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Bürgerliche Ehrenrechte

Der Kirchenvorsteher wollte seinen Wald verkaufen, und es war ihm gelungen, sich mit einem Holzhändler aus der Stadt über den Preis zu einigen. Der Kauf war eben abgeschlossen worden. Es war der beste Park im Gemeindewalde. Er bestand aus 8000 Bäumen und war sowohl zu Vaters wie zu Großvaters Zeit geschont worden, jetzt aber war eine andere Zeit gekommen. Die Buben hatten sich auf Marktbesuche und Roßaustausch gelegt, und die Mädchen wollten nicht mehr ohne Garnierungen auf dem Kleiderrocke gehen; das durch Kornverkauf verdiente Geld reichte nicht mehr so weit wie früher, und der Wald mußte nun dran glauben. So war denn eben ein Kontrakt zwischen dem Kirchenvorsteher und dem Holzhändler aufgesetzt worden, und es handelte sich nun um die erforderlichen Zeugenunterschriften.

Die Knechte und die Großmagd konnten ihren Namen nicht unter das Dokument setzen, da sie unter dem Dienstgesetz standen, und also gewissermaßen dem Einflusse ihres Herrn zu sehr unterworfen waren, das Kindermädchen war noch nicht eingesegnet, und deshalb wurde nach den Tagelöhnern geschickt, die auf der Außenmark Steine brachen.

Sie kamen: ein kleiner fünfzigjähriger Tagelöhner mit blinzelnden Augen und einer tief in die Stirn fallenden brandroten Haarlocke, und ein großer, kräftiger Kerl mit schwarzem Haar, einer Adlernase und finsteren Zügen. Er mochte wohl gegen 35 Jahre alt sein.

Als der Kirchenvorsteher ihnen erklärt hatte, um was es sich handelte, malte der kleine Tagelöhner sofort sein »gu Staf Joans Son« auf das Blatt, der andere aber zögerte und machte ein verlegenes Gesicht.

»Nun, Kalle, sei so gut und schreibe Deinen Namen hierher!«

Kalle schnitt eine Grimasse, schlug die Augen nieder und sagte:

»Kann das nicht ein anderer?«

»Nein, hier ist keiner weiter, spute Dich!«

»Ich kann ja den Peter aus dem Nachbarhofe holen.«

»Das ist nicht nötig! Wenn Du nicht schreiben kannst, so fasse nur die Feder an, ich will Dir Deine Hand führen,« sagte der kleine Rothaarige.

Große Schweißtropfen traten auf Kalles braune Stirn, die Finger krampften sich um den Mützenschirm, den er in der Hand hielt, und schließlich stieß er mühsam die Worte hervor:

»Das geht nicht, Kirchenvorsteher!«

»Warum in aller Welt soll es nicht gehen? Du bist doch wohl so alt, daß Du mündig geworden bist, sollte ich meinen!«

Da richtete sich Kalle auf, strich sich das kohlschwarze Haar aus der Stirn, sah die andern starr an und sagte mit fester Stimme:

»Nein, es geht nicht, denn ich habe die Ehre eingebüßt … ich darf nicht vor Gericht zeugen … mein Wort gilt nicht … ich bin schlechter als die Kleine da … so, nun wißt Ihr es … warum … warum konntet Ihr mich nicht in Frieden lassen …«

Hier überwältigten ihn Kummer und Scham, die ganze Gestalt erbebte in krampfhaftem Schluchzen und Kalle ging mit dem Rockärmel vor dem Gesichte aus der Stube.

Die Zurückbleibenden sahen einander so erschreckt an, als hätte jeder von ihnen auf ein Haar ein halbes Lot Arsenik hinuntergeschluckt.

»Gott bewahre mich! Wer hätte Kalle so etwas zutrauen können!« sagte die Frau des Kirchenvorstehers.

»Gut, daß ich es zu wissen bekam. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, ihn als Vorarbeiter beim Holzfällen anzustellen, denn er ist flink und tüchtig, der Racker!« sagte der Holzhändler.

»Und ich ließ ihn vorige Woche die Ochsen zu Markte treiben und das Geld selbst einkassieren!« jammerte der Kirchenvorsteher.

Keiner dachte auch nur daran, zu fragen, weshalb Kalle eigentlich die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt waren.

Nur der kleine, rothaarige Tagelöhner schwieg; vielleicht war das der Dank dafür, daß er fünfzehn Winter hindurch ungehindert Korn aus der Scheune des Kirchenvorstehers hatte stehlen können und dennoch das Vertrauen seiner Mitbürger besaß.

Doch als er fortging, dachte er bei sich: »Das muß doch ein dummer Teufel sein! Er konnte ja den Mund halten und einfach unterschreiben, da hätte kein Mensch etwas von der Sache erfahren.«

Kalle war, wie gesagt, ein tüchtiger Kerl, und in dem halben Jahre seit seiner Ankunft im Dorfe hatte er sehr gut verdient. Niemand weiter als der Pastor hatte etwas davon gewußt, daß er ein schwarzes Kreuz im Predigerzeugnis hatte, welches von einer Strafe für Diebstahl und Fälschung sprach und mitteilte, daß er der bürgerlichen Ehrenrechte auf zehn Jahre für verlustig erklärt worden war, weil er einen Raubanfall versucht hatte.

