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»Er wird schon kommen.«

Die Eitelkeit, die wir am leichtesten verzeihen, auch wenn sie unangebracht und unberechtigt ist, ist die Schwäche der Eltern, ihre Kinder »etwas Besseres« werden lassen zu wollen, als sie es selbst sind.

Ein alter Bauer, der Jahrzehnte hindurch gearbeitet und entbehrt hat, um seinem Sohne einen Platz in der oft mit Mißtrauen und Geringschätzung angesehenen, aber doch mit Neid betrachteten Klasse der »Herrenleute« zu verschaffen, ist ein »Moses,« der selbst nie das gelobte Land, seine Hoffnung während der heißen Wüstenwanderung, betreten sollte. Doch von dem aus himmelhohen Hoffnungen bestehenden Berge der Vaterliebe, darf er stolze Zukunftsbilder hineinwerfen, seinen Sohn im Predigertalar oder in Uniform, auf dem Katheder oder auf der Kanzel sehen, und dann vergißt er leicht, daß die rotbunten Ochsen auf dem Altare der Wissenschaften für ein einziges Semester »Gelehrsamkeit« geopfert werden mußten und daß die Zahl der Hypotheken auf dem von den Vätern ererbten Hofe schneller zugenommen hat, als die Zahl der Zeugnisse des Sohnes.

Wie es in dem abgeschiedenen Reiche der »Herrenleute« eigentlich aussieht, bekommt der alte Vater sehr selten zu sehen, denn ehe der Sohn seine Kräfte im Amte und seinen Credit bei der Bank als Extraordinarius verbraucht hat, ehe der verschuldete Adjunkt und seine Kinderschar im Warten auf ein Pastorat darben, ehe der Sohn sich von der unebenen, launenhaften Beförderungsbahn wieder nach den unebenen Ackerschollen der Heimat zurückzusehnen beginnt, ja, oft schon lange vorher, hat die alte Minka an einem Sonntagsmorgen in der Frühe mit dem Kornwagen vor der Hausthüre gewartet und Vater und Mutter haben in steifen, schwarzen Holzgewändern den alten, bekannten Weg nach dem mit dem Auferstehungskreuze geschmückten Totenacker fahren müssen. Doch oft erstirbt die Hoffnung der Eltern schon, ehe der Jüngling noch das erste Ziel seines Strebens erreicht hat. Der Sohn der Hütte wird von dem Freudenleben in der Stadt der ewigen Jugend berauscht, die weiße Mütze erhält einen Flecken nach dem andern, und der Jüngling bleibt immer öfter und länger auf dem Wege der Pflicht stehen, um einen trügerischen »Krafttrunk« aus dem Becher des Vergnügens zu thun. Oder er ist auch nur unlustig und willensschwach und irrt ziellos auf dem Pfade der Wissenschaft umher, nachdem ihm das Gängelband, das die Schule mit ihren bestimmten Aufgaben bot, im Abiturientenexamen entzogen worden ist. Er ist dann viel schlimmer daran als seine Altersgenossen hinter dem Pfluge und der Egge. Des Vaters ewiger Wunsch, seinen Sohn als Student zu sehen, hat aus diesem einen ewigen Studenten gemacht.

*

Kalle, der Sohn Johannes vom Hästängen, war schon als neunjähriger Junge anders als andere Kinder. Mit dem Fahren der Dreschmaschine ging es mehr als schlecht, beim Hausverhör aber war er ein großes Licht, und beim Schulexamen setzten alle Lehrer ihre Hoffnung auf ihn. Um diese Zeit hatte Vater die letzten Ausgaben für die neue Flurvermessung bezahlt, aber zugleich auch gesehen, daß er noch 500 Thaler auf der Sparkasse übrig hatte, und so wurde denn beschlossen, daß Kalle »Pastor studieren« solle.

An diesem Abende nahm er ein Gesangbuch in die Hand, band sich Mutters schwarze Kirchenschürze um den Hals, stieg auf den Feuerherd und predigte den Mägden etwas vor. Mutter weinte.

