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10

Wohl hatte sich Röbi über einige Glieder der Jungmannschaft geärgert, vor allem über den bockigen Arnold Röthlisberger, aber nun bäumte sich sein Stolz, den Widerspenstigen zum Trotz für eine schöne Durchführung des Osterspiels zu sorgen.

Müde und abgespannt von den Gängen, Verhandlungen, Besprechungen und Verdrießlichkeiten, die mit den Vorbereitungen für das Spiel verbunden waren, ging er in den Sternen und leitete dort die letzte Sitzung. Nein, er war wirklich nicht munter! Solange er selber sprach, ging es ihm leidlich; wenn er aber die Berichte anderer anhören sollte, drohten ihm die Lider zuzufallen und die Gedanken davonzulaufen.

Die Burschen spürten es.

In einem Stündchen führte er die Verhandlungen zu Ende. Da es Ostervorabend war, entfernten sich schon jetzt einige Burschen.

»Balz Bläser –Musik!« rief Hanstöni. »So hört das Fortlaufen auf!«

Balz nahm die großgebaute Ziehharmonika, die wohl zu den feinsten Instrumenten ihrer Art zählte, aus Tuch und Schutzkasten, schlug Knie über Knie, liebkoste das Instrument mit zärtlichem Blick und ließ gleich zum Beginn des Spiels einige der hellen Silberglocken und Glöckchen anschlagen, mit denen es besetzt war.

Der Wunsch des Sennen ging in Erfüllung. Etliche, die schon zur Heimkehr aufgestanden waren, setzten sich wieder.

Während manche der Burschen in bäuerlicher Behäbigkeit tranken und speisten, spielte Balz, anfänglich mit größeren Pausen, auf seinem Instrument Lied um Lied, berauschte sich an den eigenen Melodien, geriet stets stärker ins Feuer und überschüttete die erstaunten Hörer in buntem Wechsel von Lustigem und Traurigem, Schalkhaftem und Feierlichem, Aufjauchzendem und Schwermütigem mit dem Regen seiner Töne. Sie lauschten bald auf ihnen unbekannte fremde Klänge, bald fielen sie mit ihren Stimmen in ein ihnen geläufiges Liebes- oder Wanderlied ein.

Der unaufmerksamste Zuhörer war Röbi.

Schlaff saß er in seinem Obmannsstuhl, hatte die Arme breit vor sich hingelegt, blickte mit leeren Augen in den blauen Tabakdunst, der durch die Stube schwälte und ließ sich dann und wann den Rotwein schmecken, aber er ermunterte ihn nicht mehr, sondern machte ihn nur noch stiller und schwerfälliger. Als ihm zu Sinne kam, daß er heimgehen und seinen Kopf ausruhen lassen sollte, vergaß er das Aufstehen. Ihm war, was um ihn vorgehe, spiele irgendwo in weiter Ferne.

Balz ärgerte sich zuerst, daß sein vornehmer Freund keine Aufmerksamkeit für ihn hatte, er fand aber bei den anderen so viel Beifall, daß seine Musikanteneitelkeit völlig gesättigt wurde, und in einem Taumel des Behagens und Glücks erwiderte er, der noch selten zu Wein gekommen war, jeden fröhlichen Zutrunk mit dem seinen.

Er spürte, daß sein Spiel den genauen Rhythmus verlor und unsicher wurde.

»Es ist genug,« wandte er sich an Hanstöni, und einigen Bitten zum Trotz stand er auf, schloß das Instrument in den Lederkasten, wickelte diesen wieder sorgfältig in das Schutztuch und wollte der Gesellschaft eben gute Nacht und frohe Ostern wünschen, als, vielleicht durch das Schweigen des Spiels, Röbi wieder lebhafter wurde.

