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Das Zwischenreich

In Riga, in seiner behaglichen und gastlichen Häuslichkeit, erzählte eines Tages der General von Manderstjerna, und Alexander von Sternberg hat es aufgezeichnet: Als junger Fähnrich sei er eines Abends nach langem, ermüdendem Ritt unfern des Gutes seines Vaters an einem wohlbekannten Bach gelustwandelt, als ein Reisewagen genaht sei, und in dem Gefährt habe hochaufgerichtet, in wehende weiße Schleier gehüllt, eine Frauengestalt gestanden. Der Wagen habe gehalten, er sei herbeigeeilt, der Dame seine Hilfe zu bieten; wortlos habe sie seinen Arm ergriffen und sei auf Mägde zugeeilt, die da mit Waschen beschäftigt gewesen seien, habe sich auf einen hohen, abgeflachten Stein geschwungen und die Mägde mit hohler, seltsam klingender Stimme angeredet, was sie da täten. Daß sie ihre Kleider für den kommenden Feiertag wüschen, sei die Antwort gewesen. Und denkt nicht an den Schmutz der Sünde, an eure befleckten Seelen, und müßt doch gewärtig sein, eh ihr's geahnt, vor den Herrn der Herren zu treten? Eindringend und eindringlicher habe die Dame in weißer Gewandung gesprochen, die da gegen den dunkler gefärbten Abendhimmel gestanden – verwundert seien die Mägde gewesen, dann tief ergriffen – weinend und schluchzend hätten sie den Rock der Dame geküßt, reichlich seien die Bußetränen geflossen. »Noch sehe ich«, schloß der General, »die erhabene Gestalt dieser Frau vor mir, wie sich die Konturen des gehobenen Antlitzes und der schmalen, mageren Hände, die sich nach dem Himmel deutend erhoben, scharf gegen den verglimmenden Abendhorizont abzeichneten.«

 

Was ist das: »Zwischenreich«? Es ist, als gelangte man auf einer Wanderung aus wohlgepflegtem Garten auf einen steinigen Anger mit verkümmertem Baumwuchs, versandeten Streifen, hier und dort aufwucherndem Unkraut – so und nichts anders, wenn man sich in die religiösen Stimmungen der Zeit versenkt hat und nun, dies Gartenland verlassend, das von beidem zeugte, dem segnenden Himmel und gesegnetem menschlichen Mühen, sich dem dunklen Bezirk des Aberglaubens zuwendet. Wie in Wüste und Wirrnis verwiesen, kommt man sich vor. Es ist etwas in dem Denkenden, das sich gegen jedes gläubige Hinhorchen wehrt; es ist etwas in dem durch ein dunkles Leben Gegangenen, das jedes vorschnelle Aburteilen verbietet. Denn nun sagt man sich doch: mag jener Anger versteint und verunkrautet sein – es sind dieselben Steine, aus denen man dort drüben Kirchen erbaute; in diesem Unkraut ist Same zu jenen Blumen, die dahinten im Garten entzückten. Die Naturgabe scheint die gleiche, und nur eben die Aufnahme durch den Menschen sehr verschieden geartet zu sein.

Es ist eine ganz eigenartige Stellung, die Goethe aus dieser Zeit heraus und für diese Zeit zum Aberglauben eingenommen hat. Bei der Richtfeier in den »Wahlverwandtschaften« wirft der Maurer ein Glas, das für Eduard in seiner Jugend verfertigt worden ist und die Buchstaben E. und O. in zierlicher Verschlingung zeigt, um es feierlichem Brauch gemäß zu zerschmettern. Das Glas wird aber durch einen Zufall aufgefangen und bleibt erhalten. Für Eduard wird der Vorfall bedeutend. Das Glas ist ihm Beweis dafür, daß das Schicksal seine Vereinigung mit Ottilie gewährleiste. Er spricht Mittler davon, der aber verweist ihm hart seinen Aberglauben. Und nun, nachdem Ottilie verschieden, tritt es zutage: Das echte Glas ist unlängst in Scherben gegangen, der Kammerdiener hat ein ähnliches untergeschoben. Wie also? Scheint es nicht, als ob das echte Glas die echte Antwort auf die Schicksalsfrage gegeben hätte? – Es ist nicht anders als im Leben und in der Wirklichkeit des Tages auch: Die Orakel sprechen die Wahrheit und trügen, Wahres kündend. Nicht anders, als das Schicksal selber hinter dieser unserer Welt steht, zeigt und verbirgt es Goethe hinter der Welt seiner Geschöpfe.

