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II.
Ein småländischer Junge

»Heute kommen Sie wie gerufen! Hier haben wir gerade die ersten Stachelbeeren. Einen Teller, Mädchen! Der fremde Herr kann doch nicht aus der Schüssel essen und die Schalen über das Geländer spucken.

Sie können es mir glauben, von nun an, wo die Stachelbeeren reif sind, bis zu der Zeit, wo die Pflaumen zu Ende gehen, ist es auf allen Zügen ein ewiges Essen und Lutschen. Und die verwünschten Buben stecken Kirschenkerne zwischen die Fensterrahmen.

Haben Sie je ein Mädchen Pflaumensteine oder Kirschenkerne zwischen die Fensterrahmen stecken sehen? Das haben Sie nicht. Die Mädchen wickeln dergleichen in ein Stück Papier, das sie, wenn es durch einen Wald geht, verstohlener Weise aus dem Fenster werfen. Sie werden rot, wenn es zufällig einer sieht. Doch die Buben! Pfui!

Einige von ihnen sind jedoch auch nicht so übel. Noch heute nach sechsundzwanzig Jahren erinnere ich mich eines kleinen Jungen, der in T. mit einer großen Tüte Birnen einstieg. Er war bleich und mager und glich einem halbverhungerten Kater, und seine Jacke sah aus, als wäre sie erst Vaters Rock gewesen und dann von einem halben Dutzend Brüdern getragen worden.

»Lieber Herr Schaffner, wollen Sie sich nicht ein bischen um Janne kümmern. Es ist das erste Mal, daß er allein reist.«

Diese Worte kamen von einer alten, mageren Frau mit einem verblichenen Mantel, während ein grauhaariger Mann mit einem großen Schnurrbarte, der den Eindruck eines ehrbaren Sergeanten machte, den Buben und die Birnentüte ins Coupee hob.

Ich besah das Billet, ein Kinderbillet. Er sollte nach G., wo die Schule gerade anfing, und das thränenreiche Lebewohlsagen wollte gar kein Ende nehmen.

»Hast du auch den Kofferschlüssel, Janne?« – »Vergiß nicht, die wollene Unterjacke anzuziehen!« – »Gott segne dich, mein kleiner Junge!« – »Grüße Tante Jülla!« – »Nimm dich nur vor den Straßenjungen in acht!« – »Vergiß ja nicht den Korb im Coupee!« – »Adieu!« – »Du hast zehn Hemden und sechzehn Tasch ...«

Bumm! Die Thür wurde zugeschlagen, und Janne fuhr auf eigene Hand in die Welt hinaus.

Als der Zug sich in Bewegung setzte, trockneten ein paar Thränen, die noch in den Ecken der hellblauen Augen saßen, und auf der nächsten Station sah sich der Junge seelenvergnügt um.

Da waren ein Herr und eine Dame, denen es nicht gelang, die Aufmerksamkeit der alten Obsthändlerin, die an dem langen Personenzuge entlang wanderte, auf sich zu lenken.

»Kannst Du mir denn nicht eine Birne verschaffen, Eduard«, sagte die Dame.

Die beiden mußten noch nicht lange verheiratet sein, denn er wollte der Alten sofort nacheilen, doch da kam ich dazwischen und forderte die Billette ab.

Im selben Augenblicke streckte sich eine kleine, schmale, braune Hand aus, und eine dünne Stimme kreischte auf småländisch:

»Wollen die Herrschaften vielleicht diese hier kaufen?«

Es war Janne, der das letzte Geschenk seiner Mutter für fünfzehn öre opferte. Lieber ein paar Kupferdreier als die saftigen Birnen! Und er war kaum zehn Jahre alt!

Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich den Buben im Gedächtnisse behielt.

Ich erkannte ihn gleich wieder, als er vier Tage vor Heiligabend in einem dünnen, fadenscheinigen Überrocke in T. ausstieg und dem Manne mit dem großen, grauen Schnurrbarte um den Hals fiel.