Er ging zu Balz hin, legte ihm vertraulich die Hand auf die Schulter und sagte schwerfällig: »Ihr habt auch noch nicht zu Nacht gegessen, Bläser, darf ich Euch einladen?«

»He, Berta,« rief er dem Wirtsmädchen zu, »was habt Ihr denn noch an Vorräten in der Küche?«

»Weil es morgen Ostern ist, allerlei, Herr Heidegger,« antwortete sie. »Ihr seid aber spät. Es ist bald elf!«

»So eilt!« und Röbi wandte sich wieder zu Balz: »Da setzt Euch neben mich! –Wir plaudern noch ein bißchen. Ihr seid ein vortrefflicher Musikant. Man muß an Euch seine Freude haben!«

Im Gesicht Balthasars aber stand ein merkwürdiger Ausdruck: herzliche Not, bitterste Angst, verzweifelter Kampf. Er wurde kreideblaß, der kalte Schweiß trat auf seine Stirn. Röbi sah es und begriff nicht. Er dachte nicht daran, daß der Geselle ein armer Heißhungriger war.

Balz aber spürte wohl, in welcher Gefahr er schwebte. Schon vor einer Stunde hatte er den unheimlichen Reiz der auf dem Tisch dampfenden Speisen gespürt und ihn nur durch sein eifriges Spiel bekämpfen können. –Jetzt ein Bissen, und er gehörte nicht mehr sich selber an!

Warum verstand denn niemand seine stumme Qual, nicht einmal der sonst so gescheite Obmann?

»Erbarmen, Herr Heidegger!« wollte er rufen; in diesem Augenblick aber trug das Dienstmädchen schon die duftende Schüssel an ihm vorüber und stellte sie vor Röbi hin.

Da war es um den Unglücklichen geschehen.

Nein, er konnte nicht mehr fort! Mit zitternden Gliedern, doch mit offenen Augen ging er in sein Verderben, wie der Frosch, der von den glänzenden Augen einer Natter gebannt fliehen will, doch unheimlich angezogen näher und näher an den Rachen der grausamen Feindin hüpft und rettungslos darin verloren ist.

Das Essen Balthasars wurde rasch zu einem Schlingen.

Da stutzte Röbi und glotzte ihn an, aber sein müder Kopf ließ ihn den Vorgang nicht erkennen.

Die Nachbarn waren auch aufmerksam geworden und deuteten verwundert oder belustigt auf den maßlos Gierigen, der, als das Fleisch aufgezehrt war, einen halben Laib Brot verschlang.

Die Gesellschaft Sammelte sich um das Schauspiel. Manche glaubten, es handle sich um einen natürlichen Hunger, schimpften auf Meister Hildebrand, der seinen Gesellen so schlecht halte, und riefen von Mitleid bewegt: »Nun muß sich unser Musikant einmal satt essen!« Sie bestellten beim Wirtsmädchen neue volle Schüsseln für Balz.

Andere taten es aus Roheit, ein großes Hallo entstand um den Völler, der mit tierischer Gier alles hinunterschlang, was ihm dargeboten wurde.

Röbi saß gedankenlos dabei, er war aber doch der erste, der Balz in den Arm fiel. »Um Gottes willen, Bläser, hört auf –hört auf! Es ist ja unmöglich, daß Ihr so viel ertragt. Ich bitte Euch –hört auf!«

Und seltsam! Jäh gehorchte Balz. War es die seelische Macht des halbbetrunkenen Obmanns oder das Gefühl der Sättigung, das doch zuletzt auch einen Heißhungrigen überkommen muß, er hörte zu schlingen auf. Eine Weile sah er blöd vor sich hin, dann erwachte er wie aus einem Traum von jenseits der Wirklichkeit, und als ihm vor den leeren Schüsseln die klare Erinnerung kam, wurde sein Kopf dunkelrot, er legte ihn vornüber auf die Arme, begann schamvoll und herzzerbrechend zu schluchzen und wimmerte wie ein unglückliches Kind.

Das Lachen der Gesellschaft war verstummt, einige gingen mitleidig an Balz heran, strichen ihm über den Kopf und suchten ihn zu trösten: »Nehmt's Euch doch nicht so zu Herzen, es bleibt ja unter uns!«

Der Weintaumel Röbis und seine Müdigkeit waren verflogen, er fühlte sich vollkommen nüchtern.

»Ja, wenn es nur unter uns bliebe,« versetzte er schwer und finster. »Ich würde das Eierlesen billig geben.«

Sein Wort und Ton erschreckte die übrigen.

Einer der Burschen nach dem anderen bezahlte dem Wirtsmädchen die Zeche und drückte sich still und unbemerkt aus der Stube.