Humboldt aber, den man gern befragt, weil in ihm beides ist, Verstandesschärfe und Verstandesdemut, Ungläubigkeit und Andacht, stellte sich dem Zwischenreich und seinen dunklen Phantasmagorien durchaus nicht nur ablehnend gegenüber. Er sah es gern, daß nach dürrem Rationalismus nun (1809) eine neue Zeit heraufdämmere, die zu all den verborgenen und mystischen Dingen gläubiger zurückkehre, »freilich kann es mit der Mystik auch leicht zu weit gehen,« schrieb er an Caroline, »aber das beweist eigentlich, daß in ihr mehr Wahrheit liegt.« Entscheidend sei nur eben die reine Stimmung des aufnehmenden Gemüts.

Wo sind die Grenzen, und wer steckt sie ab? Dorothea Schlegel notiert in ihrem Tagebuch, daß die Fürstin Pauline Schwarzenberg auf einem Ball getanzt habe, ihr Mittänzer aber plötzlich in tiefem Entsetzen ausgerufen habe: »Großer Gott! Fürstin, Sie stehen ganz in Flammen gehüllt!« Sie hält ihn für einen Wahnsinnigen, er aber erweist sich klaren Geistes und warnt die Fürstin vor Feuersgefahr. Am 1. Juli 1810 bei der Vermählungsfeier Napoleons mit Marie Luise verliert die Fürstin Pauline Schwarzenberg, geb. Prinzessin von Aremberg, beim Brand des Ballsaales zu Paris ihr Leben. Wo sind die Grenzen?

Dorothea Schlegel hat selbst einmal geschildert, wie derartige Visionen hervorgerufen werden mögen. Sie selbst habe sich in Alt-Ötting befunden und sei nach der Abendandacht in ihr Logis heimgekehrt, wo sie die dunklen Erzählungen einer altertümlich gekleideten Magd noch über ihre seelische Bewegtheit hinaus erregt hätten. Ihrem Bett gegenüber habe das lebensgroße Bildnis eines Geistlichen in schwarzer Gewandung, ehrwürdig und streng, gehangen. Die eine, tiefgesenkte Hand sei sehr ausdrucksvoll gemalt gewesen. Und nun sei es ihr plötzlich erschienen, als müsse diese Hand sich bewegen und ihr winken. Sie habe die Augen nicht abwenden können, Entsetzen habe sie gepackt, bis sie dann doch die Kraft gefunden habe, das Nachtlicht zu löschen und sich unter ihre Decke zu verkriechen. Dies also Dorotheas eigene Erfahrung, – die sie denn freilich nicht hindert, vom Standpunkt der religiös Gesicherten und kirchlich Geschützten über eine Erscheinung wie die der Frau v. Krüdener in aller Härte abzuurteilen. In der Seele sei sie ihr verhaßt. Es ekele sie an. In all solchem Gebaren finde sie dieselbe Ostentation wie in Napoleon, nur eben bei andern Mitteln. Hochmut, Glanzsucht, Herrschenwollen und Unwahrheit seien die Quellgründe. – Die Grenzen werden also doch und immer wieder gezogen; fragt sich nur, wieweit und für wen haben sie Bestand?

Eins sieht man klar: Das, was hier Aberglauben heißt, anderen aber und zu anderen Zeiten Gottnähe bedeuten könnte, wird in dieser Zeit zwischen den Revolutionen aus zwei Unterströmungen gespeist: aus kirchlich abgeirrter, selbstherrlich gewordener Frömmigkeit und einer der exakten Methoden überdrüssig gewordenen Naturwissenschaft. Hie Prophetie! Hie Magnetismus! In einem Hellsehertum, das überaus katechismusgebunden sein kann, finden sich beide Richtungen gelegentlich zusammen.

