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»Zu spät!«

Die schöne, helle, rosige Haut auf Klein-Mias Hals und Armen hatten Sonne, Wind, Kälte und Regen, sowie harte Arbeit wohl verderben können, nicht aber die anmutige Rundung des Armes, die schelmischen Grübchen in den Wangen und den freundlichen, milden Ausdruck der Augen.

Die Birkenstämme legten sich so schwer auf die Schulter, wenn Mia dem Vater, der im Winter Holzfahrer war, den Schlitten beladen half, und die körperliche Anstrengung verdrehte die Muskeln der zarten Gestalt, wenn sie zur Saatzeit und bei der Ernte draußen auf Wiese und Feld über ihre Kräfte arbeitete, aber eine, die Schönheit beschützende Fee schien nach beendetem Tagewerk mit ihrem Zauberstabe das harte Bett, in dem Mia schlief, zu berühren, denn trotz aller Entbehrungen von der Geburt an, trotz aller Arbeit seit ihrem sechsten Jahre, da für sie das Sklavenleben damit anfing, daß sie ihre kleinen Geschwister reinhalten mußte, war Mia mit sechzehn Jahren das schönste Mädchen in der ganzen Gegend.

Vater sagte nichts und Mutter schwieg, doch wenn ihre Augen sich manchmal beim Essen über dem Holzteller begegneten, auf dem der für fünf Personen berechnete Hering sich in seiner Einsamkeit langweilte, so blickten sie so freundlich nach der Seite, wo Mia saß, und ein heller Schein flog über Mutter Lottas scharfe Züge, dem Glanze der Septembersonne auf einem Stoppelfelde vergleichbar, und das strenge Antlitz des alten Peter erhielt einen weicheren Ausdruck.

Eines Abends kam der junge Herr vom Gutshofe gerade während der Abendmahlzeit in die Hütte und schien gar nicht wieder fortgehen zu wollen. Er mußte wohl meinen, daß Vater Peters trockenes Brot viel zu hart für Mias kleine, weiße Zähne sei, denn er ließ seiner Mama keine Ruhe, bis sie Mutter Lotta fragte, ob sie nicht Mia als Stubenmädchen ins Herrenhaus geben wollte. Doch daraus wurde nichts, wohl wußte man, daß dort das Brot weich war, aber Lotta war an jenem Abende der Ausdruck in den Augen des jungen Herrn aufgefallen, und sie fürchtete, daß die weichen Brotscheiben vom Herrschaftstische Mia später zu weich werden könnten, wenn sie erst mit Thränen der Reue befeuchtet würden.

Es thut mir leid, daß ich von Mias »Seelenleben« nichts Besonderes sagen kann, es hätte sich gedruckt so gut ausgenommen, doch ich muß der Wahrheit die Ehre geben und eingestehen, daß in dieser Beziehung »nicht viel mit ihr los« war.

»Sie ist außergewöhnlich schwach begabt«, sagte der alte Pastor, der sie konfirmiert hatte, »die Sternfragen im Katechismus konnte sie schließlich einigermaßen, aber mit den Erklärungen wollte es gar nicht gehen.

»Sie ist ein Engel!« sagte der neue Schulmeister, der sich bei Peters Nachbarn in Kost gegeben hatte, und der des Abends eifrig lauschte, wenn Mia, vom Melken heimkehrend, unterwegs im Walde kleine Lieder sang.

Und da der Schullehrer während seiner Seminaristenzeit in der Stiftsstadt oft ins Theater gegangen war und in den »Feeriestücken« kleine blaugefrorene Fabrikarbeiterkinder mit Wergperücken und Pappflügeln an Wäschleinen, die oben auf dem Theaterboden befestigt waren, hatte hängen sehen, so verstand er sich ein wenig auf Engel.

Eigentlich hatte Mia nie aufgehört, Kind zu sein. Sie war kaum mit jemand weiter als den Ihrigen zusammen gewesen, nichts hatte in ihr böse Neigungen erweckt und der »alte Adam«, von dem die Pastoren so schlecht sprechen und den wir (mit dem Gepäck von ausgebildeter »Erbsünde« und dem Keim zu den »sündlichen Handlungen«) fix und fertig mit auf die Welt bringen sollen, muß gewiß bei Mia einen ordentlichen Morgenschlaf gehalten haben.

Es ist möglich, daß er nach dem Katechismus eigentlich kein Recht dazu hatte, aber – seien wir auch gegen den armen alten Adam gerecht – wie muß er sich bei uns andern nicht mit der Erbsünde, den sündlichen Handlungen und allen möglichen Schlechtigkeiten abplagen! Man kann es ihm nicht verargen, wenn er sich in einem reinen jungfräulichen Herzen im Lebensmai ausruhte, in einem Garten, der noch thaufrisch dalag, wo nur Paradiesvögel in den jungen Bäumen sangen und die Schlange noch nicht mit ihrem Geringel den zarten Morgenthau von den Gräsern gestreift hatte.

*

Im Frühlinge wurde Mia bleich, die kleinen Hände zitterten bei jeder größeren Anstrengung, sie war auch schweigsam geworden, und die Mutter schüttelte den Kopf. Der Vater aber meinte, Mia habe jetzt zuviel zu thun, zum Winter würde es wohl besser werden. Und der Winter kam, und der Schnee fiel, war aber kaum weißer als Mias Wange, und eines Tages quoll ein dunkelroter Blutstrom über die dünnen, zuckenden Lippen.

