilmann (1828) konstruiert. Es gab seit 1817 (Struve) Selterwasser, seit 1833 Briketts (Ferrand und Marsais), seit 1844 war die Möglichkeit der Herstellung von Linoleum (Galloway) gewiesen.

Auch die Künste wurden in ihrer Weise popularisiert: Der Erfindung der Lithographie (Senefelder 1796) folgte die des Zinkgusses (Geiß 1833), der Galvanoplastik (Jacobi 1836), der Daguerreotypie (Daguerre 1839), während die Erfindung des Holzpapiers (Keller 1843) das Buch und die Einführung des gleichmäßigen Portos (1840 in England) den Brief billig machten.

Auch die medizinischen Entdeckungen und die Wandlungen in der Heilkunst führen beredte Sprache. In dieser Epoche gewinnt man durch die Entdeckung der Narkose, die in sich eine Kette von Einzelfortschritten darstellt, die Möglichkeit tiefgreifender Operationen (1799 Anästhesie durch Lachgas: Davy; 1803 das Derosnesche Salz: Derosne; 1844 Lachgas bei Zahnoperationen: Wells; 1846 Einatmung von Schwefeläther: Jackson; 1847 Chloroform: Simpson). Die Diphtherie wird 1818 gekennzeichnet und durch Tracheotomie und Alaunbehandlung bekämpft (Bretonneau); die Brightsche Nierenkrankheit wird 1827 (Bright), die Basedowsche Krankheit 1840 (von Basedow) erkannt; die Trichinose 1835 (Sir Richard Owen) nachgewiesen, die Leukämie 1845 (Virchow) aufgezeigt. Im Chinin (1820 Caventou und Pelletier), im Jod (1820 Coindet), im Pepsin (1835 Schwann) gewinnt die Heilkunde neue Mittel.

Sehr viel charakteristischer waren für den Gesichtsausdruck der Zeit, viel mehr wurden auch in Laienkreisen die Erfindung der Homöopathie (Hahnemann 1810) und die Entdeckung des hypnotischen Zustandes (1841 James Braid), der Mesmers Versuche vorangegangen waren, beachtet. Hier fand eine breite, aufhorchende Schar unter den Gebildeten, was sie für ihren Hausbedarf an Mystik brauchte.

Die Zeit in ihrem inneren Streben erspürt man deutlicher auf dem weiten Gebiete der Hygiene. Es war die Rückkehr zur Natur, der Helferin. 1796 gab Hufeland seine »Makrobiotik«, 1838 Feuchtersleben seine »Diätetik der Seele«, und beide riefen, wie verschieden geartet sie sonst sein mochten, den Willen im Menschen auf. 1796 empfahl von Vogel die Benutzung der Seebäder zu gesundheitlichen Zwecken, 1798 wendete James Currie kalte Begießungen an, 1811 führte Jahn das Turnen ein, 1825 begründete Ling die schwedische Heilgymnastik. Diese Zeit brach (1810 Esquirol und 1839 John Conolly) mit dem Zwang im Irrenwesen, sie gab den Blinden (1829 Louis Braille) die Punktierschrift, sie schuf sich in der Kuhpockenimpfung (1797 Jenner) und der antiseptischen Bekämpfung des Kindbettfiebers (1848 Semmelweis) die vielen, für das gesamte Volkswohl segensreichen Arbeitsgebiete. Sie gab auch (1801 Valentin Rose) dem bedächtigen Bürger das Natron in seine Hausapotheke.

Eisenbahn, Dampfschiffahrt, Telegraph; das Entstehen größerer Fabrikbetriebe; die Intensivierung des Ackerbaus; die hellere Straße und das lichte Heim; die schnellere Feder und der billige Brief; Nähmaschine und Stecknadeln; Turnen und Kaltwasserhygiene –: diese Zeit macht den Menschen beweglicher und verjüngt ihn, macht ihm den Boden ertragreicher und befreit ihn vom Zwang der Scholle, macht ihm sein Heim lichter und öffnet ihm die Welt, verwischt die Standesunterschiede und züchtet das Proletariat – in dieser Zeit ist der Ruf einer Stimme, die an viele Ohren dringt, aber niemand vermag sie zu deuten.

Diese Zeit hatte auch den Auf- und Niedergang eines Weltreichs mitangesehn, sie hatte sich zu bislang unerhörtem Kräfteaufgebot aufgerafft.

Diese Zeit hatte auch den Bruch der Autorität herbeigeführt und sich ein neues Vaterlandsgefühl geschaffen.

Der Atem stürmt und die Frage gellt, und doch ist in dem allen auch viel Stille. Soviel aber ist bereits gewiß: In dem Rätsel der Zeit ist bei jedem Ja auch das Nein.


 << zurück weiter >>