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VIII.
Eine Kuh im Geleise

Hat die Maschine keinen Schaden genommen und das Hindernis aus dem Wege geschleudert, so daß es dem nachfolgenden Zuge nicht gefährlich werden kann, so hält man heutzutage nicht auf freier Strecke, wenn man ein oder zwei vierbeinige Geschöpfe übergefahren hat. Um fünfundzwanzig Jahre werden sie wohl kaum noch eines Menschen wegen halten.

Doch in der ersten Zeit der Eisenbahnen gab es jedesmal einen entsetzlichen Aufstand sobald nur ein Schaf übergefahren wurde. Man hielt an und trank einen Ueberlegungsschluck, die Passagiere schrieen, und die Damen bekamen Nervenzufälle, und dann ging es in fester Überzeugung – von Seiten der Passagiere wenigstens – weiter, daß man einer Todesgefahr entronnen sei und es entstanden lange Debatten darüber, ob es nicht doch besser wäre, sich des neuen Verkehrsmittels so wenig wie möglich zu bedienen.

Es war ein heißer Julitag, als ich auf dem gemischten Zuge – jetzt heißt es »Personenzug« – in meinem Coupee im Halbschlummer saß. Da – auf einmal vermindert sich die Fahrgeschwindigkeit, ich fühle einen Stoß, die Bremsen kreischen und – wir stehen still ...

Jetzt nehmen die Passagiere dergleichen ziemlich ruhig auf, aber dazumal reichte die geringste kleine »Unregelmäßigkeit«, wie wir Eisenbahner sagen, hin, um einen guten Teil derselben in Aufruhr und Schrecken zu versetzen. »Hilfe! Hilfe! Macht auf!« schrieen einige. Andere versuchten aus dem Fenster zu springen, und als ich die Thür des Damenkoupees öffnete, saß dort eine feine nette alte Dame, die ihre junge, blühende Tochter fest an sich drückte und dabei murmelte: »Julia, mein Liebling, sitze still! Wenn wir aussteigen, kann uns ein Stück der explodierenden Locomotive treffen!«

Im nächsten Wagen saßen ein junger Herr und eine noch jüngere Dame. Sie waren alte Bekannte und schienen sich sehr für einander zu interessieren. Auf der letzten Station hatten sie einander jedoch mit »Fräulein« und »Herr Ingenieur« angeredet und waren außerordentlich förmlich gewesen. Jetzt lag sie indessen halb ohnmächtig in seinen Armen, und der Unmensch beeilte sich durchaus nicht, ihr das Gefahrlose der Situation klar zu machen, obgleich er, wenn er wirklich Ingenieur war, doch hätte wissen müssen, daß es nicht zu der Diät der Lokomotive gehört, zu explodieren und Stücke hundert Ellen weit fliegen zu lassen. Die Bahn bildete hier eine Kurve, und in der Kurve hatte eine Kuh quer über den Schienen gestanden. Der Lokomotivführer hatte gethan, was er konnte, um ihr Leben zu retten, doch er hatte sie zu spät erblickt. Er ließ die Dampfpfeife so schrill aufkreischen, daß er damit fünfzehn »angejahrte« reisende Schauspielerinnen hätte auszischen können, doch eine rotbunte Kuh hat noch stärkere Nerven als selbst die abgehärtetste Bühnenprinzessin. Und nun lag die arme Kuh zerquetscht im Geleise, und das dunkelrote Blut floß über die gelbrote, glänzende Haut. Es war ein gräßlicher Anblick. Sie war gewiß ein hübsches Tier gewesen, aber nun war sie schlimmer zugerichtet, als ein königliches Schulgesetz, wenn es von der andern Reichstagskammer zurückkommt.

»Du sollst Dich nicht länger quälen!« rief ein netter, junger Student aus.

Er zog rasch sein Dolchmesser aus der Scheide und schnitt der Kuh mühsam den Hals ab.

»Weshalb thaten Sie das, Herr?« fragte der Heizer.

»Natürlich, um die Schmerzen des armen Tieres zu verkürzen,« antwortete der Student mit feuchten Augen.

»Jaso, deshalb, aber sie hatte ja schon das Genick gebrochen und war also mausetot,« sagte der Zugführer.

Der nette, junge Student suchte schleunigst sein Coupee auf und ließ sich nicht wieder sehen.

Statt seiner trat eine andere Person auf dem Schauplatze auf. Als wir aufblickten, stand eine alte, magere, elend aussehende Frau, deren weitgeöffnete Augen Entsetzen ausdrückten, vor uns. Sie lehnte sich verzweifelt an den schwachen Bahnzaun. Ihre Kleider – ein schmutziges Hemd und ein Unterrock mit unzähligen Flicken, die eine schmutzige Schürze nur unvollkommen verdeckte – ließen die skelettartige Gestalt in ihrer ganzen Magerkeit sehen; sie zitterte am ganzen Leibe, die dünnen, grauen Haare hingen unordentlich um das verwitterte Gesicht, und die Thränen strömten ihr über die welken Wangen, während sie »meine Kuh, meine Kuh!« schrie.

