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Geselligkeit

Ein Tag ist zur Neige gegangen. Und nun erst, und aus seiner, des versunkenen, Glut färben sich die Firne mit dem Rot des Lebens –: so lebt in dieser Zeit zwischen den Revolutionen ein Gefühl sich aus, das die nun abgewandelte Epoche des Humanitätsalters, das das 18. Jahrhundert aus seiner Verstandeskultur und seiner Inbrunst heraus gerufen hatte –: Freundschaft. »Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein.« Man muß dem Wort Freundschaft tiefen und zärtlichen Klang sichern, um es so zu verstehen, wie es dieser Zeit zur Leuchte wird. Etwas Lebenweckendes ist darin. Es birgt den Drang des Jünglings zu Taten und das Werben um den Gleichgesinnten; das Aussprachebedürfnis des Gelehrten; das Nacheifern dem Führer; das Schulter-an-Schulter-Marschieren gegen den Feind; das Wetteifern um den Preis der Kunst; nicht zuletzt das Seelenerahnen der Liebenden, das nachher und weit dahinten Leidenschaft oder Ehe heißen mag. In ihrem Freundschaftsempfinden glutet diese Zeit; aber die Flamme wird auch zugleich dem Alltag und den Bedürfnissen des bürgerlichen Haushalts dienstbar gemacht. Aus dem Freundschaftsempfinden erwächst die Geselligkeit, sie gewinnt daraus Gestalt und Seele, ist gleichsam Frucht aus solcher Blüte.

Man tut gut daran, Schleiermacher zu folgen, wenn er abends mit seiner Laterne ausgeht, die Wohnung der einen oder anderen Befreundeten aufzusuchen, um seinem Geselligkeitsbedürfnis zu genügen. Seine Persönlichkeitsansprüche, seine Art des Verlangens und Gewährens, weisen, was hier kennzeichnet, auf die innere Linie. Schleiermacher nun zieht für eine Zeitlang mit Friedrich Schlegel zusammen, sie führen in aller Behaglichkeit gemeinsamen Haushalt, haben die Tür zwischen ihren Zimmern geöffnet, um zu plaudern, geschlossen, um zu arbeiten, und wenn Schleiermacher gegen 11 Uhr abends nach Hause kommt, findet er Schlegel noch auf, ihm gute Nacht zu sagen. Worauf es ankommt: Schleiermacher bekennt, nie ohne gelehrten Umgang gewesen zu sein. In Schlegel aber hat er den gefunden, der mit ihm »in die tiefsten Abstraktionen hineingeht«; dem er seine philosophischen Ideen rückhaltlos mitteilen kann. Andererseits: Schleiermacher sitzt noch im tiefsten Negligee um 10 Uhr morgens in seinem Zimmer, da stellen sich die Dohnas ein, dann Madame Herz, schließlich Schlegel mit Madame Veit, und plötzlich ist sein Tisch abgeräumt und mit Schokolade und Kuchen besetzt, Geschenke (ein Uhrband, ein Paar Handschuhe, ein Weinglas, ein Fläschchen Parfüm) werden hingestellt, und derart wird sein, des Überraschten, Geburtstag gefeiert. Endlich: Schleiermacher setzt auseinander, daß es durchaus unbedenklich sei, wenn er als junger Geistlicher viel in jüdischen Häusern verkehre, denn »die Zeit, die ich mit ihnen zubringe, ist keineswegs bloß dem Vergnügen gewidmet, sondern trägt unmittelbar zur Vermehrung meiner Kenntnisse und zur Anspornung meines Geistes bei, und ich bin zugleich wieder ihnen auf dieselbe Art nützlich«. Dem nachsinnend, sich ein solches Gehaben in seiner äußeren Gemütlichkeit und inneren Geistigkeit ausmalend, dazu die Luft dieser arbeitsfrohen Kleinstadt Berlin einatmend, meint man die Fäden offen liegen zu sehen, aus denen das Gespinst »Geselligkeit« sich bilden mag.

Innerlich bleibt Freundschaft, recht tief und zärtlich begriffen, Führerin.

Rahel hat im Hinblick auf Freundschaft ihre besondere Anschauung. Auch ihr ist Freundschaft tiefstes Aussprachevermögen. Sie fügt aber hinzu, daß, wenn einer belogen werde, er selbst daran schuld sei. »Verdient einer jedes Zutrauen, so muß er auch noch die Gabe haben, es einzuflößen, es hervorzulocken.« Und sie beschließt die Tagebucheintragung (aus dem Sommer 1825) mit der Notiz, die für sie selbst wie ein Wegweiser dasteht: »Lieben können wir nur den, der dies vermag. Er verbürgt, er verdoppelt unsere Existenz. Tiefstes Bedürfnis aller Geselligkeit. Zweck und Grund der Sprache.«

Das Freundschaftsbedürfnis der Zeit: man weiß von dem Gesandten Napoleons am Berliner Hofe, dem Grafen St. Marsan. Er hatte dem preußischen König Arges von seinem Herrscher mitzuteilen. Aber es war Freundschaft zwischen Friedrich Wilhelm III. und dem Grafen St. Marsan.

 

Dieser Zeit ersteht die Philosophie der Geselligkeit.

Als Grillparzer im Jahre 1826 Goethe in Weimar aufsuchte, sagte der ihm: daß der Mensch nur in Gesellschaft Gleicher oder Ähnlicher wirken könne. Damit ist einem Axiom dieser Epoche der zeitlose Menschheitsausdruck gegeben.

Auf religiösem Gebiet vollzieht sich aus Gefühlsoffenbarung die Klärung des Begriffs, und wieder ist Schleiermacher Lehrer seiner Zeit. In seinen »Reden über die Religion« gelangt er zu klarer Definition der »religiösen Geselligkeit«, die er in Reinheit abzugrenzen bestrebt ist, die er in Novalisschem Geiste erfaßt, der er Wort gibt in dem tiefen Erkenntnissatz: »Die Religion haßt die Einsamkeit.« Aus dem er alle Folgerungen für den einzelnen wie für die Gemeinschaft zieht: »So kann auch ein religiöser Mensch zu seinem Einzelleben nicht gelangen, er wohne denn durch diese selbe Handlung sich auch ein in ein Gemeinleben, also in irgendeine bestimmte Form der Religion.« Höchste Toleranz wird damit zu stärkster Bindung. Zugleich wandelt sich das protestantische Predigt- und Bethaus in – Kirche. Keinem Geringeren als Wilhelm v. Humboldt war diese Schleiermachersche Anschauung Überzeugung und Wirkensziel geworden, als ihm, dem Unreligiösen, Friedrich Wilhelm III. im Frühling 1809 die Leitung des Unterrichtswesens übertrug.