 

Jene Frau in weißer Gewandung, die zu den Mägden am Bach so eindringlich gesprochen, von der General von Manderstjerna erzählt und deren Bild sich mit emporgewandtem Antlitz und zum Himmel aufgeregten Armen vom abenddunkelnden Horizont abgehoben hatte, war niemand anders gewesen als Frau von Krüdener. Dieselbe Frau von Krüdener, die über Kaiser Alexander von Rußland gefährlich Gewalt gewonnen und ihm aus ihrem Sehertum heraus den Gedanken an die Heilige Allianz als gottgewollte Bestimmung eingegeben hatte. Oder mit ihrem eigenen Wort aus einem Gespräch mit dem Professor Krug: »Der heilige Bund ist ein unmittelbares Werk Gottes. Dieser hat mich zu seinem Rüstzeug auserkoren. Durch ihn allein habe ich das große Werk vollbracht.«

Man hat gegen Barbara Juliane Frau von Krüdener (geb. 1764) den Vorwurf sittlicher Verfehlungen und des Ehebruchs erhoben – fraglich, ob sie das selbst in Abrede gestellt hätte –; es sind auch Heilige, deren Schriften zum kanonischen Besitz der Kirche zählen, den Sündenweg gegangen. Flamme scheint immer in ihr gewesen zu sein. Ihr Roman »Valerie« (1803) ist mit Zeitstimmung, in diesem eigenartigen Beieinander von Tugendseligkeit und Empfindsamkeit, getränkt, gibt der Zuversicht auf eine Jenseitsvereinigung hienieden Getrennter überzeugten Ausdruck und ist zum mindesten Bürgschaft für eine ungewöhnliche formale Begabung. Was will es besagen, daß das Wirklichkeitsgeschehen vielfach ungalant genug war, ihren Prophezeiungen die Bestätigung zu versagen? Es mag auch in hellseherischen Zuständen Selbsttäuschung mit unterlaufen. Doch bleibt die Art ihrer Prophezeiungen charakteristisch. Sie behauptete, Napoleons Rückkehr von Elba vorhergesagt zu haben, und verkündete daraufhin eine zweite Rückkehr des Imperators von St. Helena, diesmal aber nicht mit offener Gewalt, sondern um die Welt mit List zu betören (1818). Um dieselbe Zeit sollte ein neuer Türkensieg bevorstehn. Die Sonnenflecken waren ihr Zeichen dafür, daß die Welt reif sei zur Ernte; aber auch aus einer unlängst ergangenen Heimsuchung durch Stürme, Erdbeben, Gewitter schloß sie, daß die Stunde des Weltgerichts nahe sei, – Prophezeiungen, die sich so oder ähnlich zu allen Zeiten wiederholt haben, so oft Propheten aufgestanden sind.

Mit der Jeanne d'Arc hat sie sich selbst verglichen. Für den Gemütsvorgang in ihrem geängstigten und trotzigen Herzen wird es verräterisch, daß sie meinte: Trotzdem sie für ihre Verfolger bete, strafe Gott dieselben.

Geistig sah sie sich dazu auserkoren, gegen den Rationalismus und Philosophismus, der von allen Kanzeln und Kathedern gepredigt werde, Zeugnis abzulegen: schon das gibt der Verzückten eigene Einstellung in das Fresko der Zeit. Nicht bei den Lasterhaften, sondern bei den Lauen sei die Gefahr. In ihr ist Haß gegen alle, welche eine »papierne Existenz« haben, mögen sie nun Beamte, Gelehrte oder Philosophen heißen, denn, weit entfernt, etwas zur Erhebung Deutschlands beigetragen zu haben, seien sie es, die den Samen des Verderbens ausstreuten, die Welt dem Untergang näher führten. Sie spottete des Eisernen Kreuzes. Das wahre Kreuz der Ehre trage jeder Christ in seinem Herzen.