Und so hatte er denn Privatunterricht beim Pastor, kam seiner Zeit aufs Gymnasium in die Stadt und wurde Quartaner. In den nächsten Ferien brachte er zwei Freunde, die Söhne eines Hauptmanns, mit nach Hause. Die Knaben duzten sich, als wäre gar kein Standesunterschied zwischen ihnen, und spielten Räuber und Soldaten in der Scheune, und Mutter sah ihnen von der Stallthür aus zu und merkte es gar nicht, daß ihr das Schwein alles Hühnerfutter auffraß.

Das Jahr darauf nahm er in der Stadt Tanzstunde, und wurde zu Hause bei dem Präpositus zu einer großen Gesellschaft eingeladen, und die Köchin hatte ihn mit der Erzieherin vom Gutshofe Kegelquadrille tanzen sehen. Da war aber auch Vaters Sparkassengeld zu Ende, und die Hypotheksherren hatten Hästängen auf elftausend Thaler taxiert.

Als Vater nun die große Anleihe erheben wollte, ging er selbst in die Stadt, um zugleich seinen Buben zu besuchen. Er that es jedoch nicht wieder, denn Kalle hatte sich von dem vielen Lesen so die Augen verdorben, daß er seinen eigenen Vater beinahe nicht auf der Straße erkannte.

Das erste Mal fiel Kalle beim Abiturium durch, und Mutter Lena erzählte allen, die es hören wollten, daß der Professor aus Lund daran schuld sei; Kalle sei immer so fleißig gewesen und habe es deshalb für unnötig gehalten, ihm, wie die andern jungen Leute es gethan hatten, einen Fünfthalerschein in die Hand zu drücken. Der Präpositus behauptete, das könne nicht wahr sein, aber Kalle hatte es selbst gesagt, und man kann doch nicht an seinem eigenen Fleisch und Blut zweifeln. Übrigens machte der junge Mann sein Examen im Jahre darauf und predigte mit bischöflicher Erlaubnis so ergreifend in der Kirche seines Heimatsortes, daß in den Frauenbänken laut geweint wurde. Doch da verkaufte Vater seinen ganzen Waldbestand.

Und Mutter Lena weinte vor Freuden. Ach, wenn sie nur noch drei Jahre am Leben bliebe und ihren Kalle als ordinären Prediger sehen könnte! Dann wollte sie aber auch sofort sterben, nur damit ihr eigener Sohn ihr dann in der alten Stube, in der er selbst geboren war, und in der seine alte Mutter so oft für ihn gebetet hatte, das Abendmahl geben könnte.

Kalle war nicht mit den Eltern von der Kirche nach Hause gegangen; er war auf dem Gutshofe, wo einer seiner Schulkameraden Hauslehrer war, zu Mittag eingeladen worden. Das hatte Vater nicht recht gefallen, doch da hatte Mutter Lena ihn gefragt, ob er denn seinem eigenen Kinde an dem Tage, wo es ihm so viel Ehre gemacht habe, nicht auch ein bischen Freude gönne.

Und als Kalle gegen Mitternacht heimkam, und Mutter Lena ihn erwartend in der kleinen Kammer saß, und niemand es sah und keiner über ihr altes zerknittertes Kleid und ihr großkarriertes Kopftuch lachen konnte, da schien es dem Sohne auch warm ums Herz zu werden, er verbarg den Kopf in ihrem Schooße, schluchzte wie ein Kind und stammelte liebkosend: »Mütterchen!« ganz wie er es als kleiner Junge gethan hatte.