Aber Schleiermacher drang noch tiefer. In eben diesen »Reden über die Religion« weiß er bereits um den »magischen Kreis« herrschender Meinungen und verbreiteter Gefühlsstimmungen, der wie Atmosphäre unter dem Zeithimmel liege und aus sich heraus den einzelnen atmosphärisch beeindrucke und Kräfte in ihm wecke. »In diesem Zusammenhang alles einzelnen mit der Sphäre, der es angehört und in der es Bedeutung hat, ist alles gut und göttlich, und eine Fülle von Freude und Ruhe das Gefühl dessen, der nur in dieser großen Verbindung alles auf sich wirken läßt.«

Der Mensch wäre nicht, was er ist, hätten sich nicht eben damals orthodoxe und reaktionäre Kreise in Breslau und Berlin zu einer üblen Abart »religiöser Geselligkeit« zusammengeschlossen, die Fratze zu Schleiermachers Erkenntnisbild war, und in der Friedrich Wilhelm IV., damals noch Kronprinz, die verhängnisvollen kirchlichen und politischen Eindrücke in sich aufnehmen sollte.

Schleiermachers »Reden über die Religion« aber drangen wirklich in Herz und Nieren der »Gebildeten unter ihren Verächtern«, oder er hatte einem dumpfen Zeitempfinden das erlösende Wort gesprochen. Auch Bettina weiß es: »Der wahre Geist ist nicht allein, er ist mit den Geistern – so wie er ausstrahlt, so strahlt es ihn wider, seine Erzeugnisse sind Geister, die ihn wieder erzeugen.« Und Brentano führt alle kühnen Taten großer Menschen auf ein unwillkürliches, aber ganz naturgemäßes Mitwirken der Gesamtheit zurück.

Es ist Sonnabend abend und Geselligkeit in der guten Stube der Rahel. Schleiermacher hat sich aus dem Kreis gelöst, ist an den Ofen getreten. Er hat die morgige Predigt noch kaum überdacht. So aber, an den Ofen gelehnt, die geistig Erregten sehend, doch kaum beachtend, das Geschwirr der Worte hörend, nicht unterscheidend, fluten Gedanken auf ihn ein. Es ist gleichsam Gewitter in seiner Atmosphäre. Er ist ganz sich selber hingegeben und hat doch greifbar Anteil an einer Gemeinschaft. Ein Geheimnis geistiger Befruchtung wird hier bereits zu praktischer Verwertung gebracht.

 

Schon im Jahre 1798, als er in Wien weilte, hatte Arndt Blick dafür, daß die Polizei hier die Geistigkeit unterdrücke. Man wage es nicht, über Politik, Religion, Philosophie zu sprechen, und was andernorts Alltagsrede sei, werde zu einem » grand mot à Vienne«. Unter solchen Umständen könne Geselligkeit nicht gedeihen, man flüchte die eigene Geistigkeit ins Schauspiel oder in die Oper. Demgemäß wird Wien in diesen Zeitläuften wirklich die Stadt der Bühnen und der Feste.

Über Berlin aber war eben damals Atmosphäre. Es war der Zusammenprall zwischen Rationalismus und Romantik – nicht etwa nur im literarischen Sinn, auch in weltanschaulicher, auch in gemüthafter Tiefdeutung der Worte –, und dies eben war es, was geistiges Fluidum schuf. Wie solche Gegensätzlichkeit sich in einer Persönlichkeit auswirkte, dafür ist Ludwig Tieck, der Berliner, lebendiger und unvergeßbarer Zeuge.

Es war aber auch Zusammenprall der Gesellschaftsschichten, die Vorrechte des Adels waren erschüttert, bestanden aber in der Erschütterung fort, mit ererbtem Stolz trat die neuerwachte Verbrüderungssehnsucht, mit angestammter Haltung neuerworbene Bildung in Widerstreit. Es ist gut zu vergegenwärtigen, daß noch zu Ausgang des 18. Jahrhunderts ein Adliger, der eine Bürgerliche heiratete, seiner Standesvorteile verlustig ging; daß bürgerliche Offiziere an manchen Höfen strammstehn mußten, während ihre adligen Kameraden saßen; in Berlin eine bürgerliche Dame von einer Gräfin zum mindesten durch sechs Stühle getrennt sein mußte; Adlige nur mit Adligen tanzen durften, die Bürgerlichen aber zum Zusehn zugelassen waren; wieder andererorten in den Theatern den Bürgerlichen nur die letzten Sitzplätze zugängig waren oder sie stehend abwarten mußten, bis der Adel Platz genommen hatte; daß noch um 1840 bei den mecklenburgischen Landtagsständen die roten Röcke der Adelsvertreter den bürgerlichen Abgeordneten versagt waren; daß die während der Franzosenzeit am Karlsruher Hofe zugelassenen Bürgerlichen nach den Freiheitskriegen wieder ausgeschlossen wurden; daß Uhland sich um 1818 weigern mußte, sich mit Varnhagen öffentlich in einer Theaterloge zu zeigen, weil die ersten Plätze noch immer gewohnheitsgemäß dem Adel vorbehalten waren. Überall Zusammenprall; in kühner Nichtachtung der Vorurteile Abenteuer; im Austausch der Lebenserfahrungen Gewinn.

Eigenartig genug, wie die Berliner Geselligkeit ins Leben fand.

Es war der Hofrat Bauer – ich folge hier meiner Darstellung in »Die gute Stube. Berliner Geselligkeit im 19. Jahrhundert« (Wien 1922, Rikola-Verlag) –, der als Kastellan im Königlichen Schloß eine Wohnung innehatte, in dessen guter Stube man zusammenkam, ein Buch gemeinsam zu lesen, Verständnis zu suchen und Kritik zu üben; ein Mann also, subalterner Beamter, doch von den angesehensten einer; gut bürgerlich, aber mit dem Vorbild der Hofgesellschaft vor Augen; genügend beeinflußt, den leichten geselligen Ton bei sich zu pflegen, selbstbewußt genug, seinen eigenen geistigen Bedürfnissen nachzugehen. Um den Tisch seiner guten Stube sitzen die Dichter Engel und Ramler; Moritz und Marcus Herz nebst seiner schönen, jungen Frau, der Henriette; die noch sehr jungen Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt – und Marcus Herz, der Verstandesklare, scheint eben den Finger auf eine Stelle in dem aufgeschlagenen Buch zu legen, um mit einiger Schärfe darzutun, daß er solche neuzeitliche Verschwommenheit nicht verstehe –: das Lesekränzchen der Berliner Aufklärungszeit.