Am nächsten Morgen, als Kalle auf das Feld kam, um das Steinbrechen fortzusetzen, hatte schon ein anderer seinen Eisenhebel in der Hand, und er erhielt den Bescheid, daß der Kirchenvorsteher ihn nicht mehr brauche. Die Bäuerin und die Kinder waren damit einverstanden, obgleich die erstere bekümmert meinte:

»Wenn er nur nicht so wütend wird, daß er uns das Haus über dem Kopfe anzündet, der Schuft!«

Doch das that Kalle nicht. Wohl »brannte« es an dem Morgen, als er – diesmal ohne Predigerzeugnis – den Ort verließ, wo er sich durch ehrliche Arbeit ernähren zu können gehofft hatte, aber nicht auf dem stattlichen Hofe des Kirchenvorstehers, sondern in einem armen Herzen, das an Vergessen und Versöhnung geglaubt hatte.

*

Flink und rasch war der junge Jäger auf dem Edelhofe Säby. Der forteilende Hase und die fliegende Beccassine hatten nicht mehr Zeit an ihr Testament zu denken, wenn sie das Knacken seines Büchsenhahnes hörten, und die jungen Herren meinten, nie einen angenehmeren Jagdkameraden gehabt zu haben.

Er war ganz zufällig in die Gegend gekommen, als die Schnepfenjagd gerade anfing, und die jungen Herren engagierten ihn gleich als Stellvertreter des alten Waldhüters, der an einem Beinbruche schwer darniederlag, für die Jagdsaison.

Der alte Baron fragte nach seinem Sittenzeugnis.

Da zeigte ihm der Sohn eine blutige Schnepfe und sagte: »Auf 300 Fuß Abstand im Fluge geschossen.«

»Nun ja, das genügt für die Befähigung, doch wie ist es mit dem Charakter, Adolf?«

»Stål wird gleich nach Hause schreiben und seine Zeugnisse kommen lassen, lieber Vater.«

Der junge Jäger stand dabei und hörte zu; eine sonderbare Glut färbte seine Wangen und seine Hand zerbrach den Ladestock.

*

Kein Weib auf der Welt hat ein so weites Feld für ihre Eroberungen wie eine Kammerjungfer. Weder Grafen noch Knechte sind vor dem Zauber ihrer Reize sicher, und was Jäger Stål betrifft, so versuchte er es gar nicht einmal, der schönen Anna auf Säby zu widerstehen, sondern ließ ihren Zauber bei jeder Gelegenheit auf sich wirken.

Und als Anna erfuhr, daß das Bein des alten Waldhüters lahm bleiben würde, und die Herren über Stål entzückt wären, als sie daran dachte, wie hübsch das kleine rote Waldhüterhäuschen mit seinen weißen Fensterrahmen dort unten am Flusse lag und wie gut Stål in dem grünen Jägerrocke und dem Hute mit der Feder, den er von Herrn Gustav bekommen hatte, aussah, da widerstrebte sie auch nicht mehr, als der Anstand gerade erforderte, wenn Stål sie des Abends, nachdem die Herrschaften zur Ruhe gegangen waren, in der Laube aufs Knie zog.

So schrieb denn Stål des Aufgebotes wegen an den Pastor des Ortes, in dem er zuletzt ansässig gewesen war, und erhielt bald darauf einen Brief mit dem Kirchensiegel.

Als er an jenem Abende den Arm um Anna legte, zitterten ihm Hand und Stimme, und seine Wangen färbten sich blutrot bei der Frage: »Ist es ganz gewiß, daß Du mein Weib werden willst – was auch geschehen möge!?«

Ja, das wollte sie, und das wollen die Mädchen gewöhnlich alle, wenn man so weit mit ihnen ist.

»Ja, aber wenn es nun – wenn es nun – wenn nun etwas mit mir – wenn etwas nicht in der Ordnung sein sollte?«

»Herr Gott, Kalle, Du bist doch nicht gar ein Freimaurer?«

»Nein, aber es ist vielleicht – noch etwas Schlimmeres …«

»Ist es ein Gebrechen?« fragte das Mädchen errötend.

»Ja, ein Gebrechen ist es, das weiß Gott!« antwortete Stål und wurde aschgrau.

Und so zeigte er ihr das Sittenzeugnis, das ihm der Prediger ausgestellt hatte.

Sie weinte natürlich ganz entsetzlich, aber der Apostel sagt ja, daß die Liebe alles verträgt, und er muß sich wohl darauf verstanden haben, denn auch hier war eine halbe Stunde später Anna vollkommen getröstet, und Stål hatte das Versprechen erhalten, daß, wenn ihm auch das Vertrauen seiner Mitbürger fehle, das ihre ihm stets gehören würde, und er statt der verlorenen »Ehre« Liebe erhalten sollte.