Den Augenblick vergaß Mutter Lena nie. In den vielen langen Jahren fruchtlosen Wartens auf die frohe Rückkehr des Sohnes in das alte, verlassene Elternhaus, während sie sich ängstlich immer wieder fragte, ob eine so reiche Liebessaat denn wirklich verkümmern könnte, ohne Frucht zu bringen, suchte sie in ihrer Erinnerung das Bild jener Nacht hervor, drehte und wendete es in ihrem Herzen, wie der Geizhals einen Dukaten, und schwelgte darin, wenn ihr liebevolles Gemüt zu verschmachten oder zu erstarren drohte. Und da Kalle doch nicht heimkam, ein Jahr nach dem andern verging, und sie sowohl an seinen Briefen wie an ihm selbst zu zweifeln anfing, da ging sie in die Kammer, dachte an jene Nacht, schloß die thränenheißen Augen und hatte das Gefühl, als ob zwei unsichere Hände ihr Haupt umschlössen und eine wohlbekannte Stimme »Mütterchen« flüsterte.

»Er wird schon kommen,« antwortete sie am Tage nach einem solchen Seelenstreite den Nachbaren, die unaufhörlich fragten, ob denn Kalle noch nicht bald in Upsala fertig sei. Und wenn die Bauern zur Kirchenratssitzung oder zum Maifeste gingen, pflegte Johann von Hästängen zu erzählen, wie schrecklich schwer es die Studenten in Upsala hätten, sie müßten Tag und Nacht studieren, und sein Kalle, der doch ein kluger Junge und schon im sechsten Jahre Student sei, habe noch nicht einen Tag Zeit gehabt, um nach Hause reisen und seine Eltern besuchen zu können. Der Präpositus meinte, es würde wohl nicht so schlimm damit sein; Johann aber schüttelte den Kopf und sagte: »Lieber Herr Präpositus, es ist jetzt ganz anders in Upsala als zu Ihrer Zeit.«

Bald wußte man im ganzen Kirchspiel, daß Kalle vom Hästängen Schritt für Schritt die Grade »Lustiger Bruder«, »Bummler«, »Säufer« und »Lump« passiert hatte und im ganzen Leben nicht mit einem Examenzeugnisse nach Hause kommen würde. Doch das war natürlich nur böswillige Verleumdung, die Alten auf Hästängen wußten es besser. Hatte Kalle nicht selbst geschrieben: »Hätte ich ein gewöhnliches Examen wie der Präpositus oder der Adjunkt bei uns zu Hause machen wollen, so hätte ich schon lange Pastor sein können, doch die Brecheisen und Mauerbrecher, die in unseren Tagen den Bau der Kirche bedrohen, erfordern andern Widerstand als die stumpfen, theologischen Waffen, die in den dreißiger Jahren geschmiedet wurden; ich will ein Gelehrter, ein berühmter, bedeutender Theologe werden, ich will vor allem meinen lieben alten Eltern Ehre machen und deshalb – dauert es noch ein wenig.«

Und dann Geld, viel Geld! Die eine Wiese nach der andern, ein Ackerstück nach dem andern ging in andere Hände über, und schließlich schrieb Kalle, der sich immer mit liebevoller Fürsorge um die Alten bekümmerte, es wäre am besten, Hästängen zu verkaufen. Es betrübte ihn so sehr, daß seine Eltern sich noch auf ihre alten Tage mit der Landwirtschaft abplagen müßten. Sie könnten ja so ruhig und so gut von dem Gelde leben, das übrig bliebe, wenn sie ihm von der Kaufsumme einen Teil zum Abschluß seiner Studien gegeben hätten. Das Geld brauchte auch nur ein paar Jahre zu reichen, nachher würde er für die Alten sorgen.