Diese selbe Jugend aber – zu Henriette Herz, den Brüdern Humboldt traten Dorothea Veit, Karl von Laroche und auswärtige Freunde – hatte sich in noch anderer Weise, brüderlicher, zusammengefunden und einen »Tugendbund« gegründet. Schwärmerische Freundschaft einte die Bundesglieder, Seelenenthüllung war Recht und Pflicht, man nahte einander mit dem brüderlichen »Du« und dem priesterlichen Kuß und überließ sich, freilich unbewußt, Gefühlsirrungen, die die Gefühle süchtiger aufblühen ließen –: die Geheimloge der Romantik.

Schon hier das Ineinander von Rationalismus und Romantik, das Durcheinander gesellschaftlicher Schichten.

In Henriette Herz trat Persönlichkeit in die Berliner Geselligkeit führend ein.

Henriette Herz: als halbes Kind war sie die Frau des sehr viel älteren Mannes geworden, des durch seine originellen Kuren bekannten Dr. Marcus Herz, und hatte mit ihm die Wohnung in der Neuen Friedrichstraße nahe der Königstraße bezogen.

Die Berliner nannten sie die »tragische Muse«. Das aber galt wohl nur der sehr hohen und schlanken Figur, bei deren Ausmaß der Kopf verhältnismäßig klein erschien. Innerlich hatte die Freundliche, bei aller, vielleicht betonten Haltung, wenig von einer tragischen Muse. Ein anmutiges Lächeln belebte die Züge des als klassisch gepriesenen Profils.

In dieser guten Stube der Wohnung in der Neuen Friedrichstraße blühte die Berliner Geselligkeit auf. Schleiermacher kam fast allabendlich mit seiner Laterne und fühlte sich bei Herzens wie zu Hause. Vertreter einer älteren Schriftstellergeneration, die Ramler, Engel, Moritz begegneten sich mit den Brüdern Humboldt und den jungen Wortführern der Romantik, Friedrich Schlegel, Gentz und Jean Paul; Fichte und Börne waren hier zu Gaste. Junge Abkömmlinge alter Adelsfamilien, ausgesprochen gesellschaftliche Talente, Graf Christian Bernstorff und Herr v. Brinkmann trugen zur Belebung der Unterhaltung bei. Die Musik schien in Reichardt, die Bildhauerkunst in Schadow würdig verkörpert zu sein.

Hier lernte Schleiermacher Friedrich Schlegel kennen, hier Friedrich Schlegel Dorothea Veit, hier Varnhagen Rahel. Lebens- und Schicksalsbindungen – und eine Frau knüpfte die Fäden.

Wer diese Frau zutiefst in ihrem Wesen war? Vielleicht die Vielbegehrte, die sich niemals hingab; eine Blume in knospenhafter Verschlossenheit; ein unerfüllbares Versprechen. In den zarten Reizen vergeistigter Sinnlichkeit lebt diese Geselligkeit auf.

Aber diese Frau verstand es auch, die geistig-sittlichen Errungenschaften des 18. Jahrhunderts für ihren kleinen Kreis fruchtbar zu machen. Was von ihr ausstrahlte, was diese Schlichtbürgerlichen und jene durch ihre Stellung Bevorzugten, diese sehr Jungen und jene Gealterten, diese Heißsporne und jene ängstlich Rückwärtsgewandten zu geselligem Einvernehmen führte, das hat eine Nachgeborene bei Namen gerufen und auf: »Wohlwollen und Duldsamkeit« getauft.

In der guten Stube der Frau Henriette Herz ereignete sich folgender Vorfall: Der brave Marcus Herz las seiner Frau eine Stelle aus den eben veröffentlichten Fragmenten des Novalis vor und meinte: »Verstehst du das?« Um alsbald hinzuzufügen: »Das wird das Männchen wohl selber nicht verstanden haben.« Warum brachen Friedrich Schlegel oder Schleiermacher, wenn solche Bemerkungen der älteren Generation an ihre Ohren schlugen, nicht in ein überlegenes Lachen aus? Ganz wie die Älteren war diese Jugend durch die gleiche Tür eingegangen: »Wohlwollen und Duldsamkeit.« –

In Rahel Levin ward dieser jungen Berliner Geselligkeit die Offenbarung des Geistes.

Grillparzer hat in seiner Selbstbiographie geschildert, wie er eines Tages während seines Berliner Aufenthalts nach mancherlei anregenden und abspannenden Unterhaltungen, »zum Sterben müde«, noch spät von Varnhagen mitgenommen worden sei, um Rahel vorgestellt zu werden. Es heißt da wörtlich: »Nun fing aber die alternde, vielleicht nie hübsche, von Krankheit zusammengekrümmte, etwas einer Fee, um nicht zu sagen Hexe ähnliche Frau zu sprechen an, und ich war bezaubert. Meine Müdigkeit verflog, oder machte vielmehr einer Art Trunkenheit Platz. Sie sprach und sprach bis gegen Mitternacht, und ich weiß nicht mehr, haben sie mich fortgetrieben oder ging ich von selbst fort. Ich habe nie in meinem Leben interessanter und besser reden gehört.«

Rahel Levin war eine Natur und darüber hinaus Geselligkeitsgenie. Es saß ihr im Blute. Es war ihr Lebensgrundsatz, daß gesunde Seelen nur durch Menschen erfrischt werden können; Einsamkeit verursachte ihr Kerkerangst. Sie war gelegentlich darauf angewiesen, zu bitten, ihr geschriebenes Wort als gesprochenes hinzunehmen. Gesellschaft bedeutete für sie den »sich bewußten, behaglichen Verein im Genuß und Weiterbringen alles menschlich schon Geleisteten«. Es reichte bei ihr bis in die Tiefen des Unterbewußtseins, und wenn sie gelegentlich von ihrem Verlobten träumt, von dem sie sich lösen mußte, an dem sie aber offenbar stärker, als sie es sich eingestehen möchte, innerlich hängt, vergegenwärtigt ihr der Traum den Zwist mit ihm als einen Gesellschaftsauftritt. Sie war Geselligkeitsgenie.

