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Drei Generationen – Zwei Städte

1

Es ereignet sich im Marktgewirr des Tages, daß, unvermittelt und unvorbereitet, eine neue Losung vernehmbar wird. Niemand weiß, wer sie ausgegeben hat. Es ist da aber alsbald eine Gruppe junger Leute, die sich zu ihr bekennen, aus den wenigen sind überraschend schnell die vielen geworden, und nun ist kein Absehn mehr, denn schon scheinen die vielen die Gesamtheit zu bilden. Eine neue Generation ist entstanden.

Eine neue Generation? Bleibt Zeit in sich in tiefe Schleier gehüllt, so gibt man mit dem Wort von der neuen Generation einem Geheimnis Namen, von dessen Entstehen man nichts weiß. Das Entstandene aber trägt Tatsächlichkeit und nahezu Selbstverständlichkeit zur Schau, und wenn man einer neuen Generation die bestimmende Jahreszahl setzt, so denkt man etwa an die Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährigen, die um eben diese Zeit ins öffentliche Leben hinaustreten.

Das ist so und nicht anders, als wenn ein Mann, der viele Frühlinge erlebt hat, ein bestimmtes Frühjahr im Trieb der Sinne und der Seele als das seine erfühlt. Auch über ganzen Völkern mögen Gestirne kräftig werden.

Die Generation 1790

Den Generationen zwischen den beiden Revolutionen nachsinnend, denkt man gern an die Familie Humboldt, denn sie ist wie ein freistehender, doch geschützter Baum, in gutes Erdreich gesetzt, und wohl vermag man zwischen seiner Verästelung die Jahres-, seien es Generationenringe, abzulesen.

Jetzt aber, 1790, sind Wilhelm und Caroline Humboldt selber jung, und hinter ihnen erkennt man den langen Zug derer, die mit ihnen gemeinsam ins Leben wallfahrten.

Selten hat eine Jugend die Elterngeneration so übersehen, mit derart herablassender Ironie behandelt, wie diese in Selbstbewußtsein und Gefühlsüberschwang aufbegehrenden jungen Leute. Selbst ein Schleiermacher, der sich doch in ganz eigener Weise zu seinem Vater bekannt hat, spricht gelegentlich und mit erstaunlicher Überlegenheit von dessen »eigensinnigem Wankelmut«, an den alle Vorstellungen verloren seien. »Wer kann so einem Mama-Kopf nachrechnen?« schreibt Caroline an ihren Verlobten, und man sieht's, wie sie dabei mit den schmächtigen Schultern ärgerlich zuckt. Fällt ihr auch gar nicht ein, den ersten feierlichen Brief an Mama Humboldt selbst zu schreiben. Wilhelm von Humboldt hatte bereits proponiert, Caroline v. Wolzogen könne an ihrer Statt das Meisterstück aufsetzen, sie meint, er hätte am klügsten getan, den Entwurf gleich mitzusenden, »in dem Stil, den Mama begünstigt«, entbietet sich dann aber neben der angepriesenen Caroline auch noch Lotte oder Schiller selber zu Helfern. Errät demgemäß auch gleich den Verfasser von Mamas Antwortschreiben. Ihren eigenen Vater bemuttert sie durchaus. Man müsse schonend mit ihm umgehn, denn »nichts mache die Menschen empfindlicher, als wenn man klein halte, was sie groß achten«. Ein andermal: »Mama ist recht vernünftig. Möge ihre Vernunft auf Papa umgehen.« »Papa ist herzlich gut, aber in seinen Kopf kommt ewig keine neue Vorstellung mehr.« Man verzichtet von vornherein darauf, ihm etwas klarzumachen. Diese Generation setzt sich zu Tisch und rückt den eben noch selbst benutzten Milchbecher und die Kinderbestecke auf den Platz der Alten, bindet denen auch fürsorglich das Lätzchen um, damit sie sich keine Flecken auf ihre Staatskleider machen.

Ein innerliches Verhältnis zur Familie besteht kaum. Er selbst, Wilhelm v. Humboldt, schreibt einmal: »Da hast Du das Porträt des Familienennuis. Ich nehme mich, so gut ich kann, lebe mit allen so wenig als möglich, gebe jedem soviel Recht als möglich, ohne dem anderen Unrecht zu geben, gehe meinen eigenen Weg und suche es einzig dahin zu bringen, daß alle mich achten und mir zunahezukommen sich fürchten.« Im Widerspruch dazu – und wie hold kleidet solche Inkonsequenz die Jugend! – malte man sich das eigene Alter mit allen Zaubern zärtlicher Idylle aus.

Man brauchte die Familie nicht, man verstand sich auf das Alleinsein. Dem schuf man eigene Weihe. Wo immer man auch weilte –: im Alkoven fand sich, unter der Birke am Waldrand stand, unsichtbar, das Altärchen mit der stets brennenden Flamme zum Kult des eigenen unverstandenen Ichs.

Zugleich die Zeit der nimmersatten seelischen Ansprüche. Man sucht Annäherung in Freundschaftsbünden. Ein zärtliches Du verschwistert. Die schnelle Träne im Auge ist Freimaurergruß der einander Verstehenden. Der Schmetterling Seele flattert von du zu du.