So wurde denn Hästängen verkauft, das Inventar verauktioniert, und als Johann dann neben der letzten Wagenlast seiner Sachen, die er mit in sein neues Heim, eine Waldhütte, nehmen wollte, stand, fragte er den Amtmann mit dem Tone, in dem ein Schwindsüchtiger den Arzt über seinen Zustand befragt, ob er wohl glaube, daß Kalle bald Pastor sein könnte. Doch Mutter Lena nahm dem Amtmann das Wort vor dem Munde weg und sagte mit vergnügtem Lachen: »Er wird schon kommen!«

Die übrigen Kinder waren schon lange in der Fremde, sie waren erzürnt, daß die Eltern dem ältesten Sohne ihren ganzen Wohlstand geopfert hatten. Von Kalle kamen auch keine Briefe mehr, seit er fast die ganze Kaufsumme für Hästängen erhalten hatte, und vier lange Jahre verstrichen, ohne den Herzen der beiden Alten Trost und Freude zu bringen. Schließlich hatten sie mit dem Schamgefühl, mit dem sich ein schwärmerischer Jüngling zum erstenmal auf einem Zweifel an seiner Geliebten ertappt, in der Universitätsstadt Erkundigungen eingezogen. »Der frühere stud. theol. Karl Johannsson war seit zwei Jahren nicht mehr in Upsala.«

Jetzt konnte selbst Mutter Lena ihren Sohn nicht mehr in ihren Träumen mit Kelch und Oblate an ihrem Sterbebette stehen sehen; doch ach, wenn er nur kommen wollte, wie arm, schlecht und elend er auch sein mochte, ohne Wein und Oblate, ohne geweihte Hände! Welche Hand hat wohl größere Weihe, die Augen der Mutter zuzudrücken als die des Sohnes! Doch er mußte bald kommen, denn es ging mit den Bewohnern der Waldhütte zu Ende, und die Stimme der Mutter wurde immer schwächer, wenn sie beinahe verständnislos lallte: »Er wird schon kommen, er wird schon kommen.«

Und er kam. An einem stillen, warmen Sommerabende, als die Sonne unterging. Als Mutter Lena aufblickte, stand er in der Thür. Sie erkannte in dem bleichen, ausgemergelten Vagabonden, der sie mit fieberglühenden, thränenfeuchten Blicken ansah, den feinen Studenten, dem sie vor zehn Jahren Lebewohl gesagt hatte, nicht wieder, aber ihr Herz rief seinen Namen ebenso schnell und untrüglich, wie die Magnetnadel nach Norden zeigt.

Und so hörte sie ihn wieder »predigen.« Doch dies war nicht die Predigt, auf die sie zehn Jahre gewartet hatte. Es war ein direkt aus dem Leben gegriffener Text über Not und Sünde und der Prediger war in vollem Ornate des Elendes, mit Lumpen und Schmutz bedeckt. Und in dieser Predigt kamen nicht viele »Vater unser« vor, aber der Höllenfürst figurierte ab und zu darin und erhielt natürlich die Schuld für alles, was den Jüngling und den Mann vom rechten Wege abgelenkt, und ihn dahin gebracht hatte, wo er nun lag, auf der Schwelle des Elternhauses, aber auch vor der Thür des Todes.

Doch als die Nacht zu Ende ging, die Vögel im Hagen erwachten, das Morgenrot durch die Fensterscheiben leuchtete, und der Sohn die Runzeln auf der Stirn der Mutter und die gebeugte Gestalt des Vaters erblickte, da kam die Reue mit Selbstanklagen und Thränen. Und als die Sonne aufging, entschlief er mit dem Haupte in dem Schooße seiner Mutter, und große, warme Tropfen fielen auf seine Stirn.

Und Mutter Lena blickte zum blauen Himmel auf und dachte darüber nach, ob dort oben wohl für eine arme, befleckte schuldbelastete Seele, die nicht einmal die stärkste irdische Liebe, die Mutterliebe, hatte aufrecht erhalten und stützen können, ein Plätzchen frei sein würde, ob ihr armer Sohn dorthin gelangen könnte, wo es keine Sorge und Versuchung mehr giebt.

Und die Sonnenstrahlen auf den Fensterscheiben, das hellgrüne Birkenlaub, der Sperling aus dem Fensterbrette, die ganze Natur, die so laut und deutlich die Sprache der Liebe redet und die Unmöglichkeit des ewigen Zornes ihres Schöpfers verkündet, alles, alles flüsterte: »Er wird schon kommen, er wird schon kommen!«


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