Ihr Ruf ging an die Armen: und das macht sie nun doch zu echter Prophetin dieser ihrer Zeit. Sie sah das Elend, das die neue Wirtschaftsordnung heraufführte, und es griff ihr ans Herz. Sie hatte den Mut, gegen die Fabrikanten Anklage zu erheben. Sie bettelte für ihre Armen. »Denn oft habe ich keinen Kreuzer Geld gehabt und doch durch Gottes unmittelbares Wirken wunderbar mehr als 3000 Menschen täglich gespeist und Kranke geheilt.« Für die Armen schuf sie eine Zeitung: die erhielten die Notleidenden umsonst, teilten sie gegen Speise den Reichen mit und beteten sodann für die, die ihnen gegeben hatten.

Wo sind die Grenzen der Wahrheit und wo die des Betruges an sich selbst und den andern?

Ganz kindlich erzählte sie ihren Notleidenden, die sich denn nun freilich gefährlich um sie scharten, von dem armen Mann, dessen Kinder hungern, der für 12 Batzen von dem Reichen Kartoffeln kaufen will, aber hart zurückgewiesen wird, weil der nur für 24 Batzen abgebe. Der Arme flüchtet sich ins Gebet, und daraufhin schlafen die Kinder Tag und Nacht. Am andern Morgen hat er die 24 Batzen beisammen, geht zum Reichen; die Frau des Reichen steckt ihm heimlich ein Brot zu, der Reiche selber aber geht in den Keller, die Kartoffeln zu holen, und – sinkt bei seinem Vorrat vom Schlag getroffen tot nieder. – Sie fand aber auch das gut geprägte Wort: Beruf der Armen ist es, Retter der Reichen zu werden.

Solange sie heilige Bündnisse unter den Machthabern gestiftet hatte, war sie mit Ehren überhäuft worden. Nun sie die Hungernden um sich scharte, wurde sie verfemt, verfolgt, wo immer sie weilte, des Landes verwiesen. Sie starb (1824), wie sie gelebt hatte, »unterwegs« –: Falsche Prophetin, mag sein; gewiß aber echte soziale Revolutionärin.

 

Auf dem Gut, auf dem sich Baron Eduard, nach seinem Sinne und etwa auch dem des Fürsten Pückler-Muskau, »Landschaft« aufbaut, findet sich ein Weg, den Ottilie meidet, weil sie da immer von einem ganz eigenen Schauer überfallen wird, der sich nachher in einen linksseitigen Kopfschmerz umsetzt. Der Weg wird untersucht, es erweist sich, daß die Erde dort Steinkohle birgt. Derart nimmt Goethe vom Magnetismus und den ihm verwandten Erscheinungen Notiz.

Der Magnetismus war damals, wie die Romantiker zu sagen pflegten, » à l'ordre du jour«. Wilhelm von Humboldt meinte, man könne auf magnetische Kuren sehr wohl Hoffnungen setzen, weil sie »wundervoll und unbegreiflich« seien, Caroline von Humboldt hat sich ebenso wie Schleiermachers Frau derartiger Behandlung unterzogen, der Staatskanzler von Hardenberg hatte in seinem Arzt, dem Hoffmannfreunde Koreff, und in der Somnambule Frau von Kimsky eine, wenigstens im Hinblick auf letztere, nicht unbedenkliche magnetopathische Gefolgschaft. Recht aus dem Geist der Zeit heraus ist Antwort auf die Frage nach dem Magnetismus in E. T. A. Hoffmanns erzählerischem Werk: wohl bietet sich hier die dunkle Naturkraft dem Menschen, doch aber nur, um ihn zu verderben. Gewann der Magnetiseur über andere Gewalt, so wurde er verlockt, sie verbrecherisch zu nutzen; in dem Augenblick aber, da er des Sieges sicher zu sein schien, raffte sein Opfer oder ihn selbst der Herzschlag hin. Man sieht: Der Magnetismus und was immer so heißen mag, sucht und findet ganz unmittelbar bei den religiösen Vorstellungen der Zeit Unterschlupf. Er folgt einer gewissen Frömmigkeit – der Hoffmann hier huldigt, ohne sie zu besitzen – in den Fußstapfen nach. Er trägt sich gern geistlich.