Doch die Eltern waren anderer Ansicht. Einem »Ehrlosen« wollten sie ihr Kind nicht geben, und in ihrem Munde klang Anna die Sache viel, viel schlimmer, als an jenem Abende in der Syringenlaube, als das Herz schlug und die Pulse klopften.

Auch hier wurde der »Ehrlose« fortgejagt.

*

Der Gerichtssaal war bis auf den letzten Platz besetzt. Die Verhandlung war auch hochinteressant: Postraub mit Mordversuch verbunden. Die Sache war klar und einfach: der von seinen Wunden kaum genesene Postillion hatte den Räuber identifiziert, und dieser selbst hatte nicht den geringsten Versuch gemacht zu leugnen.

Und der Oberrichter las:

– – – – wird er, besagter Carl Stål, nach § 2 des zweiten Kapitels des schwedischen Strafgesetzes und § 6 desselben Kapitels wegen Raub und Gewaltthätigkeit zu 10 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, desgleichen werden ihm die bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit aberkannt.«

Stål war, während der Verkündigung des Urteils, dem Ansehen nach ruhig und gleichgültig, nur bei den letzten Worten glitt ein mattes Hohnlächeln über das finstere Gesicht, und die dunklen Augen flammten in wilder Glut. Als die Beschwerdeanweisung vorgetragen wurde, rief er:

»Nein, nein, ich will keine Beschwerde einlegen, ich bin mit dem Urteil zufrieden, sehr zufrieden. Ha, ha, ha! Dreimal habe ich versucht, ein ehrlicher Mensch zu werden, wäre es auch geworden, wenn nicht das Predigerzeugnis gewesen wäre. Ja, ich wäre es geworden, hol' mich der Teufel!«

»Führt den Gefangenen ab!«

Und der Gefangene wurde hinausgeführt. – Die bürgerliche Gesellschaft hatte ihn nun dahin gebracht, wohin sie jahrelang gestrebt hatte, ihn zu bringen, und konnte sich nun nach Behagen über die »Verstocktheit« ihres Opfers wundern.

*

Im Gasthofe saßen der Oberrichter und die übrigen Juristen beim Mittagsessen. Nachdem man im Namen des Gesetzes und der staatlichen Ordnung gerichtet hatte, unterhielt man sich nun damit, im Namen der öffentlichen Meinung zu urteilen.

»Dieser Stål ist wirklich ein schrecklich frecher Geselle,« meinte der alte Oberrichter; »voriges Mal war er wegen versuchten Diebstahls mit Einbruch verurteilt. Er behauptete allerdings, er habe nur einen im Hause Wohnenden durchprügeln wollen, weil dieser ihn auf einem Markte »Dieb« geschimpft habe. Mit der Entschuldigung kam mein lieber Stål aber nicht durch, und so erhielt er seine sechs Jahre Gefängnis und 10 Jahre Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte.«

»Kapitel 21 § 2, viertes Moment des Strafgesetzbuches,« citierte der jüngste Referendar und nahm sich noch zwei Kartoffeln.

»Vorher,« sagte der Landrichter, »erhielt die Kanaille ein Jahr für Fälschung des Predigerzeugnisses: es hat ihn wohl gar geniert, daß sein erster Diebstahl darin angeführt war.«

»Jaha, sehr richtig, Kapitel 12 § 3 des Strafgesetzbuches,« citierte der kleine Referendar wieder. Er hatte eben sein Examen gemacht und wollte gern seine Kenntnisse zeigen.

Der zweite Richter, der bisher stumm zugehört hatte, fragte nun: »Aber was war denn eigentlich Ståls erstes Verbrechen?«

»Das mag der Kuckuck wissen, Diebstahl natürlich!«

»Aber ich weiß es zufällig, und dieses Verbrechen, sowie Ståls ganze Lebensgeschichte, befestigt mich nur noch mehr in meiner schon reifen Überzeugung, daß unser ganzes Strafgesetz mit seinen Predigerzeugnissen und seiner Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, wodurch der Bestrafte fürs ganze Leben gebrandmarkt wird, zur Verbitterung und nicht zur Verbesserung führt, weil ihm die Grundbedingung für eine heilsame Strafe fehlt …«

... »Und die wäre ..?« fragte der alte Oberrichter höhnisch.

»Versöhnung,« antwortete der junge Jurist ernst und sah seinen Vorgesetzten fest an.

»Aber was war denn eigentlich Ståls erstes Verbrechen,« fragte der Polizeirichter.

»Ja, das war, wie die Herren und die Amtsgerichtsakten seines Heimatortes ganz richtig sagen, Diebstahl, aber – Diebstahl in einem Alter von 18 Jahren, wobei er nichts weiter stahl als einige vom Winde abgebrochene Zweige aus dem königlichen Forst, um seiner Mutter, die sterbend in ihrer verfallenen Hütte lag, eine warme Stube zu verschaffen. Da wurde er zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt.«

»Sehr richtig, Kapitel 24 § 4 des Strafgesetzbuches, er hätte auch sechs Monate bekommen können,« citierte der kleine Referendar und sog das Fleisch aus einer großen Hummerscheere.


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