Im wesentlichen waren es dieselben Besucher, die sich bei Rahel, in der Jägerstraße, der Seehandlung gegenüber, einfanden, dieselben, die auch bei Henriette Herz verkehrten. Nur daß die Älteren diesen Weg nun doch schon schwerer fanden, und daß sich der Kreis der Jüngeren erweitert hatte: die beiden Tieck, der Dichter und der Bildhauer, Heinrich Heine, Hegel, Ranke, Fouqué nebst Gemahlin, Arnim und Bettina waren hier oft zu Gast. Der adlige Teil der Gesellschaft hatte in bemerkenswerter Weise Verstärkung erfahren; zu oft gesehenen Gästen gehörten neben Brinkmann und den Brüdern Humboldt Burgsdorff, der Fürst von Ligne, der Fürst Reuß und – der gleichsam sein eigenes Wetter mitbrachte oder sich selber Wettermacher war – Prinz Louis Ferdinand, der sie »Kleine« oder »Levi« oder »Rahel«, vor den Leuten »Mlle Levi« nannte; der sie dicht an seine Seite rücken hieß, wenn er zu komponieren versuchte oder phantasierte; der von ihr, und sei es nur der bedeutsam Schweigenden, Belehrung annahm; der ihr Herzensangelegenheiten beichtete und es kein Arg hatte, ob sie selber unempfindlich gegen Liebe sei?

Im wesentlichen dieselben Besucher wie bei Henriette Herz – aber waren sie dieselben geblieben, wenn sie sich an Rahels Tisch zusammenfanden?

Schön ist Rahel nicht gewesen. Sie träumte Kleider und zog sich selbst auffallend schlecht an. Die Fülle des schwarzen Haares spottete des Kammes. Die Figur, in ihren jungen Jahren schlank und voll, scheint frühzeitig rundlich geworden zu sein. Aber an dieser Stirn hafteten die Blicke der mit ihr Sprechenden. Und es stimmt nachdenklich, wenn man von ihren blauen Augen und dann wieder von ihren dunklen Blicken liest. Sehr wahrscheinlich, daß trotz ihres Mangels an Schönheit sinnlich wärmende Beglückung von ihr ausging.

Man saß um diesen Teetisch und war für die flüchtigen Stunden einer improvisierten Geselligkeit duldsamer, kenntnisreicher, witziger, als man im Alltag war.

Durch das Geschwirr der durcheinander Redenden klang eine sehr weiche und melodische Stimme, in der Seele war. Rahels Unterhaltung war witzig und blendend und überströmend und glitzernd in kecken Vergleichen; sie hakte in den Kern der Dinge ein. Sie war wesentlich.

Ihre Unterhaltung konnte auch Schweigen sein.

Man hört Goethes Wort aus der Ferne herüberklingen: »Rahel urteilt nicht, sie hat den Gegenstand.«

Rahel steht neben Jean Paul, sie sind beide ans Fenster getreten. Rahel sagt: »Ich begreife es gar nicht; ich reise in acht Tagen; und seit ich meiner Reise (nach Paris) gewiß bin, werden mir all die bekanntesten Gegenstände fremd; ich erkenne die Ecke drüben nicht mehr; sie ist mir wie die fremdste Straße.« Sie selbst wundert sich nachher, daß Jean Paul daraufhin ihre reiche Phantasie gepriesen habe.

Rahel ist mit Heine zusammen, das Gespräch ist auf eine neu aufgetauchte literarische Erscheinung, den Doktor Börne, gekommen. Rahel sagt: »Börne kann nicht schreiben; ebensowenig wie ich oder Jean Paul.« Es spielt dabei ein Lächeln um ihre Lippen, Heine nennt es »jenes wohlbekannte, rätselhaft wehmütige, vernunftvoll mystische Lächeln«, das der Empfehlung – denn so empfiehlt Rahel – Gewicht gibt.

Sie hat die Forderung aufgestellt (und erfüllt): »Man muß aus dem Zentrum sprechen«, und dann wieder in ihrer Weise geklagt: »Es ist dumm und ehrwürdig von mir, daß ich mit allen Menschen gründlich spreche. Ich sehe es ein.«

Sie hat sich Salz und Quirl der Geselligkeit genannt und – Bequemlichkeitsrat.

Es ist in Rahels Stube. Das Gespräch der Herren ist schlüpfrig geworden, da ertönt Rahels Stimme, und vielleicht ist diesmal ein erregter Klang darin: »Ich weiß auch Saugeschichten« –. Und das Gespräch bricht ab.

Es ist in Rahels Stube. Prinz Louis Ferdinand ist heftiger geworden und hat über Goethe schwadroniert. Das sei ein unheldischer Held, der Egmont. Rahel schweigt. Und aus dem Schweigen der Rahel kommt es Prinz Louis Ferdinand zu Bewußtsein, daß er Törichtes geredet hat.

Ihre Unterhaltung war auch Schweigen. Immer aber, redend oder schweigend, hatte sie etwas zu verteidigen, etwas, das ihr innerlich Besitz war. Nichts aber, das ihr heiliger gewesen wäre, nichts, wozu sie sich inbrünstiger aus Wesenstiefen bekannt hätte, als: Goethe. Die Flamme, die da irgendwie immer flackerte, brannte Goethe zu Preis.

Das ist Rahel, und ihr Name bedeutet die Vermählung der Berliner Geselligkeit mit Geist.

Nur daß auch Rahel, obwohl sie Natur war, Tribut zu zahlen hatte. Ein doppelter Prozeß vollzieht sich: Rahel selbst verfällt der Routine, der Kulturboden, der ihre Geselligkeit trägt, verarmt.

Varnhagen, damals preußischer Gesandter in Karlsruhe und nunmehr mit Rahel vermählt, kann nicht umhin, zu beobachten, daß die Anteilnahme an geistigen Interessen ganz allgemein geschwunden sei, und daß sich zugleich die Standesunterschiede erneut mit merklichem Nachdruck geltend machen. Es ist das die Nachwirkung der Freiheitskriege, aus denen der Adel sozial gestärkt, die Vertreter geistigen Lebens in Adel und Bürgertum einigermaßen ermüdet hervorgegangen waren, eine Tatsache, die sich bereits bei Betrachtung der Abfolge der Generationen aufgedrängt hatte.

Auch ist Rahel selbst, nach Berlin zurückgekehrt, eine andere geworden. Einer Pythia, die auf dem Dreifuß sitzt, Lorbeerblätter kaut und orakelt, durfte eine späte Besucherin die Gealterte vergleichen.