Man hat oder findet doch »seinen« Magnetiseur. Bettina, das frühreife Kind, darf da nicht zurückstehn. Ihr Magnetiseur ist ein alter Mann, von dem man nicht weiß, wo er herstammt, und der eines Morgens so geheimnisvoll verschwunden ist, wie er aufgetaucht war. Er reicht ihr in stiller Abendstunde Erdbeeren über die Gartenmauer und anbefiehlt, sie sehr bedachtsam zu essen. Und da sie auf seine Frage, wie sie geschmeckt hätten, zur Antwort gibt: »nach schönem Wetter und ganz fruchtbarem Erdboden«, ist Freundschaft zwischen dem alten wundertätigen Mann und dem Kinde; und muß so sein; Romantik vermittelt. In die romantisierte Natur gehörte der Magnetiseur mitten hinein – wie in die romantischen Salons die verzückten Herren und ohnmächtelnden Damen, die sich die Hände zu magnetischer Kette reichen. Und spricht nicht irgendwer dazu ein Gebet?

Caroline von Humboldt erzählt (1816) von einer Somnambule, der Witwe eines Professors, die unter Lähmungserscheinungen an unerträglichem Kopfschmerz leidet und im traumähnlichen Zustand den Arzt, durch den sie genesen werde, und die Mittel, die zu ihrer Wiederherstellung führen sollen, in aller Klarheit sieht und beschreibt. Sie wird dem Arzt zugeführt, lebt eine Zeitlang von magnetisiertem Wasser und einer Tasse Kaffee am Morgen, der Kopfschmerz löst sich in einen Abszeß auf, der durchs Ohr abfließt; sie spricht in sehr guten Versen, ihre Reden haben durchaus immer eine religiöse Tendenz, sie sieht ihrer Heilung entgegen. – Gabriele von Bülows Söhnchen, der kleine Bernhard, ist an hitzigem Fieber erkrankt, tagelang schwebt er in Todesgefahr, die Ärzte haben jede Hoffnung aufgegeben. Da ringt die Mutter in himmelstürmendem Flehen um dies teure Leben, betend erfährt sie Eingebung, sie läßt das Bettchen mit dem kranken Kind ins obere Stockwerk tragen, reißt alle Türen und Fenster auf – der Knabe ist gerettet. – Rahel träumt und ist im Traum mit vielen Freunden zusammen, die ihr allesamt der Tod entriß, darunter Selle, den sie ihres Rheumatismus wegen befragt. Er anbefiehlt Schwefelbäder und auf all ihre Einwände hin immer wieder Schwefelbäder und – da sie erwacht, sich mit ihrem Traum auseinandersetzt, ist sie zu Schwefelbädern entschlossen. – Kügelgens Mutter ist schwer erkrankt, dreimal täglich besucht sie seit langem der Arzt, ohne helfen zu können – da dringt eines Nachmittags ein Freund des Hauses, der unvorhergesehen dem Wahnsinn anheimgefallen ist, in ihr Schlafzimmer ein, spricht mit ihr, und jedes seiner Worte ist irr, er murmelt lateinische Sätze und befiehlt: »Nun stehn Sie auf und wandeln Sie; Sie sind gesund!« Sie wagt nicht, sich ihm zu widersetzen, in dem Bewußtsein, daß man Geistesgestörte nicht reizen dürfe, steht auf und – ist geheilt.

Das sind Einzelzüge. Es ist aber, als blickte man ins Antlitz der Meduse, da man nun an das Siechenbett der »Seherin von Prevorst« tritt, deren »Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere« Justinus Kerner aufgezeichnet hat. Aller Aberglaube der Menschheit seit Urweltsgedenken ist hier in vielfacher Anpassung, mannigfaltiger Nachwirkung beisammen.

