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I.
Der Schaffner

Ein kleiner aufblühender Badeort an der großen fashionablen Westküste zog mich unbeschreiblich an, hauptsächlich weil mir gesagt worden war, daß Bromsö – wir können es ja so nennen – selbst nichts weniger als »fashionabel« sei.

»Man lebt dort ganz im Naturzustände. Man schlägt sich nicht und respektiert das Eigentum anderer, im übrigen geht es dort ebenso ungeniert zu wie auf einer mittelgroßen Insel in der Südsee,« versicherte der »Bade-Intendant«, den ich im Frühlinge in Falkenberg traf und der mich für Bromsö »pressen« wollte.

»Geht man in Hemdsärmeln zur Table d'hôte, Freundchen?«

»Hm ... nein ... ja ... das heißt ... zu Tische gerade nicht, aber auf Deiner Veranda kannst Du Dir gern den Rock ausziehen, wenn Du dazu Lust hast.«

Dies allein war ja schon zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts nicht zu verachten, und ich kam also – kam und fand ein diminutives Lysekil mit »Kaffeegesellschaften und gemeinschaftlichen Ausflügen,« mit Cliquen und Courschneiderei, Witzbolden, Radfahrern, kurzgeschorenen Damen und mit allen sonstigen Schattenseiten der Civilsation, inklusive drei reiche Frauen in den besten Jahren, die uns jeden Mittag ein neues Kleid vorführten und einander beim Butterbrottische mit gierigen, neidischen, unheimlich glühenden Augen maßen, bis sie sich überzeugt hatten, wer von ihnen die Eleganteste war.

Meine Blicke flogen von den geputzten Damen vorwurfsvoll fragend zu dem Intendanten hinüber. Er schlug die Augen nieder und machte, daß er mit einem Stück Preßkopf fortkam. – Man aß dort nämlich an kleinen Tischen und holte sich das Essen selbst vom Büffette. – Doch er entging mir nicht.

»Nennst Du dies ungeniert?«

»Hm ...«

»Glaubst Du, die da würden auf die Südseeinseln passen? Ich fürchte, die alten, farbigen Vettern dort würden die Zähne in alle die Garnierungen verwickeln.«

»Schrei doch nicht so entsetzlich! Ja, hm ... voriges Jahr war es hier wirklich einfacher,« war alles, was der Verräter sagen konnte.

Als ich in panischem Schrecken vor diesen »Märtyrern des Opferwesens der Kultur« die Flucht ergriff, fand ich meinen Schaffner.

Erst lief ich am Strande entlang, glaubte aber immer noch Frau Strömboms perlfarbenes Kleid mit den braunen Plüschärmeln und den heliothropfarbenen mit Rosen bestickten Seidenrock der Fabrikbesitzerin Engblad vor mir zu sehen. Da wandte ich mich den Bergen zu und stieß dort auf einen kleinen Wald duftender Syringen, einen grauen, zottigen Pudel und einen Gartenzaun. Dahinter lag inmitten grüner Bäume und Büsche ein kleines rotes Haus mit weißangestrichenen Querbalken. Auf der von wildem Wein umrankten Veranda saß ein alter Graubart mit vollen, blühenden Wangen, welche die Sonne von mehr als sechzig nordischen Sommern gebräunt hatte. Über denselben glänzten zwei milde, freundliche Augen so lebensfroh wie die eines Kindes.

Daß »er« in seiner Veranda in Hemdsärmeln saß, kann dem lügnerischen Intendanten am jüngsten Tage nicht zur Entschuldigung dienen, denn er gehörte augenscheinlich nicht zur Badegesellschaft, und seine Hemdsärmel befanden sich wenigstens zweitausend Meter von dem Centrum der Civilisation, das man in Bromsö »Badesalon« nannte.