Es ist die Zeit, da man bei nahendem Gewitter ans Fenster tritt, und nun der Hauch des Namens »Klopstock!« das Unnennbare ausspricht, die sich sehr einsam fühlten, vermählt. Die Zeit, da ein neuer Frühling den Boden wie mit einem Teppich von blauen Glockenblumen überzieht; die läuten Schwärmerei. Nur soll man es nicht übersehen: in dieser Schwärmerei ist Geistigkeit.

Von Prüderie weiß diese überzärtliche Jugend nichts. Caroline schickt als Braut ihrem Wilhelm eine selbst angefertigte Zeichnung: »Wenn sich nur Mama nicht darob skandalisiert, denn der Theseus ist sehr im Stand der Natur.«

Vor allen Dingen: man fühlt sich anders als die andern. Wilhelm v. Humboldt spricht von seiner sehr traurigen frühen Jugend und daß ihn die Menschen gequält hätten, und keiner ihm etwas hätte sein können. Im Grunde aber ist man deshalb so anders, weil man sich doch nun sehr an »Grazie« gebunden weiß. Man darf dem Wort den vollen Klang und den weithin reichenden Hall geben; denn Grazie muß nun in allem sein: in dem Kleid, das du trägst; in dem Glas, das deine Hand umspannt; in dem Menschen, dem du nahen magst; vor allem, in deiner eigenen Seele.

Bleibt sie aus, oder kargt die Umwelt damit – nun wohl, dann träumt man sie sich. Der junge Humboldt spricht es einmal aus, daß er sich die Menschen ganz bewußt idealisiere. Der Schmetterling »Seele« wird im Bedarfsfall zum Adler und mag nun jeden hoch in die Lüfte tragen, und jeder wird zum Ganymed in seinen Fängen.

Es ist eine ganz eigentümliche »seelische« Sinnlichkeit, die da aufschießt. »Oh, Wilhelm, komm in meine Arme, daß meine Seele in Dich überströme und ich die Deine empfange«, schreibt Caroline als Braut. Sie möchte auf seinem Schoß sitzen und ihn ansehn, denn dann ist es, als übertrüge sie ihre Seele am wahrsten und glühendsten in ihn über. Er seinerseits denkt an die Urgestalt der Charaktere, an die Idee im platonischen Sinne, und wähnt hier den Grund zu finden, warum Liebe immer von Sinnlichkeit unabtrennbar, der Gegenwärtigkeit der Geliebten bedürfend sei.

Ihre höchste Weihe empfing die Schwärmerei der Generation durch Verschwiegenheit. Von solcher Überglut der Empfindungen durfte nur der eine und die eine wissen. Die Welt verstand nicht. Wieder Caroline: »Aber die Menschen dürfen nicht wissen, was wir uns sind. Wenn sie unsere Gefühle ahndeten, schienen sie mir entweiht. Selbst gegen die Besten vermag ich nichts auszusprechen.« Und diese Worte, die scheinbar eingeordnet und nur gleichberechtigt in den Wortkohorten dieser Briefe mitmarschieren, sind zum bestimmenden Leitsatz dieser Ehe geworden. Auch darin empfand er wie sie. Und so hebt damit jenes große Versteckspiel an, das Wilhelm und Caroline v. Humboldt vor ihrer Mitwelt und darüber hinaus mit ihrer Ehe getrieben haben. Sie sollte Konvenienzheirat, und nur das, scheinen, und schien es. Und war doch aus Herzensneigung erstanden, in tiefer und an Untreue gestählter Treue bewährte, über den Tod hinaus beseligende Liebesehe gewesen. So gehütet, brennt denn freilich die geweihte Flamme heller. So in Verschwiegenheit eingebettet, ist Schwärmerei: Gefühl.

Diese Generation hat ihre eigene Ethik, und aus ihr leuchtet das Humanitätsideal. »Der Mensch schafft immer insoviel Gutes, als er in sich gut wird.« Religiosität ist noch nicht, wozu Schleiermacher sie rief, Sinn für die Unendlichkeit, sondern vielmehr die Stimme des Menschentums im Menschen. Ein Sonnenaufgang, und man fühlt sich fromm, ohne doch beten zu können. (Das kann man aus dieser Keuschheit des Empfindens nur sehr selten.) Und Humboldt schreibt einmal: »Das macht mir die religiösen Zeremonien manchmal so lieb, daß sie lauter Äußerungen recht menschlicher, brünstiger Liebe sind – das Weihen, die Reliquien, das Seligwerden, nicht durch Verdienst, nur durch Gnade und Buße (man beachte die unterschiedlose Zusammenstellung katholischer und protestantischer Normen!) – aber das macht sie mir auch so verhaßt, weil sie das zu Zeremonien gemacht haben.« Religion ist dieser Jugend nicht Brot, sondern Kuchen.