Solchem Zeugnis gegenüber fragt man denn nun freilich zunächst nach dem Zeugen. Alexander von Sternberg hat den wackeren schwäbischen Dichtersmann nach einem Besuch in Weinsberg in seiner lebendigen, boshaften Art geschildert. Da hört man denn, daß Kerner von Gespenstern wie von guten Bekannten sprach, und das im kardialen Ton löblicher Duzbrüderschaft. Dem Herrn von Sternberg kam es bei solchen Gesprächen vor, als befinde er sich zwar im Umgang mit Geistern, doch aber zugleich in herzlich schlechter Gesellschaft, sprach's wohl auch aus, und Kerner war um die Erklärung nicht verlegen: »Ja, Sie müsse nit verlange, daß a dumma Teufel, sobald er stirbt, gleich ein gescheites Kerlchen wird, er treibt als Spukgeist seine alberne Posse weiter!« Und als die beiden einmal im kleinen offenen Wagen von Weinsberg, dem Geisterhochquartier, nach Heilbronn fuhren und nun der Abend über die Straße dunkelte, machte Kerner plötzlich auf befremdenden, nun aber sehr rasch näher kommenden Hufschlag aufmerksam. Ha! der Kerner kannte den Reiter wohl. Der hatte vor hundert Jahren drüben auf dem Gutshof als Pächter gelebt. Büßte nun für seine Verbrechen. Ritt auf einem Pferd mit drei Beinen.

Derart der Zeuge. Solchen Gesichts der Arzt Justinus Kerner, der der Seherin von Prevorst das Glas mit dem von ihm selber magnetisierten Wasser reicht. Freilich hat sie im Dämmerzustand auf das genaueste anbefohlen, wie vieler magnetischen Striche das Wasser bedürfe.

Schon als Kind hat es die Seherin (geb. 1801, gest. 1829), nicht anders als Goethes Ottilie, erfahren, daß sie auf gewissen Wegen zusammenschauerte: Metalle oder Leichenteile barg da der Boden. Die Haselnußstaude schlug ihr frühzeitig auf Metallen oder auf Wasser an. Dem frühen Siechtum verfallen, verordnet sie sich selbst im somnambulen Zustand die wunderlichen Heilmittel. Alle Metalle, alle Pflanzen üben auf sie die eine oder andere Kraft. Sie bedarf der Amulette, deren Herstellung sie vorschreibt, und die sie mit magischen Schriftzügen in Lettern des inneren Gesichts bedeckt. Gebete werden zu klinischen Zutaten. Zeichen erregen Schmerzen; dasselbe Zeichen, nun aber mit Stellung des guten Prinzips oberhalb des bösen, bannt sie –: nicht sehr anders, und vielleicht mit nicht gar so unähnlichen Symbolbuchstaben beschrieben, mögen die Amulette der Magier des Zarathustra ausgeschaut haben. Sie zeichnet sich ihre Sonnenkreise. Siderische Mächte walten über ihr. Sie läßt sich ein kleines Gerüst aus Zwetschgenholz und Glaszylindern, Stahlkettchen und einem wollenen Leiter als »Nervenstimmer« bauen.

Sie hat Visionen. Da ihr der Vater unvorhergesehen stirbt, erblickt sie drei Tage hintereinander einen Sarg und deutet ihn alsbald darauf, daß der Vater erkrankt sein müsse. »Tatsache« ist es – Justinus Kerner bedient sich des Worts und wiederholt es – daß, als die Mutter in Lebensgefahr gerät, ihr ein verstorbener Bruder erscheint und nichts sagt als: »Denke an die Mutter!« Und abermals ist es Tatsache, daß Justinus Kerner eines Nachts um zwei Uhr schreckhaft erwacht und am andern Morgen von der Seherin erfährt, sie habe um die nämliche Stunde einem Geist befohlen, zu dem Arzt zu gehn.