Was freies und unangemeldetes Kommen und Gehen zu allen Tagesstunden gewesen war (Ludwig Tieck hatte am liebsten nach dem Theater die Jägerstraßenwohnung aufgesucht), hatte sich in eine gesellschaftliche Institution verwandelt. In den Apriltagen des Jahres 1828 schreibt Rahel an die Fürstin von Carolath, und man hört den Stoßseufzer herausklingen: »Ich habe übermorgen zweiunddreißig Personen zum Tee und heute schon Domestiken, möchte ich sagen. Weshalb, fragen Sie: weshalb, frag' ich; ich muß.« Es waren aber unter den Besuchern, nunmehr Eingeladenen, die Träger der Namen, nach denen die Nachwelt fragt, spärlicher, die der anderen, welche die Mitwelt mit bewunderndem Klang in der Stimme nennt, um so zahlreicher geworden.

Aus dieser Berliner Geselligkeit der gealterten Rahel entwickelte sich der »ästhetische Tee«. Der Dilettant liest seine Gedichte vor; das junge Mädchen singt; auf dem Tisch liegt (seit 1818) das Konversationslexikon – eine Zurschaustellung der Toiletten, der gesellschaftlichen Beziehungen und der Bildungsansprüche, bei der, einem Gedicht Ludwig Roberts, des Bruders der Rahel, zufolge, nur die Domestiken gewinnen; denn – sie streichen das Trinkgeld ein.

Wohl hat Varnhagen selbst auch nach dem Tode der Frau, die ihm allen seelischen wie gesellschaftlichen Glanz seines Lebens bedeutete (1833), noch Haus gehalten und die Wohnung Mauerstraße 36 zu einem Asyl geistiger Geselligkeit gemacht; aber es war nun kaum noch freies Spiel von Rede zu Gegenspruch, es war bewußte Flucht aus politischen Verhältnissen, die auf der Mehrzahl dieser Besucher niederdrückend lasteten, in Literatur und Kunst hinein. In diesem Kreise lebte die hämische Anekdote auf, ein Gift, mit dem sich die Geistigkeit immun zu machen suchte gegen die Gifte der Zeit.

Dieser Varnhagen selbst: Die Verkörperung der Gedanklichkeit in einer dem Alltag verfallenden Reaktionsperiode, überfruchtbar, vielleicht aus Mangel an Schöpferkraft, scheelsüchtig, wahrscheinlich aus abgewiesener Dienstbereitschaft – in alledem einer tiefen Inbrunst (sie hieß ihm: Rahel), einer ungewandelten Treue fähig, den oberflächlichen Besuchern ein Charakterloser, dem tiefer Blickenden – ein Mensch. Nur eben einer von denen, die dahingehn und lassen keinen Erben.

Dabei muß es geradezu augenfällig gewesen sein, wie diese Berliner Geselligkeit – holde Blüte auf kargem Boden, aber befruchtet durch eifrige Honigsammlerinnen – an den politischen Verhältnissen erstarb. Alexander von Sternberg hat das in seinen Denkwürdigkeiten geschildert: wie die allgemeine Unterhaltung zu stocken begann; wie die kleinen Gespräche in den Fensternischen aufkamen; wie man zu zweit oder dritt flüsterte. Einem atmosphärischen Druck vergleichbar, der dem Enthusiasmus einen falschen Ton gab, die Nachdenklichen schweigsam, die Ruhigen unruhig machte. Das Herannahen der neuen Revolution tötete mit der Kultur auch das Geselligkeitsleben der Epoche zwischen den zwei Revolutionen.

In jener Zeit aber, da die Berliner Geselligkeit aus eignem Geist aufgeblüht war, hatte sie noch Kraft gesogen aus anderer Sphäre – der Musik. Es ist wie Symbol der Entwicklung, daß in dieser Zeit die Harfe durch das Klavier verdrängt wurde.

Der Stadtrat Mendelssohn, derselbe, der mit einem bitteren Scherzwort von sich zu sagen pflegte, er sei solange der Sohn seines Vaters gewesen, bis er nun der Vater seines Sohnes geworden sei, hatte das Haus Leipziger Str. 3 gekauft. Dieser Hauskauf wurde zu einer Fügung für die Geselligkeit Alt-Berlins.

Hinter dem Straßengebäude der Park, am Ende des Parks das Gartenhaus mit seinen von Weinlaub umrankten Scheiben: in diesem Gartenhaus war ein großer Saal, dessen Decke eine flache Kuppel bildete, die mit barocken, phantastischen Freskogemälden geschmückt war. Die Glaswände nach dem Garten hin waren durch leichtes Zurückschieben zu entfernen: Hier fanden die für Berlins geistiges Leben so bedeutungsvollen »Sonntagskonzerte« statt.

In Felix Mendelssohn, der hier den Dirigentenstab führt, scheint eine neue Jugend verkörpert zu sein. Unvergessen der Besuch bei Goethe, – aber man schwärmt für Jean Paul. Shakespeare, unlängst in der Schlegelschen Übersetzung erschienen, wird von dieser Jugend leidenschaftlich neu erlebt. Schwager Hensel, der Maler, der sein Atelier im Gartenhaus hat, rückt die Bestrebungen der Nazarener nahe. Und dieser Jugend wohnt noch einmal die Kraft inne, aus ihrem Überschwang heraus – der Park hinter dem Hause Leipziger Straße scheint in nicht endendem Frühlingsflor zu stehen – die papiernen Scheidewände, die man gerade damals zu ziehen bemüht war, umzublasen. Felix Mendelssohn-Bartholdy führt bei diesen Sonntagskonzerten den Dirigentenstab, und unter seinen Zuhörern findet sich der alte Zelter, aber auch Paganini, C. M. von Weber, auch Madame Spontini, auch der Komponist der »Undine«, E. T. A. Hoffmann, in späteren Jahren auch Liszt. Und hier wird wohl zum erstenmal Musik, auch über ihre engere Sphäre hinaus, Geselligkeitsband. Felix Mendelssohn-Bartholdy führt den Dirigentenstab, und es fehlt kaum einer aus dem geistigen Berlin der Zeit. Auch den Humboldt und Hegel, den Heine und Varnhagen, den Fouqué und Tieck, den Grimm und Ranke, den Rauch und Schinkel öffnet sich hier die Tür.

Man wird zu erwägen haben, ob es Zufall oder nicht vielmehr inneres Wesensgebot der Zeit war, wenn Geistigkeit und Musikalität den Bund eingingen, der zunächst und vorerst freilich nur äußerlich im geselligen Leben Gesicht gewann.