Zum Prüfstein aller Religion wird – und das empfindet man denn freilich als ein Beglückendes – die Toleranz. »Nichts ist vermessener, als anderer Empfindungen despotisieren zu wollen, besonders über religiöse Gegenstände«, schreibt Caroline, sie betont es und kommt oft mit anderen Worten darauf zurück, er seinerseits dehnt das Gefühl auch auf die Häretiker der menschlichen Gesellschaft aus und erkennt im Verbrecher den Schwerzurichtenden. »Aber so sind die Besseren unter den Verbrechern meist Menschen, die nicht anders handeln konnten, und daß sie nicht anders konnten, ist teils so menschlich, teils so gut.«

Dem Volk gegenüber wahrt man den Standpunkt der aufgeklärten, teilnehmenden und hilfsbereiten Gutsherrschaft. Der revolutionäre Wind hat bisher nur an die fruchttragenden Ähren, noch nicht an die Wurzeln, Erdreich aufwühlend, gegriffen. Man selber aber wahrt sich eine innere Freiheit, von der keine Zeit vorher wußte, und die auch in der späteren Entwicklung ganz seltene Begnadung ganz Vereinzelter geblieben ist. Dieser Referendar Humboldt sagt sich, trotzdem er keineswegs sonderlich begütert ist, trotzdem er dabei auf harten Widerstand stößt, von seinem Amte los, nur um seiner inneren Entwicklung zu leben. Und sie sagt zu ihm, darin tust du recht. Den Freiesten der Freien sieht man hier in die Augen, und es ist beinahe selbstverständlich, daß so geartete Naturen vor Titeln geradezu zurückschaudern. Man ist es satt, vornehm zu scheinen.

Mit dieser Generation von 1790 steht man geistig auf einer Höhe, von der es denn nur Abstieg gibt.

Es ist denn auch ein eigenes Befremden, ein schmerzliches Verwundern, mit dem diese sehr freien, über Mittagshöhe hinausgelangt, die neue Jugend der Freiheitskriege in ihren eigenen Kindern heranwachsen sehn. Als Caroline im Jahre 1818 einmal um irgendeine Erlaubnis bittet, schreibt Humboldt: »Wie kannst Du um Erlaubnis fragen, liebe Seele, das ist gar zu sehr, als wenn Schleiermacher uns getraut hätte.« In der Tat, es war die Uhr vom Kirchturm gewesen, die jener neuen Jugend der Freiheitskriege den Eintritt ins bewußte Leben geschlagen hatte.

Zwischen Wilhelm und Caroline von Humboldts eigene Jugend und die ihrer Kinder aber schiebt sich, wenn auch weniger ausgeprägt,

Die Generation 1800

Schleiermacher beschäftigt sich gelegentlich eingehender mit dem Charakter des jungen Börne und fühlt sich abgestoßen. Faulheit wirft er ihm vor und den Trieb, sich seinen eigenen Willen wegzuräsonieren. Geziert und unwahr mutet er ihn an. Was ihn aber sonderlich anficht, ist die weltschmerzliche Stimmung in diesem jungen Menschen, und aus seiner Empfindungsfrische heraus meint er: »Was hat ein gesunder junger Mensch, dem nichts abgeht, trübe zu sein? Aller Trübsinn kommt aus seiner Untätigkeit, die ihn schlaff macht.« Man vermerke Zug für Zug dieser Charakteristik, und jedes Wort zielt in dem Maße, in dem es dem jungen Börne gilt, auf den jungen Brentano. Eine neue Zeitphysiognomie stellt sich dar. Sie trägt, an der Generation der Humboldts bemessen, den Ausdruck geistiger Ermüdung.

Es ist denn auch bezeichnend. Der Schwester gegenüber gefällt sich der junge Brentano in einer Präzeptorrolle, aber sein Mahnspruch bringt es nicht über die Worte hinaus: »Stelle dich nicht so heilig, nehme das Leben leicht und deine Pflichten ernst, lerne mit vernünftigen Leuten lustig und fröhlich umgehen.« Worauf denn aus Bettinens Mund, ganz im Sinne dieser Generation, prompt die Antwort erfolgt: »Seh' ich mich um nach meiner Pflicht, so freut mich's recht sehr, daß sie sich aus dem Staub macht vor mir, denn erwische ich sie, ich würde ihr den Hals herumdrehen! so erpicht bin ich gegen sie.« Man schlendert durchs Dasein, wird über dem Bestreben, das Leben leicht zu nehmen, schwermütig, und schon ziehen die Wolken herauf, die den Wettersturz von Jena ankündigen werden.

Wie jede Generation sich aus Gegensätzlichkeit zu der vorangegangenen entwickelt, ist man jetzt jedweder Empfindsamkeit überdrüssig geworden. Brentano meint, es sei was Miserables um einen empfindsamen Menschen, er selber werde mit jedem Tage gescheuter und unempfindsamer. Aus dem starken Freiheitsdrang der Älteren aber wahrt man sich doch zum mindesten – auch hier ist der Speer zum Schilde geworden – das Gefühl für innere Unantastbarkeit. Deren freut man sich, auf die legt man Wert. »Eines Strebens bin ich mir bewußt,« schreibt Bettina, »weil sich alle meine Kräfte darin bewegen. Das ist innere Unantastbarkeit.« Und das will denn freilich etwas besagen. Nur wäre Caroline v. Humboldt nie und nimmer darauf verfallen, die Worte aufs Papier zu setzen, aus dem einfachen Grunde, weil sie ihr gar zu selbstverständlich gewesen wären.