»Ein brillantes Zeugnis, Papa, und drei Reichsthaler mehr, als Du mir mitgegeben!« hörte ich ihn sagen.

Ein Semester nach dem andern verfloß; der Kleine wuchs heran, die Wangen rundeten sich, und das Haar verlor seine kreideweiße Farbe. Im Sommer begleiteten ihn beide Eltern zur Bahn und holten ihn auch ab, zur Weihnachtszeit und in den Osterferien kam nur der Vater. Einmal hörte ich den Buben gleich nach der Begrüßung sagen:

»Hast Du Brot für Perla mitgenommen, Papa?«

»Ja, weshalb fragst du danach, Junge?«

»Ein Stück Brot würde mir gut schmecken, ich habe unterwegs nichts gegessen, die Bahnhofsrestaurationen sind teuer.«

Ich hörte dem Jungen mit offenem Munde zu, doch dann fiel mir ein, daß wir uns mitten im Hintersmåland befanden, wo die Leute ja mehr »umsichtig« sein sollen als anderswo.

Wenn man unaufhörlich neue Gesichter sieht, denkt man nicht weiter an einen einzelnen Smålandsbuben. Erst als Janne einmal mitten im Semester nach Hause kam, erinnerte ich mich, ihn mehrere Jahre nicht gesehen zu haben. Er ging nun also nicht mehr zur Schule.

Papas Rücken war gebeugt und der Schnurrbart kreideweiß, als ich ihn in T. auf dem Perron sah, doch sein Gesicht strahlte wie ein blankgescheuerter Kupferkessel, als der Junge ihm um den Hals fiel und ausrief:

»Ich habe Zulage bekommen: sechshundert Kronen und freie Station!«

Herr Janne – ich hatte keine Ahnung, wie er mit Vatersnamen hieß – schien mir ein so außerordentlich gesetzter Jüngling zu sein, daß ich wirklich ganz verblüfft war, als ich ihn das Jahr darauf in D. mit einigen erhitzten, lärmenden und nichts weniger als nüchternen Herren einsteigen sah. Die Herren erzählten Anekdoten, Janne ebenfalls. Die Herren sangen lustige Lieder, Janne sang mit. Die Herren tranken Cognac, Janne half ihnen dabei. Die Herren prahlten mit ihrem Cognac – doch, sieh, da erklärte Janne rund heraus, ein erbärmlicheres Gesöff gäbe es nicht, doch wenn die Herren Lust hätten, einmal in ihrem Leben wirklichen Cognac zu trinken, so konnte er ihnen zufällig solchen überlassen, und das zu einem Preise, der jede Konkurrenz unmöglich machte.

Dies hörte ich, als ich in E. die Billette coupierte, und als der Zug in M. hielt, verglich Janne sein Notizbuch mit denen der einzelnen Herren, wobei die Worte fielen: »Gutsbesitzer E. Larsson: 150 Flaschen – Polizeirichter F. Strömqvist: 60 Flaschen – Inspektor S. Kamp: 45 Flaschen.«

Als die andern ausgestiegen und Janne allein geblieben war, machte er einen so nüchtern, ernsten und feierlichen Eindruck wie ein Pastor beim Hausverhör.

Ein paar Jahre später fuhr ich mit dem Nachtzuge. Der Tag begann zu grauen und in den Coupees begann es sich zu rühren.

»Haben wir Verspätung, Schaffner? Es ist entsetzlich, wie langsam es heute geht. Will es denn nie ein Ende nehmen!«

Ein bleiches Gesicht mit verweinten Augen blickte mich an: es war Herr Janne in Trauerkleidern.

Als der Tag anbrach, hielten wir in T. Da stand die hagere, gebeugte, alte Frau und breitete weinend die Arme aus. Da der Zug nur wenig Passagiere mitführte, konnte ich die beiden mit Muße beobachten.