Es saßen nur noch wenige da, als kurz vor zwölf Uhr der Sternenwirt erschien, den man im Dorf wegen seines Kahlkopfs spottweise den Vollmond nannte, und mit grimmig verzogenem Gesicht Feierabend gebot.

»Soll ich den Knecht wecken, damit er den da heimschafft?«

Er deutete mit Hand und Kinn geringschätzig auf den leiser schluchzenden Balz.

Da straffte sich Röbi und ließ die Augen blitzen.

»Nein, Herr Sternenwirt,« antwortete er hochmütig. »Ich, Obmann der Jungmannschaft, lasse keinen der Unseren im Stich. Ich werde Bläser selber nach Hause besorgen.«

»Ah so!« lächelte der Wirt höflich-spöttisch und zog sich zurück.

»Hanstöni, nimm du die Ziehharmonika zu Händen,« bat Röbi mit großer äußerer Ruhe, »und hilf mir Balz zu seinem Meister bringen.«

Sie waren vor dem Hause Hildebrands angelangt. Röbi weckte den Schreiner mit leisem Zuruf. Bald flackerte ein Licht hinter den Fenstern. Halb angekleidet kamen der Tischler und sein Weib an die Tür, und die Frau schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Gott! Balz hat den Heißhunger gehabt. Nun kündigt er die Stelle, und wir finden keinen so guten Gesellen mehr!«

»Tut für ihn, was Ihr könnt,« sagte Röbi, »ich bürge für die Kosten.«

Da schüttelten die Mitternachtsschläge der Osterstunde durch die Luft.

Der sonst so mutige und übermütige Röbi erschauerte bei den dröhnenden Klängen, wie von einer abergläubischen Stimmung erfaßt. Mit Hanstöni verließ er schnell die Schreinersleute, die Balz in Empfang genommen hatten, und drückte auch dem Sennen rasch die Hand.

Welch ein unglücklicher Abend! Im Schweigen der verödeten Dorfstraße, im Dunkel der Häuser, im Flimmern der weißen Steine des Kirchhofs, im Rauschen der Bäche, deren Tosen fernher aus den Schluchten drang, hatte er eine dunkle Vorahnung, daß aus dem ärgerlichen Ereignis allerlei Widerwärtiges, ja Schlimmeres für ihn kommen werde. Warum hatte er es geschehen lassen?

Zu den Wallungen der Scham und aufrichtigen Mitleids mit Balz gesellte sich das Bewußtsein der großen Verschiedenheit zwischen seinem Denken und Fühlen und dem der dörflichen Freunde. Wie hatten sie sich an der krankhaften Gier Balthasars, der sie doch kurz zuvor mit seinem Spiel erfreute, geweidet und belustigt, und wie feige waren dann die meisten aus der Wirtsstube davongeschlichen! Der wertvollste aus der Runde war doch noch Balz, die kindliche Seele. Auch vor Hanstöni, der bei dem bedauerlichen Ereignis mit ihm geblieben war, hatte er Achtung; aber sonst –das Wort »Flegel« lief ihm durch die Zähne.

Nein, sie waren es gar nicht wert, daß er sich so große Mühe um den Ostermontag gab.

Plötzlich spürte er ein tiefes Heimweh nach Gertrud. Obgleich er sie vor wenigen Stunden noch gesehen und gesprochen hatte, schien es ihm, er sei durch Wochen und weite Lande von ihr getrennt.

Bei ihr war ein süßes und hohes Verstehen, bei ihr war die einzige Zuflucht, wenn er von dem sprechen wollte, was gut und schön in ihm war. Sie war die einzige, welche auch die ernsten Qualen kannte, die durch sein Wesen flössen.

Am liebsten wäre er jetzt zu nachtschlafender Zeit noch hinauf nach dem Freihof gestiegen, hätte eine Leiter an ihr Kammerfenster gelegt und sie zu einen: leisen Zwiegespräch gerufen.

»Ich bin wirr geworden,« hätte er ihr gesagt. »Nun hilf du mir mit deiner klaren Seele aus meiner Not!«

Nein, das ging des Freihöflers wegen nicht, für Röbi gab es in dieser Stunde, da der Nachtwind fröstelnd durchs Dorf zog, nichts als die Ruhe im Haus der verhaßten Großmutter.

Wie es wohl am Montag mit dem Eierlesen kam?

Das war sein letzter Gedanke.


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