»Kusch, Ajax!« sagte er mit milder Freundlichkeit, als der Pudel Miene machte, die Haltbarkeit des Zeuges zu untersuchen, das die Strömstader Schneider einem Fremdling für fünf Kronen die Elle geben.

Ein so unparteiisches Auftreten zu Gunsten eines Unbekannten erforderte einen Dank, und ich lüftete den Hut.

»Ja, der Herr kann ruhig sein, er beißt nicht.«

Von da an grüßte ich, wenn ich vorbeiging; einmal bat ich auch um ein Glas Wasser, und – Gott weiß, wie es zuging – an einem Julivormittage eine Woche darauf saß ich auf der Veranda und trank ein Glas Himbeersaft, während der Alte mit Behagen eine Regalia reina aus meiner Cigarrentasche rauchte.

Der Greis war Witwer. In der andern Ecke der Veranda saß seine achtzehnjährige Tochter Maria mit blonden Zöpfen, blauen Augen, einem kleinen fetten Kinn und einer ein wenig aufwärts gerichteten Nase, in einfachem, hochhalsigem Kattunkleide, und beschäftigte sich mit Weißnäherei. Bisweilen breitete sie die beinahe fertige Näherei vor sich aus. Es war ein langes, sackartiges Ding mit kurzen, spitzenbesetzten Ärmeln und einer Spitze um den Halsausschnitt. Keiner, der so glücklich gewesen ist, bei einer europäischen Familie auf dem Lande die große Wäsche mit zu erleben, konnte über den Zweck und die Beschaffenheit des Kleidungsstückes in Ungewißheit schweben.

Und dieses breitete sie in liebenswürdiger, kindlicher Naivität auf der von der Sonne hellerleuchteten Veranda vor meinen Augen aus!

Gott segne Dich, kleine Maria! Gott segne Dich um so mehr, als die Fabrikbesitzerin diesen Morgen besonders unerträglich war. Seit halb zwölf Uhr stolzierte sie in blutroter Seide umher und redete davon, ein großes Kostümfest im Walde zu veranstalten.

Unten an der Landungsbrücke pfiff ein kleiner Dampfer. Es klang wie der erschreckte Aufschrei einer jungen Dame, wenn sie beim Anblicke einer Maus ihre Röcke um die Beine wickelt.

»Ich spitze immer die Ohren, wenn ich eine Dampfpfeife höre,« sagte der Graubart. »Das ist eine Gewohnheit aus meiner Dienstzeit als Schaffner.«

»Sind Sie Eisenbahner gewesen, Herr Blomdahl?«

»Ja freilich, achtundzwanzig Jahre; ich war einer des ersten Personals hier in Schweden. Ich wurde ein wenig früher, als es sonst üblich ist, pensioniert, weil ich ohne meine Schuld in vollkommen nüchternem Zustande zwischen die Puffer geriet. Ich hinke ein wenig, wie Sie vielleicht bemerkt haben. Meine selige Alte beerbte da gerade einen Onkel, siebentausend in barem Gelde, und so habe ich es gut auf meine alten Tage, nachdem ich mich volle achtundzwanzig Jahre wie ein Hund abgeplagt habe.«

»Merkwürdig!«

»Was? Daß ein armer Lump eine Erbschaft macht, oder daß ein Eisenbahner sich die Hüfte quetscht?«

»Nein, daß Sie ... hm ... Schaffner gewesen sind.«

»Weshalb? Jaso, wir unterhielten uns gestern über Dinge, von denen ein Schaffner, Ihrer Meinung nach, nichts versteht. Ja, sehen Sie, ich war Obersekundaner, als mein Vater starb, und mußte froh sein, gleich etwas verdienen zu können. Ich hatte einem alten Freunde meines Vaters dafür zu danken.«

