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III.
Als der alte Pastor nach Hause kam

Der alte Pastor stand stets so breitbeinig und ruhig in seinem vertragenen Rocke und mit dem Blicke eines neugierigen Kindes vorne auf dem Bahnsteige in D.

So weit ich mich erinnern kann, hatte er nie ein Billet gelöst und war mitgefahren. Dazu hatte er gewiß kein Geld. Doch der Weg von Stahl und Eisen und das rauchschnaubende Füllen – Sie müssen es mir verzeihen, daß ich bisweilen hochtrabend rede, das kommt von den Aufsätzen des ehemaligen Obersekundaners – hatten eine Umwälzung in dem kleinen Kirchspiele hervorgebracht, und der Pastor, der zwanzig Jahre lang am Ende der Welt zu wohnen geglaubt hatte, fand sich plötzlich an einer der Kommunikationspulsadern der neuen Zeit. Bei gutem Wetter und klarem Himmel konnte man das Dach des Pfarrhauses aus einer kleinen Lichtung im Föhrenwalde gleich hinter der Station hervorgucken sehen.

Er mußte sich nicht recht an die Lokomotive gewöhnen können, denn sie schien ihm stets etwas Neues zu sein. Er war sicher nur ihretwegen so oft auf dem Bahnhofe. Er betrachtete sie lächelnd und erhob vergnügt das graue Haupt, wenn sie heranbrauste. Der stille Mann bewunderte gewiß ihre gewaltige, gezähmte Kraft, obgleich er selbst nicht mehr Dampf an Bord gehabt hatte, als nötig gewesen war, um mit Müh und Not dieses kleine Pastorat im Walde zu erhalten.

Seine Frau und die Töchter fuhren bisweilen ein oder zwei Stationen mit. Eine kleine, runde Frau mit milden blauen Augen und zwei hübsche Mädchen in einfachen schlechtsitzenden Kleidern. Die braunen Händchen waren selten mit Handschuhen bekleidet. Sie reisten gewöhnlich zu einer ebenso anspruchslosen Familie auf der nächsten Station, und wenn sie dort eintrafen, war die Freude grenzenlos.

»Willkommen, willkommen, liebe Freunde! Habt Ihr den Pastor nicht mitgebracht?«

»Danke, danke! Papa fühlt sich zu Hause am wohlsten.«

Doch am Abende sah ich stets sein graues Haupt auf dem Perron in T., und da empfing er die Seinigen, als kehrten sie von Amerika zurück. Einmal im Herbste – ich glaube, es war mitten im November – fuhr der Pastor mit seinem kleinen Pålle vor dem Bahnhofsgebäude vor, als wir gerade einfuhren, und gleich darauf trat er zum ersten Male mit einem Billette in der Hand, auf den Perron. Sein Gesicht war bleich, seine Augen trübe, und der Greis war so abgemagert, daß der blanke Überzieher große Falten warf.

Seine Frau und die Töchter waren auch da, wollten ihn aber nur an den Zug begleiten. Dort sagten sie einander wohl hundertmal Lebewohl und weinten leise, und alle drei fielen dem Alten um den Hals und schluchzten.

»Ach Gott, wenn Du doch gesund zurückkämest, Papa!«

»Du weißt, Anna, daß ich nicht reisen und unsern letzten Sparpfennig angreifen wollte, doch Ihr ließt mir ja keine Ruhe. Ja, ich weiß, daß es aus Liebe geschah. Gott segne Euch!«

»Das Billet!«

»Adieu, Papa! Komm gesund wieder! Lebewohl, lieber, lieber Papa!«

»Darf ich um das Billet bitten?«

»Gott tröste mich, wo habe ich es gelassen? Mama, Mädchen, welch ein Unglück! ... Gott sei Dank, hier ist es, im Handschuh!«

Bumm, bumm! Jetzt war das zugefrorene Coupeefenster zwischen ihnen. Die magere Hand des Alten tastete hülflos an der Scheibe. Ich öffnete wieder und ließ das Fenster herab.

»Vielen Dank! Ja, die Adresse wißt Ihr: ›Prinz Friedrich Hospital‹ und dann natürlich ›Kopenhagen‹. Ich werde mich dort einsam fühlen.«

Jetzt rannen der kleinen Frau wieder die Thränen über die Wangen. Ich stand schon in meinem Coupee, und das Signal zur Abfahrt war gegeben.

»Lebewohl, Gustav! Gott gebe, daß wir ein freudiges Wiedersehen fei...«

Eine Rauchwolke hüllte sie alle drei ein. Der Alte stand am Fenster und betrachtete sie mit Wehmut. Dann warf er einen langen Blick auf das Bahnhofsgebäude und drehte den Kopf in der Richtung, wo bei klarem Wetter das kleine Dach aus dem Walde hervorguckte.

Er war sehr kümmerlich geworden, der Alte. Das faltige Antlitz wurde mit jeder Station, die wir passierten, bleicher, und in Malmö ließ ich ihn von einem Eisenbahnarbeiter nach dem Hafen bringen. Dazumal gab es nämlich noch kein Dienstmannsinstitut.

Man hatte es damals, in der ersten Zeit der Eisenbahnen, auch mit den Zügen noch nicht so eilig. Fünf bis sechs Minuten an jeder Haltestelle und eine Viertelstunde auf jeder größeren Station ruhte man sich aus. Deshalb fehlte es mir auch nicht an Zeit, mich nach den Pastortöchtern umzusehen, die stets auf dem Bahnhofe waren, wenn der gemischte Mittagszug von Süden kam.