Da wurde zum erstenmal in 18 Jahren das Wort »Arzt« im Hause ausgesprochen. Doch der Arzt wohnte drei Meilen entfernt. Vater hatte kein Pferd, und der Besuch des Doktors würde so viel kosten. »Wir müssen es noch eine Weile mit ansehen!«

Mias Befinden wurde schlechter, sie erhielt immer mehr das Aussehen einer dieser zarten, empfindlichen Pflanzen, die der Blumenfreund an schönen Sommertagen in den Garten trägt, damit sie Luft und Licht einsaugen können, bei deren Anblick jedoch der Vorübergehende denkt: »Sie müssen bald wieder in das Treibhaus gesetzt werden!«

Mutter weinte, und Vater lag die ganze Nacht wach und dachte nur an den Doktor.

Um vier Uhr morgens zog er den Sonntagsrock an und wollte aus der Thür gehen.

»Wohin willst Du, Vater?« ertönte es leise ans dem kleinen Bette am Fenster.

»Ich will mir ein Fuhrwerk leihen und den Doktor holen, denn nun halte ich es nicht länger aus?«

»Nein, Vater, thu' es nicht, es wird zu teuer und nützt doch nichts.«

»Aber Du bleibst uns tot, Kind!« antwortete der alte Peter, und seine Stimme bebte, als fröre es ihn bis ins Herz hinein.

»Oh nein, mir ist heute viel besser, und es ist wirklich unvernünftig, soviel Geld auszugeben. Soviel bringen ja kaum die jungen Stiere jährlich ein.«

»Nun, dann kann ich noch warten, Du mußt es aber gleich sagen, wenn es schlimmer wird, hörst Du, Mädchen?«

Wieder verging eine Woche, und Mia wurde noch bleicher. Mutter Lotta dachte, daß diese Blässe am Ende wohl gar der Anfang zu den »schieren, weißen Kleidern« wäre, die, nach der Aussage des Methodistenpredigers, von denen getragen wurden, die »das Siegeslied vor dem Throne des Lammes« singen sollten, und Peter wollte jeden Tag zum Arzt fahren, doch ach – das Geld war in der armen Hütte knapp – und vielleicht konnte Mia am Ende auch so wieder besser werden. Dann sollte sie sich aber auch ganz gewiß auf dem nächsten Markte ein seidenes Kopftuch aussuchen dürfen.

Eines Morgens war es so still in der Fensterecke. Lotta sprang erschreckt aus dem Bette, und die blutüberströmte Decke sagte ihr gleich, was geschehen war. Mia atmete nur noch schwach.

Ein paar Stunden später stand der Arzt an ihrem Bette. Jetzt war er ohne Weiteres geholt worden, war zu Hause gewesen und gleich mitgekommen.

Er sah Mia lange an, darauf Lotta und zuletzt Peter und sagte dann:

»Weshalb habt Ihr mich nicht früher geholt?«

»Herr Jesus! Muß mein Kind sterben? ist es zu spät?« schluchzte die Mutter.

Peter sagte kein Wort, doch bei der Frage des Arztes fuhr ein Beben durch seine Gestalt, er wandte sich ab und ging hinaus.

Mia verstand alles. Sie hatte den ganzen Tag über kein Wort hervorbringen können, jetzt aber siegte die Kindesliebe über die Körperschwäche, und sie flüsterte:

»Du brauchst nicht zu weinen, Mutter, mir ist schon viel besser, bald bin ich wieder auf.«

Und »auf« kam sie auch noch am selben Abende – doch nicht zur Arbeit in dem armen Heim, nein, »hinauf« in das große, helle, reiche Vaterhaus dort oben, wo ewige Sabbathsruhe herrscht.

Der Herbst war gekommen, die Saronslilie mußte in das Treibhaus zurück.

Die Luft und das Licht des Elternhauses paßten nicht mehr für Klein-Mia.

*

Über Vaters und Mutters Lippen kam kein Wort der Verzweiflung darüber, daß der Arzt zu spät geholt worden war. Dergleichen ist im Bauernheim nicht Brauch, doch in der Tiefe zweier gebrochener Herzen regten sich Gewissensbisse und Selbstvorwürfe.

Die Knaben sind herangewachsen, und die Arbeit geht gut, obgleich Mia jetzt nicht mehr da ist, um zu helfen, und der Hering reicht natürlich auch besser. Oft wenn Mutter ihn in vier Teile, statt der früheren fünf, zerschneidet, zittert ihr die Hand, und ein Schleier legt sich über ihre Augen. Dann blickt Vater allemal starr nach der einen Seite des Tisches. Die Buben können nicht begreifen, was er dort eigentlich sehen will, sie wissen nur, daß Mia dort immer zu sitzen pflegte. Und wenn der Lavendel und die Schwertlilien auf dem Beete vor dem Fenster blühen, blicken sie so neugierig zu den Scheiben hinauf, als wollten sie fragen, weshalb Mia sie nicht mehr wie früher besuchte. Und an jedem Sonntagsmorgen pflückt Mutter einige ab, trägt sie nach dem Kirchhofe und legt sie auf Mias grüne Rasendecke. Vielleicht spielt Mia mit ihnen, wenn die Sonne untergegangen ist, und kein menschliches Auge es sieht …

Und zu Hause im Schranke steht eine Kiste die nur Vater und Mutter öffnen dürfen. Die Nachbarn munkeln davon, daß Peter, der es, seit seine Buben groß sind, verhältnismäßig zu Wohlstand gebracht hat, darin Halsbänder und silberne Becher verwahrt, doch das ist nicht der Fall, denn in der Kiste, die den größten Schatz der Alten enthält, liegt nichts, gar nichts weiter als – ein Paar kleine, vertragene Holzpantoffeln.


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