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Per Jönssons Lasse, der es in der Welt zu etwas brachte

Per Jönssons Witwe befand sich, sogar nach der Aussage des gerade nicht übermäßig weichherzigen Armenordnungsvorstehers, in »schrecklichem Elende.«

Es giebt viele Arten von Elend, und selten verwechseln wir es mit – Rang und Freude. Gold und Ansehen, für Ehre und Treue erkauft, Luxus und Genüsse, ohne ein mitfühlendes Herz sein eigen nennen zu können, Rang und Stellung, auf der Leiter der geknebelten Überzeugung erklommen, das ist Elend.

Unbekannt sein, arm und gering, mit brennendem Herzen, mit Jugendmut und Jugendkraft, die ganze Welt zu erobern bereit, das ist kein Elend, das ist Größe, Freude, jubelnde Freude!

Doch es giebt auch eine Art Elend, das sich nicht verkennen läßt, und dieses war das schwere Loos von Per Jönssons Witwe.

In unserem Vaterland hat seit einem halben Jahrhundert niemand zu verhungern brauchen, und die schwindsüchtige Witwe, die ihre Streu in der Ecke der undichten, halbvermorschten Waldhütte seit Jahren nicht mehr hatte verlassen können, bekam auch monatlich für sich und ihren Buben sechs Metzen Gerste und 24 Schilling in baar. Sie war also reichdotiert, ja die teuerste Arme der ganzen Gemeinde und hätte eigentlich zufrieden sein müssen. Nach dem damaligen Geldwerte hatten Mutter und Sohn zusammen täglich drei Schillinge (sechs öre) zu verzehren; welch eine Summe für »nur zwei Menschen!«

Doch sie war so entsetzlich elend, sie hustete, daß die Wände bebten, und sowohl für sie selbst, wie für die Armenordnung, würde ihr Tod eine Wohlthat sein. – Und dann dachte sie soviel an ihren armen Buben und weinte die ganzen Nächte hindurch und fragte sich und jeden Menschen, der zu ihr kam, was nach ihrem Fortgange wohl aus ihm werden würde.

Und dies war ja grade, was der Vorsteher für ein so schreckliches Elend hielt. Herr Gott, der Bengel konnte ja die Schafe hüten, die Dreschmaschine fahren, Hofgänger, Gardist, Häusler, Lastträger, Vagabond oder Dieb werden, alles Laufbahnen, die den Kindern armer Leute offen stehen.

Das Volksschulwesen war damals noch nicht geordnet. Der Knabe – Lars hieß er übrigens – mußte deshalb den Tag über Tannenreisig zur Kälberstreu für die Bauern hacken, in der Dämmerung Holz sammeln und des Abends beim Herdfeuer im Katechismus lesen, daß wir Gott und unsern Nächsten lieben müssen.

Ach, wie wurde dem armen Buben das Leben schwer! Gott wollte ja Mutters Husten nicht helfen und die Bauern nicht zum ordentlichen Reinigen der Armengerste anhalten; »Unser Nächster«, das waren die Dorfbuben, und sie pflegten Lars zu schimpfen und zu schlagen und ihm »Lump« und »Armenordnungsbalg« nachzurufen.

Da kam im Sommer ein junger cand. med. auf den Gutshof zu Besuch. Er ging viel mit dem Fräulein spazieren, und da die Philanthropie dazumal, sowohl in Upsala wie in Stockholm, sehr in Mode war, so sprachen die beiden jungen Leute oft in den ärmsten Hütten vor. Das Fräulein gab den magersten Kindern hübsche, kleine Gebetbücher und erzählte ihnen rührende Geschichten von kleinen schwarzen Negerkindern, die sich zum Glauben an Jesus bekehrt haben, und der Kandidat verordnete kräftige Speisen und den ausgemärgeltsten Frauen dazu auch noch täglich ein Glas guten Rot- oder Portweins.

Kein Mensch konnte begreifen, weshalb die Kinder weder von den Gebetbüchern fetter, noch von den Negergeschichten heiterer wurden, und was die Tagelöhnerfrauen betraf, so waren sie eigensinnig, nach wie vor Haferbrot zu essen und vergaßen ganz, Rinderbraten und Portwein anzuschaffen.