Mit der Auflehnung gegen Empfindsamkeit hängt es zusammen, daß diese Generation durchaus kein Bedürfnis nach Verheimlichung des eigenen Innenlebens hegt. Schon reguliert man das eigene Gefühl nach jenem Ausmaß, das es vor der Öffentlichkeit aufweisen soll. Abermals Clemens Brentano: »Der gute Mensch hat keine Geheimnisse.« Und wenn man dem, der diese Worte spricht, tiefer ins Auge blickt, weiß man: hier ist bereits die Rechtfertigung für bewußte Zurschaustellung der Empfindungen. Beide, Clemens wie Bettina, sind doch letzten Endes wie Schaubudenbesitzer, und wenn sie den Vorhang aufziehn, zeigen sie die bunten Tätowierungen am eigenen Körper. Es ist die Zeit der voreilig veröffentlichten, fürs schaulustige Publikum zurechtgerückten, selbstredigierten Briefergüsse.

Das religiöse Erlebnis hat noch immer nicht Tiefe gewonnen. Es flackert, nun auch noch des Menschheitsideals beraubt. Wie ist das charakteristisch, wenn Bettina einmal schreibt: »Was ist der Unterschied zwischen Gott und Menschen? – daß in ihm alle Lebensreize wach sind, und aber im Menschen schlafen sie.« So geistreichelt man um die eigene Empfindungsarmut herum, und es ist schließlich nicht verwunderlich, daß das Alter später diesen selben Menschen mit trübem Aberglauben beantwortete, was Jugendfürwitz derart gefragt hatte. Geistige Verwurzelung aber findet diese Generation in vaterländischem Boden. Und somit ist doch der Ruf der neuen Zeit an sie ergangen. Diese Jugend erschaut ein ideales Deutschland. Erträumt es in ritterlicher und mittelalterlicher Frühzeit. Trägt es in die Zukunft hinüber. Fordert geschichtlichen Sinn. Weckt die entsprechende wissenschaftliche Forschung. Sucht Verständnis für Volkssitten und Volkssprache. Gewinnt, und sei es vorerst in Lied und Märchen, Zugang zum Herzen des Bauern und des Handwerkers. Bereitet in alldem geistig den Boden für –

Die Generation 1815

In seiner »Friedensrede eines Deutschen« erzählt Ernst Moritz Arndt eine Anekdote, die nur den einen Fehler hat, nicht wahr zu sein. Danach soll, als ein siebzigjähriger Kleist Magdeburg übergab, ein Siebzehnjähriger des gleichen Namens sich in den Fluß gestürzt und die Fahne, das Palladium des Regiments, mit sich in das Wellengrab getragen haben. Erfundener Vorgang, der eben durch die Tatsache des Erdichtetseins an Empfindungsschwere gewinnt, wahrer wird.

Sehr lebhaftes Gefühl für das Andersgeartetsein der neuen Jugend hat Wilhelm v. Humboldt. In den eigenen Töchtern und Schwiegersöhnen tritt es ihm befremdend nahe, daß eine neue Zeit jetzt offenbar neuer Menschen bedürfe. Er liest die Briefe wieder, die Schiller an ihn geschrieben, und dabei fällt es ihm auf, wieviel Muße die Menschen damals hatten, sich mit sich selber zu beschäftigen; dagegen sei nicht ein Wort über öffentliche Angelegenheiten in den vergilbten Blättern zu finden. Jetzt aber reiße die genossene Erziehung, oder auch die öffentlichen Vorgänge, auch das Gebot der Zeit, die Jugend des nun heraufgehellten Tages zur Wirklichkeit hin; nur wenige blieben jetzt bei dem, was man in Wissenschaft und Kunst um der reinen Idee willen und ohne nach der Anwendbarkeit zu fragen, treiben könne. Er empfindet das so stark, daß er im Jahre 1816 einmal schreibt: »Es hat nie eine Epoche gegeben, wo überall und auf allen Punkten die alte und neue Zeit in so schneidenden Kontrast getreten sind.«

Nun endlich ist die Jugend fromm geworden. (»Als hätte Schleiermacher uns getraut.«) Zwar darf man niemals, wo von Religiosität als Zeitstimmung die Rede ist, ein Tiefinnerliches erwarten; das wächst oft genug fernab der Straße, oft genug fernab der Kirche; als Zeitstimmung ist Religiosität nicht viel mehr als Kleid; das aber kann sehr modisch werden; man wähnt es bereits beglückend, ist es nur lebendiges Kleid zu nennen. So sind es wieder Humboldts, des Unreligiösen, Worte, die dieser neu aufschießenden Frömmigkeit die ihr zukommende Beleuchtung geben: »Ich habe es auch sehr gern, daß die kleinen Dinger (seine Töchter) so fromm sind. Es fließt so ganz aus ihrem Gemüt und verwebt sich auch sehr schön in die Zeit, erhalte sie ja dabei.«