Kaum hielt der Zug – von Ablieferung des Briefbeutels konnte noch gar keine Rede sein – so sah ich sie auch schon an den Postschalter eilen und hörte sie erregt fragen:

»Lieber Herr Inspektor, ist ein Brief von Papa da?«

Sehen Sie, der Postschreiber auf so einer kleinen Station kennt die Handschriften seines korrespondierenden Publikums; die Frage war also nicht so einfältig, wie sie Ihnen wohl vorkommt.

War ein Brief da, so sah ich sie, wenn der Zug abging, auf der Landstraße Arm in Arm nach Hause gehen. Sie steckten die blonden Köpfe dicht zusammen und lasen im Gehen den teuren Brief.

Was war das? Zitterte die Hand oder bewegte der Wind die Papierblätter? Drückten sie nicht ein Taschentuch vor die Augen? Wie mochte es im Friedrichhospitale stehen?

Die Zeit verrann; es ging auf Weihnachten. Es war doch ein gutes Ding um den Schaffnerpelz. Damals wurden die Eisenbahnwagen noch nicht geheizt; man wickelte sich gehörig ein und zog den Rockkragen in die Höhe. Mein Papa, der ein feiner Herr war und mit dem Regierungspräsidenten in K. auf Du und Du stand, hatte zu einem Pelze kein Geld gehabt, sein Junge aber, der es nur bis zum Schaffner gebracht hatte, konnte es sich in »dem Fell anderer Tiere«, wie Magister Wallmark zu sagen pflegte, gemütlich machen. Es ist unbegreiflich, wie der Luxus steigt.

»Heute haben wir eine Leiche mit im Zuge, Blomdahl,« sagte mein Kollege und deutete auf einen geschlossenen Güterwagen, als wir an einem kalten Dezembermorgen von Malmö abfuhren.

Im nächsten Wagen sang ein Probenreiter ein munteres Lied, und als wir in Lund hielten, füllten sich alle Coupees mit lustigen Studenten, die sich ihres Lebens, ihrer Jugend und der Weihnachtsferien freuten. Wand an Wand mit ihnen schlief der stille Passagier in seinem schmalen, schwarzen Bette. Wer mochte es sein? Vielleicht einer, dem die lebensfrohe Jugend noch vor Kurzem die warme Hand gedrückt hatte, vielleicht auch ein Unbekannter ohne Familie. Das ging mich nichts an; beim Zuge ist es die Hauptsache, daß man Wasser im Dampfkessel hat und die fahrplanmäßige Zeit einhält.

Klamm – klamm ... Ich öffnete in T. die Coupeethüren für den wenig wahrscheinlichen Fall, daß einer der Passagiere aussteigen und sich hier, wo es absolut nichts zu sehen gab, umschauen wollte. – Da durchzittertete ein Schrei der Verzweiflung die Luft, und als ich mich umwandte, war die Thür des Leichenwagens bei Seite geschoben.

Drinnen, die Arme konvulsivisch am Sargdeckel festgeklammert, knieten die drei, die den alten Pastor zur Bahn begleiteten, als ihre Liebe ihn zwang, fern von der Heimat und den Seinen Heilung zu suchen.

»Oh, Gustav, Gustav! So solltest Du also wiederkommen!« murmelte die Pastorin und preßte die Lippen auf die schwarzen Bretter.

»Papa!« schluchzten die Mädchen und fielen immer wieder neben ihrer Mutter auf die Kniee.

Klipp – klipp ... Bumbum ... und der Zug setzt sich wieder in Bewegung.

Am Zaume, die kleinen zottigen spitzen Ohren und das Maul dem Geleise zugewandt, stand der kleine, braune Pålle. Der Hintersitz des Wagens war fortgenommen. Der Hausherr sollte abgeholt werden, der Hausherr sollte bequem in seinem neuen Überrocke fahren, dem ersten, seit langer Zeit, der nicht in den Säumen blank getragen war.

Die Dezembersonne scheint klar. Dort rechts guckt zwischen den hohen Föhren das niedrige Dach des Pfarrhauses hervor. Dort hatte der alte Pastor von der Welt abgeschieden manches Jahr voll Armut und Entbehrung vorüberziehen sehen und war dabei doch in der Liebe der Seinen und im Frieden mit Gott und seinem Nächsten glücklich gewesen. Dort waren die blonden Mädchen, die nun trauernd das Haupt beugten, mit jedem knospenden Frühlinge höher aufgeschossen, und dort war zuletzt die Krankheit eingezogen, hatte den letzten Heller aus der dünnen Börse genommen und den geliebten Vater aus den Armen der Seinen gerissen. Und sowie das Gnadenjahr zu Ende war, mußten sie nun heimatlos in die Welt hinaus. Ich bin im großen Ganzen nur ein gewöhnlicher Mensch und meine Bildung ist die eines Obersekundaners, doch trotzalledem feuchteten sich meine Augen und die Brust wurde mir zu enge.

»Heute ist es grimmig kalt. Sie haben sogar an den Augenbrauen Eiszapfen hängen, und sie fangen an zu tropfen, Blomdahl!« sagte der Inspektor in G., als ich die Tasche ablieferte.

»Ja, das ist es wirklich,« antwortete meine Wenigkeit.

Der Probenreiter hielt auf dem Sofa Mittagsschlaf – aber die Studenten – es waren meistens »Füchse« oder wie es sonst heißt – freuten sich noch immer ihres Lebens und der Weihnachtsferien, und unverdrossen ertönte ihr:

»Singet vom schönen Studentenleben!«

*

Recht so, Ihr Jungen! Singt davon, solange es währt!

Auch der alte Pastor war einst ein lustiger, junger Student.


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