Wer einen Teil seines Lebens auf dem Lande zugebracht hat, weiß, was die einzige Kuh für den Armen bedeutet. Sie ist das Resultat vielleicht zwanzigjähriger Anstrengungen, die Sparbüchse unausgesetzter Entbehrungen, die Verwirklichung langjähriger Hoffnung und die einzig nennenswerte Hilfsquelle im Hause, sie ist der einzige Stolz des Demütigen, das Unterscheidungszeichen zwischen ihm und den noch Ärmeren. Und nun lag sie dort, tot und verstümmelt.

Da kam der junge Ingenieur, rot und erhitzt, herbei. Es ist möglich, das der Schelm ein Interesse daran hatte, das Fräulein eine Weile über die Lebensgewohnheiten der Lokomotive in Ungewißheit zu lassen. Wie die Cylinder und Rohre in der menschlichen Brust beschaffen sind, schien er jedenfalls zu wissen, denn als er die Alte erblickte, legte es sich wie ein feuchter Schleier über seine jungen, heiterblickenden Augen. Er wandte dem Zuge den Rücken zu, nahm eine Banknote aus seinem Portemonnaie und näherte sich der Alten.

Doch auf einmal schien er sich anders zu besinnen. Er nahm den Hut ab, warf die Banknote hinein und hielt ihn dann den Passagieren vor:

»Eine neue Kuh für die alte Frau!«

Damals gab es wohl noch nicht so viele Subscriptionslisten für das Magdalenenheim und die Santalenmission, und gewiß nicht so viele ausgezeichnete Bilderlotterien zu wohlthätigen Zwecken, wie heutzutage, denn diese direkte Aufforderung fand lebhaften Beifall. Es regnete förmlich Geld; gerade nicht Banknoten, aber doch Kronen und Zweikronenstücke, und eine arme Småländerin, deren Billet auf Malmö lautete – sie sollte wohl auf die dänische Weide – streckte die schmutzige Hand mit einem Vierschillingsstücke aus und sagte: »Gebt ihr das! Herrje, wenn das Mutters Hjelma gewesen wäre!«

Und am Coupeefenster stand das junge Mädchen, das an der breiten Brust des Ingenieurs »unbewußt« gegen die explodierende Lokomotive Schutz gesucht hatte. Sie hatte eine kleine blauseidene Börse in der Hand und suchte ein Zweikronenstück hervor. Als der Ingenieur zu ihr trat, legte sie die Münze in seinen Hut und sah ihn obendrein noch mit einem Blicke an, wie ihn dumme Leute nicht gegen alles Geld der Welt vertauschen wollen.

Er sah auch nicht so übel aus, als er barhäuptig mit dem Hute in der Hand auf dem Bahndamme stand und die Sommersonne in seinen braunen Locken spielen ließ. Herr Gott, die Zeiten sind ja vorbei, wo man in Stahl und Eisen, mit dem Blute seines Nächsten befleckt, vor die Dame seines Herzen trat, und die Weise sein Herz zu zeigen hat sich verändert.

Während das Einsammeln vor sich ging, lehnte die Alte wie im Schlafe am Zaune, doch als der Ingenieur nun zu ihr trat und ihr den Inhalt seines Hutes in die Schürze schüttete, wurde sie lebendig, das muß ich sagen. Sie heulte wie besessen und wünschte uns allen Gottes Segen.

Und jetzt erst, da der sogenannte zeitliche Verlust ersetzt war, kam die Freundschaft zwischen der Alten und ihrer Kuh zu ihrem Rechte. Die teure Schürze mit der rechten Hand krampfhaft festhaltend, fiel sie auf die Kniee und streichelte mit den mageren, braunen Fingern der Linken liebkosend die rote, blutüberströmte Haut ihrer verlorenen Kuh.

»Grimla, liebe Grimla!« schluchzte sie und weinte noch lauter, als wir abfuhren.

Man soll sich nicht so sehr darüber wundern, daß die Armen nicht »soviel Gefühl wie feine Leute« haben. Wenn ihre Mittel es ihnen erlauben, Herz und Gemüt zu zeigen, so haben sie es ebenfalls, das können Sie mir glauben.«

»Sie müssen sich aber sehr viel Zeit auf freier Strecke gelassen haben, Herr Blomdahl?«

»Ja, wie gesagt, dazumal hatte man es noch nicht so eilig; das Überfahren einer Kuh war in jener Zeit ein großes Ereignis – »Grimla« war gewiß die vierte, die hier in Schweden überfahren wurde – und es gingen auch noch nicht so viele Züge. Wie lange haben wir Ihrer Meinung nach wohl dort gehalten?«

»Oh, wenigstens eine gute halbe Stunde.«

»Elf Minuten. Genau elf Minuten. Auf der Eisenbahn muß alles schnell gehen, selbst bei einem gemischten Zuge, der – stillsteht, damals konnte ich auch einen Zug schneller abfertigen, als ich nun auf meine alten Tage zu plaudern vermag.«


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