»Wurde es Ihnen nicht schwer, alle Ihre Zukunftspläne aufzugeben?«

»Das läßt sich nicht leugnen,« antwortete der Alte und stützte träumerisch den Kopf auf die Hand. »Für einen bunten Rock mit Schnüren und blanken Knöpfen hatte ich natürlich immer geschwärmt, doch es sollte eigentlich eine Assessoruniform sein, denn ich wollte Jurist werden. Statt dessen ist es ein Schaffnerpelz geworden. Nun, in hundert Jahren ist es einerlei. – Wo bist Du mit den Zündhölzern geblieben, Mädchen?«

»Ja, man kann auch auf der Eisenbahn das Leben studieren. Da bekommt man wenigstens immer etwas zu sehen.«

»Ja, wahrhaftig. Doch »die Eindrücke« – wie die Schriftsteller sagen – sind doch meistens ein wenig unklar und verwischt. Gewöhnlich gleichen sie jenen amerikanischen Augenblicks-Photographien, von denen man sechs für 50 öre bekommt; doch wenn man einige Jahre hintereinander auf derselben Strecke fährt und oft dieselben Gesichter sieht und sich ein wenig nach ihnen erkundigt, so kann bisweilen auch ein guter Kupferstich daraus werden.«

»Hören Sie, Herr Blomdahl, Sie müssen mir ein wenig aus ihrer langen Dienstzeit mitteilen.«

»Damit Sie Zeitungsgeschichten und Bücher daraus machen? Nein, wissen Sie, ich glaube nicht, daß sich meine Erinnerungen dazu eignen. Doch wollen Sie zuhören, so will ich Ihnen gern allerlei erzählen, denn wenn ich keine Namen nenne, so thue ich ja niemand etwas damit zu Leide.«

»Danke, Herr Blomdahl!! – War ihnen in dem Rocke mit den blanken Knöpfen anfänglich nicht ein wenig wunderlich zu Mute?«

»Ja, alles war mir so neu und ungewohnt. Ich war noch nie mit der Eisenbahn gefahren, als ich Schaffner wurde, und einige Billette ließen sich anfangs sehr schwer coupieren.«

»Jawohl. Als ich zum erstenmal als festangestellter Schaffner auf einer neuen Strecke fuhr, saß ein Herr mit einer Studentenmütze in einem Coupee zweiter Klasse und las in einem Buche.«

Er nahm keine Notiz von mir.

»Darf ich um das Billett bitten?« sagte ich. Als er aufblickte, erkannte ich ihn. Es war Baron – doch halt, wir wollten ja keine Namen nennen. Wir hatten in der Schule nebeneinander gesessen. Er wurde dunkelrot, und mir stieg auch das Blut ins Gesicht.

»Bitte!« sagte er und that, als hätte er mich nie gesehen.

Doch als er ein paar Stationen weiter allein im Coupee geblieben war und sich die Sache wohl dahin überlegt hatte, daß er den Edelmütigen spielen wollte, streckte er mir die Hand hin und sagte: »Blomdahl? Ja, wirklich Blomdahl! Nun, wie geht ... wie geht es ... hm ... Dir jetzt?«

»Gut, Herr Baron!« antwortete ich kurz und schloß die Coupeethür. Ich mußte innerlich lachen, als ich daran dachte, wie oft ich ihm bei Rabes lateinischen Stilübungen hatte helfen müssen. In meiner Schulzeit hatten wir Rabes lateinische Grammatik.

Doch als ich dann in mein Schaffnercoupee kam und Bäume, Büsche, Seen und Häuser an meinem Fenster vorüberfliegen sah und daran dachte, daß mein alter Schulfreund nun als Student zu seinen reichen Eltern reiste, während ich, der doch immer Primus gewesen ...«

»Nun, da?«

»Da ... ja, da kam das Leben mit seiner Wirklichkeit, seinem Zwange und seinen Forderungen und machte meinen Grübeleien ein Ende. Die Bremse kreischte, der neue Schaffner sprang rasch auf den Perron und rief:

»Stehag! Fünf Minuten Aufenthalt!«


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