»Als hätte Schleiermacher uns getraut.« Mit der neuen Zeit, und weil sie sich in deutsche Vergangenheit einkrampfte, aus dem deutschen Mittelalter die deutsche Zukunft herauszulesen hoffte, war auch eine neue Anschauung der Ehe in weite Volkskreise gedrungen, Patriarchalität wurde Stil. Das »Er soll dein Herr sein« wurde nicht nur wieder sehr ernst genommen, – es ist, als hätte man auch sinnlichen Antrieb darin gesucht und gefunden. Es wird Pflicht der Frau, zu ihrem Manne aufzublicken (Humboldt belächelt das, aber es stößt ihn auch ab). Man wünscht sich ein Käthchen von Heilbronn im züchtigen Spitzenhäubchen an den morgendlichen Frühstückstisch. An seinem Schwiegersohn Hedemann fällt es Humboldt auf, daß er überall Schranken setze und Fesseln schmiede; er empfindet es ärgerlich, wie sehr diese religiösen, vaterländischen, sogar ritterlichen Ideen Freiheit und Größe des Gefühlslebens beeinträchtigen. Mit dieser neuen Auffassung der Ehe aber steht wieder eine Beobachtung in Zusammenhang, die Humboldt diesmal an seinem andern Schwiegersohn, Bülow, macht: die Männer ihrerseits seien prüde geworden. Sie wagten es kaum noch, einer Frau frei ins Gesicht zu sehen, geschweige denn sich an ein paar hellen Augen und einem frischen Mund zu freuen. »Pflicht« ist das Stichwort der neuen Generation. »Pflicht« wird, nach Humboldts Empfinden, was man früher frei aus sich heraus getan hat. Adelheid wird »nach erfüllter Pflicht«, so schreibt sie selbst an ihren Mann, einen Spaziergang machen. Gabriele hat es sich »zur heiligen und ernsten Pflicht« gemacht, die Freude ihres Verlobten zu erhöhen, seinen Schmerz zu mildern. Dies gesteigerte Pflichtbewußtsein, und zumal im Weibe, – man begreift, wie sehr die Zeit zwischen den Revolutionen dessen bedurfte, aber man erkennt auch, wie Zeit sich ihre Menschen schafft: sie braucht dies neue Pflichtbewußtsein, und es ist da, aus einer Atmosphäre sehr verschieden gearteter Wolkenschichten gleichmäßig herabgetaut.

Daß diese Generation der »Pflicht« der eigenen Elterngeneration sehr anders gegenübersteht, als die es der ihren gegenüber getan, ergibt sich aus der gesamten Gemütseinstellung. Nun läßt man sich Briefe an die »Mama« nicht mehr von andern aufsetzen. Man spricht nicht mehr zu den guten Alten, wie sie's verstehen. Man ist vielmehr glücklich, »solche lieben herrlichen Eltern zu haben«; und daß der Vater ihr wünschte, noch dies Jahr möge ihr die Hochzeit bringen, findet dieselbe Gabriele »sehr lieb und gütig« vom »lieben Vater«.

»Pflicht« auch ist es geworden, sich deutsch zu fühlen. »Oh, meine teure Gabriele, ich beschwöre Dich bei der Liebe, die ich heiß und rein zu Dir im Herzen bewahre, vergiß nie, daß Du eine Deutsche bist.« Und ihre Antwort: »In Deutschland bin ich geboren, dort habe ich Dich kennen und lieben gelernt, bin dort die Deine geworden, und Du bist auch ein Deutscher.« Es ist das neue Vaterlandsgefühl, das in dieser Generation der Freiheitskämpfe zum Ausbruch kommt. Weil es so neu ist, bedarf es so vieler Versicherungen.

Der Horizont ist enger geworden, Toleranz ist aus der Mode, sie stünde auch im Widerspruch zu so begriffener »Pflicht«. Die Tochter der Humboldts schreibt aus Rom: »Die vielen Pfaffen und Mönche, denen man es ansieht, daß es ihnen nicht ernst und wahr ist, und überhaupt das ganze katholische Wesen macht mir einen unangenehmen Eindruck.« Die das den Pfaffen und Mönchen ansieht, ist fünfzehn Jahre alt.

Auf den deutschen Universitäten tritt die Zeitphysiognomie dieser Generation sehr ausgeprägt in Erscheinung. Was hier, als von wenigen vorgelebt, gekennzeichnet wurde, wird in den Burschenschaften und darüber hinaus in Studenten- und Künstlerkreisen zu Gemeinbesitz. Wo sich frühere Zeiten mit Kompagnien der Geistigen begnügt hatten, läßt diese Epoche der Freiheitskriege Regimenter aufmarschieren. Der gesamte Bürgerstand ist mobil geworden. Und während frühere Zeiten ihr Ideal in die Wolken geschrieben hatten, gibt diese Epoche Parole aus und gliedert ein. Die neue Zeitstimmung als solche beansprucht die Geltung von »Pflicht«.

Schadow notiert am Rande: »Die Berliner Studenten haben nicht jene rohen Sonderbarkeiten wie an anderen Hochschulen.«

Arndt lobt diese Generation der Freiheitskriege in sehr bewußtem Gegensatz zu seiner eigenen Generation und findet bei ihr Fleiß, Zucht, Ernst, Männlichkeit und Ehrbarkeit. Auch Wilhelm v. Humboldt ist voll Anerkennung: »Es ist doch im Grunde jetzt ein besserer Geist und Sinn in den jungen Leuten in mancher Hinsicht, als wie ich in dem Alter war. Sie haben in der Regel mehr Gemüt und hängen so mehr an den zugleich menschlich natürlichsten und höchsten Dingen, an Religion, Vaterland, Eltern.«

Nur daß eine Verkörperung dieser sehr ethischen, sehr vaterländisch gesinnten, sehr pflichtbewußten Generation den Namen Sand führte. Nur daß der geistige Abstand von der Jugend um Wilhelm v. Humboldt geradezu erschreckend ist. Wo allzuviel Bestes, fehlt meist das Gute.