 

Als sich Humboldt im Frühjahr 1809 des preußischen Unterrichtswesens anzunehmen begann, war es sein erstes, sich mit Zelter in Verbindung zu setzen, um die Musikpflege volkstümlich zu gestalten. Der Unmusikalische, aber für das Zeitempfinden Hellhörige, Instinktbegabte, war sich klar darüber, daß in diesen nordischen Breiten allein Musik das Wunder der Kunst wirken könne, daß aber auch Musik aus der Einzelhaft der Seelen, aus der Stubenluft der Geselligkeit entlassen werden müsse, um ihrerseits am Volksganzen zu erstarken.

Wien war eben damals die Hochburg der Musik. Es ist nicht zum geringen Teil dem Humboldtschen Mühen zu danken, wenn Berlin in dieser Zeit bis tief in seine Bürgerhäuser hinein, aber auch bis in die Werkstätten und Armeleutewohnungen, die Stadt der Musikalität wurde. Durch Zelter wurde die Singakademie zu einer bürgerlichen Angelegenheit; zu einem Brennpunkt künstlerischen und damit auch geistigen Lebens; Schule und Feststätte zugleich. Des gesungenen Liedes froh, konnten die preußischen Truppen in die Freiheitskriege ziehen, die Lützowsche Freischar besaß ihren geschulten Sängerchor, die Anregungen des Schweizers Nägeli (1817) ließen auch nach Friedensschluß das Mühen um den Männergesang weiter erstarken. Die Berliner Aufführung des »Freischütz« gab der Jugend ein neues Lied in die Kehle, der Streit der Anhänger Webers mit denen Spontinis wurde beinahe zu politischer Angelegenheit in Politik erdrosselnden Jahresläuften. Die erste Aufführung der Matthäuspassion in der Berliner Singakademie am 11. März 1829 durch Felix Mendelssohn-Bartholdy bezeichnet den Höhepunkt der Entwicklung. Nicht sowohl deshalb, weil hier in dem damals kleinen Berlin Tausende vergeblich um Zutritt geworben hatten, sondern weil der Zeit ein ihrem eigenen Innenleben entsprechendes, zugleich höchstes Ziel gewiesen, dem religiösen Empfinden der vollendet künstlerische und doch in gewisser Weise auch volkstümliche Ausdruck verliehen wurde, und dieser Ausdruck der protestantische war.

Die große Händel-Aufführung des Jahres 1834 in Wien wies die Kaiserstadt nur auf ihre eigene Vergangenheit zurück. In der Berliner Bachaufführung war Weckruf und Zukunft.

Es fällt auf, wie oft in Gemälden der Zeit das Motiv geselligen Beisammenseins festgehalten wird, das an Musikgenuß gebunden ist und darin seelische Ausdruckskraft gewinnt. Es ist, als hätte sich den Malern der Epoche darin die Blüte der Geselligkeit, aber auch die weltliche Andacht ihrer Zeitgenossen offenbart.

 

Die Berliner Geselligkeit hatte sich kaum selber geistig Physiognomie gegeben, als ihr bereits die Fronde erwuchs. Die tagte zu nächtlicher Stunde, wenn der Bürger schlafen gegangen war. Sie bekannte sich den Teegenüßlern gegenüber zu scharfem Trunk, uzte statt zu hofieren, sprach allen gesellschaftlichen Gepflogenheiten Hohn. Sie residierte in einem Berlin des Spuks und hatte mit den Kobolden der Romantik Verkehr. Es war die Tafelrunde bei Lutter & Wegner, und E. T. A. Hoffmann und Ludwig Devrient hatten hier ihr Feldlager aufgeschlagen.

Krieg war die Losung. Krieg dem Bürger, der es nicht vertrug, wenn ihm ein kosmischer Wind um die Nase wehte. Krieg dem Beamten- und Polizeistaat, aber auch Fehde aller Politik. Krieg vor allem der Afterkunst, wie sie sich in den ästhetischen Teegesellschaften klimpernd, singend, deklamierend ans Kerzenlicht wagte. Hier sollte wahrer Kunst nicht sowohl Altar als Tribunal errichtet sein. Hier wurde Recht gesprochen im Namen der Kunst. Hier wurde das Verdikt zu lebenslänglicher Makulatur-Verdammnis verhängt.

Schon die Wahl des Standquartiers war bezeichnend. Das Schauspielhaus, recht eigentlich die Kunststätte der Stadt, hatte man in unmittelbarem Feuerbereich. Glühende Kohlen eines dort angefachten Enthusiasmus ließen sich in offener Schale herübertragen. Ärgernisse, die man dort erfahren, konnten hier unmittelbar zum Austrag kommen. Gruß dem, der sich als Gleichgesinnter ausweisen konnte, und sei er, wer er sei: offene Wirtstafel. Ein Holdrio aber dem Banausen und Pseudokünstler, und jedes Mittel recht, ihn zu scheuchen: Wachtposten hinter Sektflaschen.

Im Namen der Kunst. Hier wurde zum erstenmal Kunst als ein dem bürgerlichen Leben feindliches Element erfaßt und gelebt.

Im Namen der Kunst. Hier wurde bewußt und mit aller Energie um die Wirklichkeit des Tages und der Stadt der lichte, Wirklichkeit überhellende Horizont der künstlerischen Wahrheit gelegt. Hier wurde »Spiel« im tiefen Sinn begriffen.

Es geschah zuweilen, wie damals, als es den Bassisten Fischer zu ächten galt, daß von hier aus Truppen ins nahe Schauspielhaus abkommandiert wurden, die es verstanden, das gutbürgerliche Publikum zum Schergen des hier gefällten Verdikts zu machen. Bemerkenswert: auch hier war Musik das eigentliche Kampfobjekt. Und es ist wie ein Witz der Zeitgeschichte, daß im Jahre 1841, als beide, Hoffmann und Devrient, längst zu einem Erinnerungsspuk geworden waren, ein Theaterlärm sich gegen Spontini erhob und die Aufführung vereitelte, bei dem – Varnhagen berichtet's – preußische Polizeibeamte an der Kabale teil hatten. Das war das Ende der Fronde, und die preußische Polizei trat die Erbschaft an. Ein Polizeikommissarius im Parterre rief voll Grimm: »Ja, er muß hinaus, der Hund; er hat den König beleidigt.« So angekündigt, nahte – die andere Revolution.

 

Der lebendigen Geselligkeit des Tages gegenüber verhält sich das Fest immer einigermaßen wie die Konserve zum frischen Obst: es bedarf des Süßstoffs der Konvention und trägt den Beigeschmack der Absichtlichkeit. Doch spiegeln in dieser Zeit auch die Feste die Entwicklung.