Einmal kam der Kandidat auch in die Hütte der Witwe, sagte freundlich guten Tag und meinte, daß die Stube schlecht »ventiliert« sei und eigentlich umgebaut werden müsse, worauf die arme Frau freundlich lächelnd erwiderte: »Danke, lieber Herr Doktor, mit mir ist es in jedem Falle doch bald vorbei; die Schwindsucht ist mein Tod, wie man es auch drehen und wenden mag.«

Doch der künftige Aeskulap lauschte auf den Atem der Kranken, beklopfte ihr Rücken und Brust und versicherte, noch sei von Schwindsucht keine Rede, noch könnten eine andere Wohnung, bessere Pflege und Medizin sie wieder herstellen. Lasse stand mit offenem Munde und strahlenden Augen dabei. Sollte seine Mutter wirklich wieder besser werden können? Er mußte zum Armenordnungsvorsteher gehen und ihm mitteilen, was der Doktor gesagt hatte.

Doch dort bekam er nur Grobheiten zu hören. »Eine Ortsarme sollte wohl wie eine Gräfin gepflegt werden? Das fehlte nur noch! Und wer sollte es bezahlen?« »Das werde ich thun, ich will mein Leben lang für Euch arbeiten, wenn Ihr meiner Mutter nur gutes Essen und einige Tropfen aus der Apotheke gebt. Ich will Tag und Nacht für Euch Reisig hacken, wenn Ihr ihr eine Schlafstelle gebt, wo es ihr nicht ins Bett regnet …«

Nein, es war unmöglich. Demjenigen, welcher bei einem Scheffel Gerste und 24 Schillingen monatlich nicht leben und gesund werden konnte, war nicht zu helfen, wenigstens konnte die Kvastlöser Armenordnung es nicht. Die Finanzpläne eines Armenordnungsvorstehers in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts erlaubten es nicht, auf die Bürgschaft zwölfjähriger Knaben hin Anleihen zu bewilligen.

Der Kleine eilte weinend von Haus zu Haus. Er glaubte der Mörder seiner Mutter zu werden, wenn er ihr nicht Hülfe verschaffte, die sie, wie man ihm gesagt hatte, retten konnte. Er bekam überall Suppenknochen und Brotrinden, doch auf sein eigentliches Begehren wollte niemand hören.

Nur das Herz der Fabrikdirektorin ließ sich erweichen, sie brach in Thränen aus, putzte ihrem Jüngsten die Nase und gab Lars ein – Quart Sagosuppe und 160 herzstärkende Hoffmannstropfen.

*

Drei Monate darauf wurde Per Jönssons Witwe aus der Liste der Ortsarmen gestrichen, und jetzt, da sie derselben nicht mehr bedurfte, machte der Dorftischler ihr eine ganz neue, zugfreie Wohnung, die an einem trüben Sonntagsmorgen im November neben der Kirchhofsmauer in die Erde gesenkt wurde, da wo der Platz der Armen, der »Besitzlosen« ist, wenn sie das Tagewerk ihres Lebens beendet haben.

Lars ging mit zum Grabe, aber da war keiner, der ihm ein Wort sagte. Doch halt, es ist ja wahr, der Bube des Vorstehers, dessen Sonntagskleider er hatte leihen dürfen, »knuffte« ihn in die Seite und flüsterte: »Weine nicht so verteufelt auf meine neue Weste, Du Lümmel!«

Glücklicherweise hatte Lasse nicht alte Geschichte studiert und es fiel ihm daher nicht ein, einen Hannibalseid gegen die Reichen zu schwören.

*

Auf dem Gute des Kaufmannes Persson wurde ein großes Fest gefeiert. Die Dienstboten und die Dorfknaben hatten dem fünfzigsten Geburtstage ihres Herrn zu Ehren stattliche Ehrenpforten errichtet; bunte Laternen hingen dicht an den im Garten und Parke von Baum zu Baum gespannten Zuckerhutsschnuren. Der Inspektor stand draußen vor der Freitreppe und trocknete sich nach der Seelen- und Leibesanstrengung bei der Leitung eines neunfachen Hurrahrufes, den Schweiß von der Stirn, und der Präpositus hatte den Wirt grade in vorzüglichem Champagner hoch leben lassen und eine lange Dankesrede für die teure Orgel gehalten, die der Großhändler und Gutsbesitzer der Kvastlöser Kirche zu seinem fünfzigjährigen Weltbürger-Jubiläum geschenkt hatte.