Und dieser geistige Abstieg setzt sich fort. Noch könnte man von einer Generation um 1840 reden. In bezug auf die notiert Varnhagen ein Wort von Karl Rohr: »In der Hauptstadt merkt man das noch nicht so, aber in den Handels- und Provinzstädten wächst ein Geschlecht heran, das aller idealen Bestrebungen vergessend oder gar ihnen feindlich, dreist und roh auf das rohe Wirkliche hinstürmt und bald nichts wird gelten lassen, als was die äußeren Bedürfnisse und Genüsse betrifft.«

Zeitenwende –.

2

In den beiden Städten Berlin und Wien erschließt sich das deutsche Wesen der Zeit in seiner Gegensätzlichkeit. Es ist nicht nur der Widerspruch zwischen nord- und süddeutsch, preußisch und österreichisch, protestantisch und katholisch, einer aufstrebenden und einer gesättigten, bereits etwas müden Kultur – es ist, als stünde geistigem Schaffen – Musik (nicht minder schöpferisch in ihrer Art) gegenüber.

So scheint es. Vielleicht, daß man später begreift, daß diese Gegensätzlichkeiten nur Pole des nämlichen Zeitenrunds sind, und daß erst aus ihnen und ihrer Zusammenfassung sich Himmel wölben kann.

Berlin

Das Berlin der Biedermeierepoche lag hinter seiner Mauer eingeschlossen, ein Fußgänger umschritt es in knapp vier Stunden. Vom Leipziger Tor aus führten zwei Alleen, mit Weiden und Linden eingefaßt, die eine nach dem Tiergarten, die andere nach der Potsdamer Chaussee. Das Brandenburger Tor wurde bei Tage mit eisernen Gittern, nachts mit schwerlastenden hölzernen Flügeln verschlossen, die Straßen waren unter Friedrich Wilhelm III. gepflastert worden, sie hatten Namen, die Häuser Nummern mit goldenen Zahlen auf blauem Blech erhalten; vom Schönhauser bis Stralauer Tor war die Stadtmauer ausgebaut worden. Gasbeleuchtung bestand seit 1826, zuvor waren die Laternen von Mai bis August nicht angezündet worden.

Eine Kleinstadt durchaus. Bei jedem öffentlichen Brunnen lagen zwei Feuerbottiche auf Schlittengestellen, während des Sommers mit Wasser gefüllt, zu abendlicher Stunde erschienen die Nachtwächter, blau uniformiert, von ihrem Hunde begleitet, mit langem Spieß bewaffnet, um mit der Pfeife die Stunden, mit ihrem Horn Feuer anzuzeigen. Aber diese Kleinstadt besaß empfehlenswerte Gasthäuser, es standen seit dem zweiten Friedensschluß »echt Warschauer« Droschken, 32 an der Zahl, zur Verfügung, der Kutscher saß in seinem grauen Mantel mit gelben Aufschlägen auf dem Bock und führte in einer Viertelstunde für vier Groschen an das in dieser Enge nahegelegene Ziel. Und diese Kleinstadt barg bereits eine rege industrielle Tätigkeit. Noch kam man mit der Post an, aber in Cockerills Fabrik in der Neuen Friedrichstraße arbeitete bereits eine Dampfmaschine von nahezu dreißig Pferdekräften, die Baumwollweberei und -druckerei schritten rüstig voran, die Papierfabrik in der Mühlenstraße lieferte in sechs Stunden aus Lumpen brauchbares Druckpapier, die Kgl. Eisengießerei brachte jährlich über 12 000 Zentner Gußwaren auf den Markt, es liefen vier bis fünf Millionen Briefe jährlich in dieser Kleinstadt ein, die Gewerbesteuer trug (1831) jährlich 120 568 Thlr. ein.

In den Angaben besteht ein befremdender Widerspruch: Danach soll Berlin im Jahre 1822 bei einer Einwohnerschaft von 183000 präzis gezählt 7683 Häuser aufgewiesen haben, im Jahre 1831 aber nur 6950 Häuser bei ziemlich gleichgebliebener Einwohnerzahl, im Jahre 1840 über 7000 Häuser bei nunmehr stark angewachsener Bevölkerung von 298 000. Nicht anzunehmen, daß Häuser abgerissen worden seien, offenbar aber hat die Bautätigkeit gestockt, in keinem Fall hat sie mit dem Zuwachs Schritt gehalten. Bereits aus dem Jahre 1831 wird berichtet, daß vor dem Hamburger und Rosenthaler Tor oft mehrere Familien in einer Stube zusammenwohnten. Auch derart züchtete die Zeit zwischen den Revolutionen das Proletariat.

Den 180 000 Einwohnern standen 110 Zivil-, 54 Wundärzte, 8 Zahnärzte zur Verfügung, den 290 000 des Jahres 1840 an Ärzten 350, an Wundärzten 70, an Zahnkünstlern 30. Ebendamals wies Berlin 200 Restaurationen, 150 Weinhandlungen, 96 Konditoreien, 216 Bäcker, 320 Schlächter, etwa 60 Buchhandlungen und 36 Leihbibliotheken auf.