Den Geistern, die sie in stattlicher Anzahl erblickt, verlohnt es ins Gesicht zu sehen. Je nach ihrer Sündenschwere wechseln sie aus dem Schwarzen ins Graue, ins Lichte. Da ist nun einer, der hinter dem vierten Faß im Keller wohnt – gelegentlich erscheint er im weißen Flauschrock, auf dem Kopf eine weiße Kappe, an den Füßen Pantoffeln – dem läßt eine Betrügerei, die er auf Erden begangen, im allzu nahen Jenseits keine Ruhe, es ängstigt ihn zumal, seine noch lebende Frau könne in Fortwirkung seiner Schuld zu einem Meineid verleitet werden. Um sie davor zu bewahren, muß ein Schriftstück aufgefunden werden, das als eingeschobene Seite in Aktenfaszikeln seinen Platz gefunden hat. Im Dämmerzustand gibt die Seherin den Auftrag des Geistes weiter, man forscht dem Blatte nach, man sucht vergebens – man findet es an vorbestimmter Stelle, Warnung ergeht, das neue Verbrechen wird verhindert. Über all das werden denkbar glaubwürdige Zeugnisse der mit dem Fall betrauten, am Suchen des Papiers beteiligten Amtspersonen beigebracht.

Das Begebnis ist typisch für all dies Geisterwesen. Was da umgeht, ist eine seltsame Bindung von Mystik und Rationalismus. Stark landschaftlich bedingter Volksaberglaube. Alles eingeschworen auf den lutherischen Katechismus und die sehr bürgerliche Unterscheidung von Gut und Böse. Ausgesprochen protestantische Gespenster.

»Du gleichst dem Geist, den du begreifst.«

Man erfährt aus dem Munde der Seherin von Prevorst aber auch Näheres über die – wenn man so sagen darf – Naturgeschichte der Geister. Es erweist sich, daß durch den »Nervengeist« die Seele mit dem Leib, und der Leib mit der Welt verbunden ist. Dieser Nervengeist geht nach dem Tode mit der Seele – durch ihn bildet sie eine ätherische Hülle um den Geist. Er ist nach dem Heimgang noch des Wachstums fähig, durch ihn, in Verbindung mit einem besonderen Stoff, den er aus der Luft anzieht, bringen die Geister des Zwischenreichs Töne hervor, durch die sie sich den Menschen vernehmbar machen. Nur die völlig reine Seele löst sich im Tode von dem Nervengeist.

In der Seherin von Prevorst ist der damals neu aufgekommene Magnetismus mit jener Frömmigkeit, welche die Freiheitskriege zeitigten, die seltsam anmutende, aber zugleich sehr zeitgemäße Verbindung eingegangen. In einer andern, rein seelischen Beziehung vermag die Seherin zu wahrhaftiger Deuterin der Zeitstimmung zu werden.

Höchst wirksam nämlich werden auf die Seherin von Prevorst musikalische Töne. Sie zittert sie, man möchte sagen, ihre Seele tanzt sie mit. David Friedrich Strauß hat die Darniederliegende aufgesucht und ihre Sprechweise gekennzeichnet: »Der Vortrag sanft, langsam, feierlich, musikalisch, fast wie ein Rezitativ.« Sie hat auch vielfach und mit Vorliebe in gereimten Versen gesprochen; dichterisch bedeuten die nichts; aber es ist ein sanftes und rhythmisches, ein schwebendes Klingen darin.

Man wird sich daran zu erinnern haben, daß um die Seherin von Prevorst Musikalität gewesen ist.

 

Dies sind die einen unter den vielen. Wie eine Art Mittelsmann zwischen Frau v. Krüdener und der Seherin von Prevorst steht Prinz Alexander Hohenlohe da, der durch Gebete und das Meßwunder Heilungen vollzog, auch in die Ferne; der Katholik; Priester, Domherr, Großpropst, Bischof (geb. 1794, gest. 1849). Papst Pius freilich meinte von ihm achselzuckend: » Questo far' dei miracoli!« (»Das ist so ein Wundertäter!«), Katharina Emmerich aber sah auch ihn in der Vision: »Ich sah vielerlei Kranke durch sein Gebet geheilt werden, auch Menschen, die alte Geschwüre mit schmutzigen Lumpen bedeckt trugen.« Nur daß sie seltsamerweise – man begreift wohl, warum einen diese Worte so bewegen – fortfuhr: »Ich weiß jetzt nicht, ob dieses wirklich Geschwüre oder nur Sinnbilder alter Gewissenslasten waren.«