Kurz vorher hatte der Regierungspräsident mit vor Rührung und Sherry bebender Stimme den eigentlichen Geburtstagstoast ausgebracht und viele schöne Worte über den Mann gemacht, »der sich aus der niedrigen Hütte der Armut durch eigene Kraft den Weg zu Reichtum und Ansehen, zu allgemeiner Achtung und Liebe gebahnt.«

Und Kaufmann Persson hatte mit einigen kurzen ziemlich trocknen Worten in seiner gewöhnlichen ruhigen Weise geantwortet, so daß einige seiner Dutzbrüder unter den Herren aus der Nachbarstadt einander zuflüsterten: »Der Bauer guckt hervor, und wenn er auch zehnmal Millionär ist,« und jetzt amüsierten die Gäste sich selbst so gut, daß der Wirt daran denken konnte, sich eine Zigarre anzuzünden und sich ein Weilchen ungestört im Parke zu ergehen.

Er war kein Freund des Gesellschaftslebens, aber er hatte einmal zufällig in der Stadt das Epitheton »alter Geizkragen« in Verbindung mit seinem Namen nennen hören, und von dem Tage an konnten die männlichen Mitglieder der städtischen einladungshungrigen Gesellschaft sich viermal jährlich an besseren Dingen als ihnen sonst irgendwo geboten wurden, einen Magenkatarrh heranessen und sich gründlich betrinken.

Er ging selten, eigentlich nie zur Kirche, doch er hatte gehört, daß der Kammerherr auf Baldersborg gesagt hatte, seine Verhältnisse erlaubten ihm nicht, den vom Präpositus erbetenen, »freiwilligen Beitrag« zu den 500 Kronen für eine neue Kirchenorgel zu geben, und da hatte er, der Emporkömmling, plötzlich eine unwiderstehliche Lust verspürt, das ganze Instrument, zu dessen Ankauf der stolze, steife Edelmann nicht einmal einen anständigen Beitrag geben konnte, zu schenken.

Er war nicht für äußeren Staat, und doch hatte er das Grab einer vor vielen Jahren verstorbenen Armenhäuslerin auf dem Kirchhofe zu Kvastlösa mit einem herrlichen Marmordenkmale schmücken lassen.

Doch die Armenhäuslerin war seine Mutter gewesen …

Am selben Tage, als das Monument von Kopenhagen gekommen und er mit seinen Arbeitern nach dem Kirchhofe gefahren war, um es dort aufstellen zu lassen, war ihm der Kammerherr artig an der Gitterthür entgegengekommen und hatte herablassend geäußert:

»Bester Herr Persson, halten Sie mich nicht für indiskret, wenn ich meine, daß es Ihnen schlecht ansteht, daß die Asche Ihrer geehrten Frau Mutter so unangebracht vis-à-vis einer Menge obskurer Leute verschiedener qualité ruht. Es würde mir eine Ehre sein, wenn Sie den Sarg der süperben Frau aus dieser Gesellschaft entfernen und unter das charmante Monument neben meinem Erbbegräbnisse, wo gerade ein Platz à prendre ist, beerdigen lassen wollten.«

Doch da hatte er, der ehemalige Betteljunge, sich hoch aufgerichtet und in trockenem Tone geantwortet:

»Sehr verbunden, Herr Baron und Kammerherr, aber jeder hat seinen Stolz, und der meinige ist, daß Per Jönssons Witwe, die durchaus keine Frau, sondern nur ein armes Weib aus dem Volke war, das an Mangel und Entbehrungen zu Grabe ging, da liegen bleibt, wohin man sie gelegt hat, und daß das »Armenquartier« des Kirchhofes das schönste Grabdenkmal hat!«

An alles dies mußte er denken, als er jetzt einsam meditierend im Parke umherging. Viele andere Erinnerungen stiegen auch aus ihren langjährigen Verstecken hervor, und er ließ sie alle Revue passieren.

Er erinnerte sich wie er seine Laufbahn als »Sommerknecht« auf dem Hofe des Armenvorstehers mit einem Lohn von dreißig Kronen für siebenmonatliche Arbeit begonnen, wie er sieben Kronen und 50 öre von diesen dreißig erspart und dafür einige Stangen Seife, Garn, Band und fünfzig schlechte Zigarren gekauft hatte, und dann mit »dem Sack auf dem Rücken« von Haus zu Haus gegangen war. Er erinnerte sich, wie der Sack sich allmählich vergrößert hatte, erst zu einem richtigen, mit Fächern versehenen Hausiererkasten, dann zu einem schlechten Wagen mit einem spathlahmen Putte, ferner zu einem prächtigen Rüstwagen mit einem lebhaften Norrländer, dessen Mähne aufrecht stand und der so kräftig und flink war, daß er sogar den Neid der Bauernsöhne von Kvastlösa erregte, und schließlich zu einem eigenen Geschäfte mit Ladentisch, Wagschalen und unendlich vielen, kleinen Schiebladen.