Das Bürgertum hatte allmählich gelernt, für sich selber zu sorgen; in seiner Weise. Bereits 1820 bestand eine »Heiratsgesellschaft«, zu deren Mitgliedern 200 reiche und arme Hausväter zählten. Verheiratete sich eine Tochter aus dieser Gemeinschaft, so zahlte jeder Hausvater als Beihilfe zur Aussteuer einen Thaler. Die Königliche Luisen-Stiftung aber spendete alljährlich an fünf Brautpaare je hundert Thaler, doch mußte hier ein Sittenzeugnis beigebracht werden.

Volksschichten sanken ins Proletariat hinab – Anfänge sozialer Einrichtungen blieben nicht aus. Seit 1827 bestanden Kommunalarmenschulen, in denen je 150 Knaben und Mädchen getrennten Unterricht erhielten, die Stadt besaß (1831) Taubstummen- und Blindeninstitute, eine Suppenanstalt, in der im Winter 3000-4000 Arme beköstigt wurden, eine freiwillige Arbeitsanstalt, dazu (1840) das Arbeitshaus in der Alexanderstraße, die etwa 800 Personen fassende Besserungsanstalt und die Armenbeschäftigungsanstalt, die etwa 600 Hilfsbedürftigen Obdach, Nahrung, Arbeit bieten konnte.

Die Stadt verfügte damals über drei Zeitungen, die aber wöchentlich nur dreimal erschienen. Sie brachten langsam aber sicher ihre Berichte aus Paris, London, Madrid, Italien, vom Mainstrom, von der türkischen Grenze, aber das waren behördlich gebilligte Berichte, in die eigne Meinung nicht dreinreden durfte. Berlin selbst bestand für die Berliner Zeitungen nur so weit, als – »Seine Majestät geruht hatte«. Daneben verspätete Theater- und Konzertberichte und eine ausführliche Kritik der Kunstausstellung, in der jedwedem Bild ein Zensurenzettel angehängt wurde. All das brav, nur etwas nüchtern; erschreckend nüchtern, wenn es dem Rezensenten beifiel (und das kam oft genug vor), in gereimten Versen zu reden.

War Berlin für die Berliner Zeitungen im allgemeinen eine verbotene Stadt, so fand sich innerhalb ihrer Mauern hinter siebenfachen unübersteigbaren Wällen eine Burg, und das war – die Politik. Kein Wort von Politik in diesen heute vergilbten Blättern! Am 26. November 1822 war Hardenberg, der Staatskanzler, gestorben, eben jener Hardenberg, der einst dem Vorwärtstappen des Volkes vorangeleuchtet hatte und sich nun mit längst erloschener Fackel selbst unter den Wegunkundigen befand, immer aber noch berufener Leiter der preußischen Politik –: die »Vossische Zeitung« brachte am 14. Dezember die Todesnachricht ohne jeden Zusatz nach der Mitteilung der Zeitung von Genua und scheute sich nicht, bald darauf ein in französischer Sprache verfaßtes Gedicht zum Andenken an diesen doch sehr Deutschen zu veröffentlichen, das in die banale Schmeichelei an Friedrich Wilhelm III. ausklang: » Le choix d'un grand ministre est l'éloge des rois.«

Aber dies Berlin der Biedermeierzeit, verschrien wegen seiner Rückständigkeit und dennoch voranschreitend in Arbeitstüchtigkeit, in der Enge weitem Geistesflug Anregung bietend, sah in seinen Mauern, die nicht nur fortbestanden, sondern ausgebaut wurden, eine Geselligkeit, in der Geist spielte, es lehrten an seiner Hochschule Männer – die Brüder Humboldt, die Brüder Grimm, Schleiermacher, Fichte, Schelling, Hegel – die der Nachwelt Lehrer geblieben sind.

Es ist Ruhe in den Straßen und Gassen, Beseeltheit in der bürgerlichen Enge – es ist eine Atmosphäre lebendiger, lichter, protestantischer Geistigkeit über dem Berlin der Biedermeierzeit.

Wien

Die innere Stadt schmiegte sich mit vielfach abschüssigen, sehr engen und gewundenen Gassen um ihren Stephansdom. Überall aber war Blick auf den Kranz der Berge, und die nahe Donau führte, lebendiger Weg, der Ferne zu.

In dieser Enge war Platz für das Barock der Paläste und Kirchen. Es war dem Boden entwachsen und hatte Wucht und Linie aus ihm gesogen. Dieser Fleck Erde und die ihn seit Jahrhunderten besiedelten waren in Ursprung und Geistigkeit eins. Das schwellende Barock wußte von irdischem Glanz und strebte in süchtigen Säulen und Architraven einem glänzenden Himmel zu; seine Kuppel war sein Himmel.

In der Kongreßzeit hatte sich die alte Kaiserstadt in Festlichkeit verjüngt.