»Papa dachte an Dich in seiner letzten Stunde und segnete Dich!« schluchzte die Alte.

»Mein lieber, lieber Vater!« flüsterte der Sohn. »Alles zum Einkleiden der Leiche und Trauerzeug für Dich habe ich mitgebracht, Mama. Ich bekam es gegen Baarzahlung mit bedeutendem Rabatt von einem Freund in der Branche«, fügte er unter strömenden Thränen hinzu.

Wieder vergingen Jahre, und ich erhielt eine andere Strecke. Als wir an einem Sommerabende an der kleinen Station F. hielten, herrschte dort ungewöhnliches Leben. Eine Hochzeitsgesellschaft brachte ein junges Paar zur Bahn.

Die Braut, eine schlanke, feine, hübsche, junge Dame ging von einem Arm in den andern. Am längsten hielt sie sich bei Vater und Mutter auf, die mitten in aller Freude weinten. Es ist auch wohl nicht so leicht, glaube ich, sein Liebstes, das man einige zwanzig Jahre gehegt und gepflegt hat, einem Manne, den man vielleicht noch nicht ein paar Monate kennt, abzutreten.

Der Bräutigam – ja wahrhaftig, das mußte Herr Janne sein! Hübsch und stattlich sah er aus. Das kleine, bleiche Kinderbillet, das einst in T. ins Coupee gehoben wurde, war ein ganzer Mann geworden, und statt der Birnentüte hatte er jetzt eine hübsche, junge Frau. Ja, so geht es im Leben zu. Einige kommen zurück, sie mögen nun Tour oder Retour fahren, andere reisen mit Schnellzugsgeschwindigkeit ins Paradies, und wieder andere müssen ihr ganzes Leben hindurch gegen die Bremse anarbeiten.

Und als sie ins Coupee kamen – geh und hole die Cognacflasche, die Zuckerdose und mein heißes Rasierwasser, Mädchen! – da setzten sie sich einander gegenüber und blickten sich so tief in die Augen, als wollten sie nach Frostrissen in einer Stahlschiene suchen. Das mußte eine Heirat aus Neigung sein.

Die Dampfpfeife ließ sich hören – einmal – zweimal – dreimal. Mitten auf der Strecke. Dann ein Stoß, ein Brüllen, die Bremse kreischte und – der Zug hielt.

Rechts lag ein Bauernhof und auf dem Bahndamme ein Ochse, der sich hatte überzeugen wollen, ob er oder die Lokomotive den steifsten Nacken besitze. Jetzt hatte er so gründlichen Bescheid bekommen, daß er fürs Leben genug daran hatte.

Der Eigentümer, ein Bauer, stand fluchend neben seinem Ochsen.

Ich hatte die Coupeethüren geöffnet, damit die Passagiere aussteigen und nachfühlen konnten, daß sie selbst nicht übergefahren waren.

»Was wollt Ihr für den Ochsen haben?«

Der Fragende war Herr Janne.

»Herrgott! Für das Vieh?«

»Ja.«

»Kreuz ... hundert ... neunzig – – – siebzig Kronen will ich wenigstens haben.«

»Abgemacht. Salzt das Fleisch gut ein und schickt es an Fabrikbesitzer J. Hult, Hafrebo bei Vändåkra.«

Die Lokomotive pfiff. Die Passagiere stiegen hastig ein, und das junge Paar saß wieder in seligem Entzücken, Hand in Hand, Auge in Auge.

»Aber Janne, wie konntest Du? An einem solchen Tage – – – und ich war so aufgeregt – – – wir hätten nun ja alle tot sein können – – –«

»Doch da wir es nun glücklicherweise nicht sind, meine süße Emma, so sehe ich nicht ein, weshalb ich nicht ein vorteilhaftes Geschäft abschließen sollte. Frisches, gesundes Fleisch. Die Lokomotive ist ein guter Schlächter.«


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