Von da an war es schnell vorwärts gegangen. Eine Tonne Goldes nach der andern hatte er durch Spekulationen erworben und jetzt war er reich, schwer reich, doch merkwürdigerweise freute er sich eigentlich gar nicht darüber. Jedesmal, wenn er Lust verspürt hatte, das Leben zu genießen, sich die Arbeitslast ein wenig leichter zu machen, ein eigenes Heim zu gründen, hatte er gemerkt, wie fremd er in dem Kreise war, dem er jetzt seiner Stellung nach angehörte, jedesmal hatten sich aus dem stillsten Winkel des Herzens und der Erinnerung ein leidendes, gefurchtes Frauengesicht und eine abgezehrte Hand, die nervös an den schmutzigen Strohhalmen des Bettes zupfte, erhoben und sich abwehrend zwischen ihn und die Lebensfreude gestellt, ja, wenn er das Theater besuchte, war es ihm oft so vorgekommen, als wenn sich mitten in den lustigsten Operetten die Triller des Tenors plötzlich in ein heiseres Grabeshusten verwandelten.

Jetzt war er am Ende des Parkes angelangt und stand vor dem Pferdestalle, in dem seine Lieblingstiere es sich aus den gefüllten Krippen gut schmecken ließen. Welch dichte, feste Mauern! Hätte die schlechte Waldhütte solche Wände gehabt, dann vielleicht … vielleicht …

Doch nein, er mußte wieder hinein zu seinen Gästen.

Die erhobenen Gläser blickten durch die Fensterscheiben. Das war echter guter Wein, das wußte er. Was hätte er nicht gegeben, wenn er in jener Winternacht, als die Kranke mit erlöschender Stimme wimmerte: »Ist denn gar keine Milch mehr in dem Blechmaße, Lars?«, einige Flaschen solchen Weines gehabt hätte!

Am Küchenfenster standen die Lohndiener und schwelgten in Rückenbraten und Haselhühnern. – Ach … daß er mit all seinem Golde die Zeit nicht zwingen konnte zurückzuwenden, damit er mit dem hundertsten Teile dieses Überflusses auf den Sohnesarmen durch Nacht und Wald nach der Schwelle des elenden, kleinen Heimes seiner Kindheit eilen könnte! …

*

... »Nein, sieh, Persson!«

»Wo bist Du gewesen, alter Bursche?«

»Prosit, Du Pascha mit sechs Roßschweifen!«

»Ist es wahr, daß Du nächste Woche nach Karlsbad sollst?«

»Die gewöhnliche Krankheit reicher Leute … kennen wir schon … kennen wir schon!«

»Dann sehen wir Dich allerdings eine Zeit lang nicht, aber vergessen sollst Du wahrhaftig nicht werden!«

»Stimmt an: Wer gedenket nicht unsers Bruders noch …«

So lautete das brüderliche Bewillkommungsgeschrei, als Kaufmann Persson wieder in seinen Speisesaal eintrat; in den Ecken aber wurde geflüstert:

»Verdammter Geizhals! Er unterschrieb Silbersvansens Wechsel nicht, obgleich der gute Leutnant sich herabließ, mit dem alten Sirupsprinzen Brüderschaft zu trinken.«

»Wo mag er nur so lange gewesen sein?«

»Ja, was glaubst Du?«

»Hat er vielleicht mit einer seiner Tagelöhnerdirnen ein rendez-vous im Parke gehabt?«

»Zum Teufel auch, er hat nicht mehr Gefühl im Leibe als der Obelisk, den er seiner Mutter hat errichten lassen.«

»Er wird wohl im Kontor gewesen sein und Zinsen gezählt haben.«

»Das sähe ihm ähnlich!«

*

»Nein, jetzt werden wir Dich allein lassen, alter Freund!«

»Lebewohl, lebewohl!«

»Deine Zigarren sind wirklich so gut, daß Du entschuldigen mußt, wenn ich mir eine Handvoll davon mitnehme.«

»Ergebenster Diener, Herr Bruder!«

»Adieu, adieu!«

*

Noch lange, nachdem die Gäste verschwunden waren, strahlte der Abendstern auf den am offenen Fenster stehenden Wirt hernieder. Der reiche Mann verbarg das gefurchte Gesicht in den Händen und gab sich bitteren Gedanken hin, während das ganze Kirchspiel ihn in diesem Augenblicke beneidete. Ihn, den armen Reichen, »Per Jönssons Lasse, der so wunderbar in der Welt vorwärts gekommen war.«


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