Schadow berichtet gelegentlich von den Berliner Festlichkeiten vor der Schlacht von Jena, den Konzerten beim Staatsminister von Schroedter, dem Theater und den Tableaux vivants beim Fürsten Radziwill, rühmt Glanz und Annehmlichkeit, bemerkt, daß jene Feste, an denen die »über allen Ausdruck erhabene Königin Allerhöchst« teilnahm, an Herrlichkeit alle andern übertrafen, und vergißt nicht hinzuzufügen, daß »die Zuhörer Vornehme und Bürgerliche waren«. Später, auf den Festen während und kurz nach den Freiheitskriegen, erlebt man sehr merklich die ethische Umstellung mit, die die Kriegszeit heraufführte. Es ist Diner bei dem damals russischen General Tettenborn, ein kleiner aufgegriffener französischer Knabe singt zum Schluß der Mahlzeit, die Gäste zu ergötzen, frivole, pikante Lieder. Den Freiherrn vom Stein empört's: man hätte den Jungen lieber mit all den anderen erfrieren lassen sollen, als ihn zur Verderbnis seiner Seele zu solchen Künsten abzurichten. Und wieder ist es der Freiherr vom Stein, der bei festlichem Mahl die Leviten liest, diesmal keinem Geringeren als Goethes Freunde, dem Herzog von Weimar, der in Anwesenheit junger Offiziere gewagt hatte, den Freiherrn auf seine Erfahrungen mit Frauen anzusprechen. Schon verstand der Tag von heute den von gestern nicht mehr.

Das Fest greift auf Vergangenheit zurück. Recht eigentlich von der bildenden Kunst hatten die Festlichkeiten des abgelaufenen 18. Jahrhunderts Glanz und Anmut geborgt, – das wirkte fort. Man stellte Tableaux vivants, wie es Goethe in den »Wahlverwandtschaften«, das Bild ins Leben einbeziehend, geschildert hat, und manchmal ereignete es sich auch bei diesen Wirklichkeitsfesten, daß etwas aus dem Bild ins Leben sprang –: man denkt an das »Lalla-Rookh«-Fest und an die unglückliche Liebe des Prinzen Wilhelm zur Prinzeß Radziwill, die hier aufkeimte. All diese Berliner Feste, das ebengenannte wie das der »Weißen Rose«, die »Weihe des Eros Uranios«, das »Hoffest in Ferrara«, standen selbstverständlich mit literarischen und künstlerischen Moderichtungen des Tages in Zusammenhang und wiesen ihrem Wesen nach doch in vergangene Jahrzehnte zurück. Sie traten ihre eigentliche Sendung erst an, wenn sie, wie üblich, in zarten Tragantfiguren nachgebildet, in den Auslagen der Zuckerbäcker Auferstehung feierten und derart, eingeschrumpft und süßlich, zum Bürgertum sprachen. Der Berliner Schusterjunge war's, der dann die Zeitung dazu lästerte.

Daneben die Feste, die sich das Bürgertum gab, und die schon kraft ihrer neuen Gemeinschaft etwas vom Atem der Zeit in sich tragen mußten. Man denkt an das Dürer- und das Naturforscherfest des Jahres 1828, und hier lag die Gefahr, den Zuckerbäckern zu verfallen, nicht mehr vor. Das bürgerliche Fest hat gesund stofflichen Gehalt. Viel charakteristischer, geradezu zeitdeutend, aber erscheint ein anderes: hier hält man sich nicht mehr an die bildenden Künste, man ruft, und das entspricht dem inneren Zeitgebot, die Musik. Zu beiden Festen hatte Felix Mendelssohn-Bartholdy hier wie dort die einleitende Kantate zu setzen. Es sind weiterhin Mendelssohns rheinische Musikfeste, die dem Zeitverlangen recht sichtbarlich entsprechen und jene Stimmung in sich tragen, die nur das Heut dem Heute zu verleihen vermag.

Demgegenüber: Wien war damals, und zumal zur Kongreßzeit, im ausgesprochenen Sinn die Stadt der Feste. Die Wiener Festlichkeiten aber zehrten in ihrem Glanz und in ihrer Pracht derart vom Überkommenen, daß ihnen die eigentliche Zeitphysiognomie abgeht, es sei denn, man vergegenwärtige sich bei einem Wiener Diner des Fürsten Hardenberg den wackeren Jahn, wie Rahel ihn schildert, mit krottierten Stiefeln, einer Mütze, im alten Überrock und ohne Halstuch. »Er saß ganz unten.« Doch waren Humboldt und Radziwill und alle »sehr gut mit ihm«.

Den Wiener Praterfestlichkeiten entsprach in gewisser Weise das Fest des Stralauer Fischzugs in Berlin. Daran nahm (1806) König Friedrich Wilhelm III. mit Königin Luise, im kleinen Nachen die Spree befahrend, teil. Ganz patriarchalisch: der König unter den Seinen, und jedermann aus dem Volk ist zugelassen. Man vergleiche damit die späteren Subskriptionsbälle, und es ist, als stünde ein Stück Zeitgeschichte an die Wand geschrieben. Die Patriarchalität ist gleichsam auf die Bühne gesetzt und kostet Einlaßgeld.

Der Walzer ist der Tanz der Zeit – die spätere Königin Luise und ihre Schwester sollen die ersten gewesen sein, die es wagten, ihn im Jahre 1794 im Berliner Schloß zu tanzen – ihm gesellten sich später Masurka und Schottisch. Auch das bedeutet Emanzipation vom alten Zeremonialstil und kennzeichnet die Periode zwischen den Revolutionen.

In dem von Napoleon besetzten Deutschland waren Geheimbünde, zunächst von der preußischen Regierung begönnert, dann höchst gefürchtet, ins Kraut geschossen: aus ihnen entwickelte sich in den friedlichen, verbürgerlichten Jahrzehnten der Nachkriegszeit die Vereinsmeierei. Auch die Burschenschaften überkamen innerlich etwas von diesem fragwürdigen Segen. Nichts aber kennzeichnet so sehr die Verbürgerlichung im üblen Sinne, wie das Aufkommen einer Restaurantgeselligkeit. Leider ist es kein Geringerer als Scharnhorst, der sich in einem Brief an seine Frau aus dem Jahre 1801 zu deren Fürsprech macht. Als hätte das Bürgertum nur die Macht ergriffen, um seiner eigenen Wesenheit verlustig zu gehn.