Es folgte ein Besinnen, das gesichertes und erdgebundenes Fortschreiten war. Denn nun klomm die Residenz in ihren Vorstädten zu den nahen Bergen auf. Sie setzte sich aus sich heraus im Barock der Vorstadtkirchen den Merk- und Gedenkstein, aber sie baute rundherum das Biedermeierhaus mit der besinnlichen und klaräugigen antikisierenden Fassade und lud Natur ein, es in Garten und Hof mit dem Grün des mütterlichen Bodens zu umspinnen. Und die nähergerückten Berge boten sichernd und schützend, doch auch den Blick aufwärtslenkend, Halt. Ein befriedender Himmel ruhte über Vorstadt und Haus.

Die innere Stadt war in ihre Mauer mit den zwölf Toren eingeschlossen. Sie wies, als Arndt sie 1798 aufsuchte, 50 000 Einwohner, die sich jetzt, etwa zur Kongreßzeit, nur um 3000 vermehrt hatten. Sie war gepflastert und hatte (wenn auch nicht im modernen Sinne) Kanalisation. Die Laternen an eiserner Stange brannten bis 2 Uhr nachts.

Die elf Tore der Vorstadtlinie wurden um 10 Uhr nachts geschlossen, die Vororte umfaßten etwa 5600 Häuser, der Linienumfang betrug vier Meilen, gegen drei zum Schluß des 18. Jahrhunderts, die Gesamteinwohnerzahl hatte bereits 1812 das zweite Hunderttausend überschritten.

Dem Fremden, der nach Wien kam, fiel die Fülle anmutiger und geschmückter Frauen auf, ihn überraschte die kultivierte und gepflegte Kochkunst bei den Traiteuren – Grillparzer freilich glaubte feststellen zu können, daß in dem tagtäglich sehr viel frugaleren Berlin die Gastmähler üppiger seien – der Wagenverkehr mit seinen 650 Fiakern machte einen überaus weltstädtischen Eindruck, auch die 75 Kaffeehäuser muteten als etwas Ungewöhnliches an.

Das Wien der Biedermeierzeit war eine teure Stadt. Während Arndt noch für einen halben Gulden hatte zu Mittag essen können, kostete jetzt die Mahlzeit bei den Traiteuren von 3 Gulden bis zu 8 und 10 Gulden aufwärts, ein Maß Bier 1 Gulden. Die Fiaker, die 1798 eine Taxe von einem halben Gulden für die halbstündige Fahrt gehabt hatten, waren nun an keine Taxe mehr gebunden. Das Krankenhaus hatte seine Gebühren von 1,30 auf 2-5 Gulden heraufgesetzt, ein warmes Bad kam auf 2-3 Gulden. Das Wien der Biedermeierzeit litt unter der Geldentwertung.

Wien war aber wohl auch darin eine der ersten europäischen Städte gewesen, daß es sein Museum im Belvedere bereits im 18. Jahrhundert dreimal wöchentlich dem öffentlichen Besuch freigegeben hatte.

Auch in sozialen Einrichtungen war die Stadt voran. Aus der Erbschaftssteuer wurden Wohltätigkeitsgelder gezogen, die Armenunterstützung hielt sich zwischen 12 und 4 Kreuzern pro Tag. Im Findelhaus wurden Kinder gegen einmalige Zahlung von 20 Gulden aufgenommen, ins Gebärhaus durfte sich das Mädchen, das seiner Stunde entgegensah, verlarvt und unter Verschweigung des Namens begeben. Auch im Zwangsarbeitshaus und in der Korrektionsanstalt wurden die Namen nicht genannt. Wie wenig trotz alledem die sozialen Anschauungen geklärt waren, zeigt, daß es als Fortschritt der Zeit begrüßt wurde, daß Waisenkinder in den Fabriken arbeiten und sich damit Geld verdienen durften! Proletariat bildete sich allerorten, – noch war man sich kaum der heranwachsenden Gefahr bewußt.

Das Wien der Biedermeierzeit war eine Stadt bürgerlicher Regsamkeit, aber das öffentliche und das geistige Leben lag danieder. Gegenwart verleugnete bereits, was Vergangenheit Großes geschaffen hatte. Kaiser Josef II. und was er getan hatte, war zu einem Märchen geworden. Die von ihm aufgehobene Adelsakademie war wiederhergestellt worden. Die Universitätsvorlesungen, die auf sein Geheiß in deutscher Sprache gehalten werden mußten, waren vielfach zum Latein zurückgekehrt. Metternich heilte, versorgte, beglückte mit geistigem Schlaf. Eine ängstliche und in tiefster Bewußtheit sich selbst mißtrauende Regierung bedurfte einer ängstigenden und mißtrauischen Polizei.

Aber es war nun doch, als finge die sanfte Linie der umrahmenden Hügel und Berge jeden Klang aus der Stadt auf und gäbe ihn melodischer zurück. Diese engen Gassen der Stadt, die sanft ansteigenden Wege der Vorstädte waren erfüllt von Musik. In dem Biedermeierzimmer stand bereits der Flügel. Hier erwachte das deutsche Lied. Von hier aus traten Schuberts Notenblätter ihre beglückende Wanderschaft an. Hier schuf in Einsamkeit Beethoven, der große Magus. Mozart schien nur gestorben zu sein, um melodienreicher aufzuerstehen. Das Wien der Biedermeierzeit ist die Stadt der Musik.


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