Man zweifelt an diesen und unberechenbar vielen ähnlichen Heilungen der nämlichen Zeit? Man zweifle nicht! Nur sei man sich klar darüber: das Wesentliche an Kraft ging von den Heilungsbedürftigen, nicht von den Wundertätern aus. Es war in dieser unsanft zwischen den Revolutionen eingebetteten Zeit ein Überschuß an Friedenssehnsucht, an gläubigem Verlangen eine Fülle. Das sprengte vielfach die Dämme der Konfessionen, flutete über, ergoß sich ins große Staubecken, das uns »Aberglauben« heißt.

Diese Gläubigkeit bediente sich des wundertätigen Gebets nicht anders als des magnetisierten Wassers. Sie selbst trug Heilkraft in sich, und wenig verschlug es, welcher Art die dem einen oder anderen gemäßen, immer aber von der Zeitströmung nahegerückten Symbole waren.

Man wollte glauben. Man hegte in der Herzenskammer diese scheue Liebe für das Unwahrscheinliche, Widerverständliche. Darum fand jener Spandauer Uhrmacher Naundorff, ein vielfach Vorbestrafter, Anhänger, als er sich, ohne ein Wort französisch zu verstehen (1832), für den aus dem Temple geretteten Dauphin ausgab. Darum das Netzgewirr von Mutmaßungen, Heimlichkeiten, Gerüchten um jenen oberbayrischen Bauernburschen, der 1828 als Kaspar Hauser auftauchte und 1833 als der große Unbekannte verschied.

Man hat nicht danach zu fragen, wer Kaspar Hauser gewesen ist. Das interessiert so wenig, wie Einzelschicksale leider fast immer wenig von Belang sind. Aber das Gerücht war um ihn, man wies auf ihn mit geheimnisvoll deutendem Finger, man glaubte in ihm den entrechteten Thronerben Badens aufgefunden zu haben.

Und damit steht man vor der andern Frage: was eine Erscheinung wie diese, gerüchtumsponnen, für die Zeitstimmung, die doch aus irgendwelchem inneren Bedürfnis an ihr aufflackerte, zu bedeuten hat. Woher rührt, so fragt man, die Aufbauschung des Ereignisses? Doch nur daher, weil man den Machthabern jede Schandtat zuzutrauen allzu bereit war. Was Kaspar Hauser, objektiv betrachtet, für diese Zeit bedeutet? Man kann über die Antwort schwerlich im unklaren sein: die Selbsterniedrigung der Souveränität; die Entgnadung des Gottesgnadentums.

Zugleich spürt man die Zusammenhänge zwischen einer Erscheinung wie der Frau v. Krüdener, der die Augen für die Not der Darbenden und Unterdrückten aufgegangen waren, und dieser andern eines Kaspar Hauser, der in letzter Verwahrlosung aufgefunden war und dem (wähnte man) ein Thron gebührte. Sie stehen beide da wie Wahrzeichen eines annoch unterirdischen Geschehens.

Von Revolution zu Revolution geht es wie Windstoß durch die Stille dieser Zeit. Nur augenblicksweise, nur etwa wie eine mahnende und dann erneute Ankündigung wird es vernehmbar, schafft aber doch in allen Aufhorchenden einen Untergrund von Erregung. Das ist Ursache, warum damals ein Friedrich v. Gentz – sehr bewußt –, eine Luise Hensel – völlig unbewußt – ein Leben wie hinter zugezogenen Gardinen führten.

Mitunter aber klirren die Scheiben.

Es ist ein Windstoß in der Stille der Zeit. Im Zwischenreich der Reaktion gespenstert der demokratische Geist.


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