Nur innerlich gefestigte Kultur verträgt die Festlichkeit. Diese Zeit zwischen den Revolutionen schafft sich noch einmal und als letzte Lebensstil, aber sie bedarf dazu der Enge und der Stille der abgegrenzten Häuslichkeit; wo sie das Haustor hinter sich zumacht, befindet sie sich alsbald im gefährlichen Ungefähr der Straße.

 

In Goethes »Wahlverwandtschaften«, dem Buch, das so tiefinnerlich Buch dieser Zeit ist, daß es von den Zeitgenossen kaum verstanden werden konnte, finden sich die Worte: »Die Gestalten waren so passend (es handelt sich um Tableaux vivants), die Farben so glücklich ausgeteilt, die Beleuchtung so kunstreich, daß man fürwahr in einer anderen Welt zu sein glaubte; nur daß die Gegenwart des Wirklichen statt des Scheins eine Art von ängstlicher Empfindung hervorbrachte.« Und Caspar David Friedrich, der Nachdenkliche unter den Malern, schreibt einmal: »Alle Täuschung macht einen widrigen Eindruck wie aller Betrug. Z. B. Wachsfiguren werden immer etwas Zurückstoßendes haben, je täuschender sie gemacht sind. Ein Bild muß sich als Bild, als Menschenwerk gleich darstellen, nicht aber als Natur täuschen wollen.«

Dieser Zeit ersteht der Sinn für »Spiel«. Daß hier und im Zusammenhang mit Geselligkeit davon gesprochen wird, darf den nicht befremden, der unter »Geselligkeit« ein Spiel der Nerven, der Geister und der Seelen verstehen will.

Einerseits: In dieser Zeit kommen die Panoramen auf, Schinkel selbst stellt in den Jahren, da die Bautätigkeit ruht, seinen Lebenserwerb auf Panoramenmalerei. Schinkel hat auch noch in seiner späten »Sammlung architektonischer Entwürfe« ein Theater vorgesehen, bei dem die Möglichkeit besteht, die Rückwand der Bühne zu öffnen und die Landschaft in die Szene mit einzubeziehen. Fürst Pückler-Muskau ließ Webers Musik zur Wolfsschlucht in einer natürlichen Wolfsschlucht seines Parks aufführen und ein andermal eine ausgesucht stattliche Tanne in seinem Park mit Papierlaternen in Form kolossaler Früchte als Christbaum illuminieren.

Andererseits: Tieck läßt in seinen Märchenstücken das Publikum, in die Handlung eingreifend, mitspielen; er legt seinen Figuren immer wieder Sätze in den Mund, die jegliche Illusion aufheben. E. T. A. Hoffmann stilisiert sehr absichtlich seine Charaktere ins Maskenwesen, läßt den Schauplatz mancher Erzählungen gleichsam zur Puppenbühne werden, hält wieder andere Gestalten derart im Zwielicht zwischen Wahnsinnsgebaren und Spuk, daß kaum noch auszumachen ist, wie weit Wirklichkeit an ihnen Anteil hat.

Zwischen diesem Einerseits und Andererseits scheint derart Widerspruch zu bestehen, daß man dort auf Verstärkung, hier auf Schwächung des Wirklichkeitseindrucks, dort auf ein Mehr, hier auf ein Weniger an Täuschung deuten könnte. Das aber hieße, am Äußerlichen haften bleiben. Auch jenes Einbeziehen von Naturausschnitten in die Bühnenperspektive, auch jene lebende Tanne mit den übergroßen leuchtenden Früchten zielt auf: Spiel.

Zu den Reformplänen des Freiherrn vom Stein hatte auch die Sorge um das Theater gehört, dessen volkserzieherische Sendung ihm nicht verborgen geblieben war; er wollte es dem Departement der Kultur unterstellt wissen. Wichtiger: in diesen Jahresläuften wird die Bühne derart vom Wesen der Geselligkeit umsponnen, daß sie den Fachleuten entgleitet, ihre Leitung ganz allgemein Hofleuten anvertraut wird. Das Hoftheater ist Glied in der Kette der Hofgeselligkeit geworden, ein spielender Dilettantismus bemächtigt sich seiner. Zugleich aber wird Spiel als solches auf der Bühne dieser Jahrzehnte im letzten Sinne des Wortes Ereignis: es sind die Jahre, da Raimunds Zauberstücke aus dem Wien des Alltags ein Wien der Sphären bauen.

In ihrer Weise wird auch die Mode in den Wirbel hineingerissen. Etwa um die Jahrhundertwende kommt es auf, ein Kleid unter dem Kleide zu tragen, derart, daß Madame Récamier, da nun die Musik zum Tanz ruft, ihre Sammetrobe ablegt und sich im leichten Ballkleid aus weißer Seide unter die Jugend mischt. Es werden auch in solcher Weise Perücken getragen, daß man morgens blond, abends brünett erscheint. Die gute Paalzow, deren Romane in der Feudalzeit spielen, kleidet sich selbst als Burgfrau und lädt den Besucher, sich auf gotischen Stuhl zu setzen, ein –: immer neue Ausdrucksformen für das eine, worauf es ankommt: Spiel.

Und dieses Lebensspiel erfaßt nun Wilhelm von Humboldt, der große Lebenskünstler dieser Zeit neben und durch Goethe, bewußt im transzendenten Sinn. Er schreibt einmal im Jahre 1818 an Caroline: »Es gibt eine Art, die Wirklichkeit zu nehmen, wie sie immer mehr in sich trägt, als die Zeit und die Schranke des Daseins faßt. Mit der Kunst ist das offenbar. Aber im Leben braucht es nicht anders zu sein. Es ist alles erst das, was es ist, und dann ist es außerdem noch Symbol dessen, was es wohl auch in seinem tiefen, inneren Wesen, im Zusammenhang mit allem übrigen ist, was es aber nie in diesem oder jenem Moment ganz und zugleich sein kann. Wer nun am meisten fähig ist, alle Dinge immer und immer zugleich in ihrer wirklichen und symbolischen Natur zu empfinden ... der erreicht am besten die Tiefen und Höhen des Lebens und hat den meisten Genuß am Dasein.«

Man begreift: eine Zeit, die das Wesen des Spiels in solcher Mannigfaltigkeit erfaßt und betätigt, aus ihrer besonderen Geselligkeitsart entwickelt, in letzten Tiefen ermißt, muß wohl oder übel Züge ihrer eigenen Wesenheit darin wiedergefunden haben.

Schon verspürt man in dieser Zeit und ihrer Eigenart etwas von Musikalität.


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