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Elftes Kapitel.
»Wir wollen es versuchen!«

Er umfaßte nicht die magere, knochige Frauengestalt, mit der er getraut worden war, als er ihr nun zu Hilfe eilte und sie fürsorglich in den Salon führte, sondern ein junges, weiches, warmes Weib, dessen lautes, verzweifeltes Schluchzen von gekränktem Lebensmute, von verwundeter Lebenskraft Zeugnis ablegte.

Er legte sie vorsichtig aufs Sofa und setzte sich auf einen Stuhl, der neben demselben stand.

»Ich müßte Deine verzweifelten Worte vielleicht ignorieren, doch ich kann es nicht. Wir müssen offen und ehrlich gegen einander sein. Bittest Du mich um Verzeihung dafür, daß Du lebst?« Sie neigte schweigend das Haupt, und er sagte nun heftig mit immer lauter werdender Stimme:

»Oh, welche Demütigung! Du hast das Recht, mich für schlecht, sehr schlecht zu halten, doch ich glaube nicht, daß Du das Recht hast, einen solchen Gedanken zu hegen. Habe ich mich Dir je von einer solchen Seite gezeigt?«

»Nein, das hast Du nicht. Und ich halte Dich durchaus nicht für schlecht; ich bin im Gegenteil fest davon überzeugt, daß Du viele gute und edle Eigenschaften besitzest. Doch ... ich habe auf Capri über so manches nachgedacht ... Nicht gleich. Da war ich zu schwach, da dachte ich nur an meine unsterbliche Seele, an Papa und meine Geschwister, die ich nie wiedersehen sollte. Später jedoch ... als ich mit einem entsetzlichen Gemisch von Freude und Furcht das Leben zurückkehren fühlte ... da sah ich ein, daß nichts auf Erden das Schwache und Schlechte so zu erwecken vermag, wie eine Ehe ohne Liebe.«

Er hatte das Gesicht in den Händen verborgen und antwortete nicht.

»Habe ich unrecht?« flüsterte sie.

»Nein, aber unsere ... unsere ... Ver...einigung ist ja keine Ehe! Du bist ebenso wenig mein Weib, wie ich Dein Mann bin, vor Gott und uns selbst sind wir nicht verheiratet! Du hast mir die Möglichkeit geschenkt, die Sorge um den Glückstraum meiner Jugend in meinem lieben alten Heim zu ertragen, und ich will versuchen, es Dir nach Kräften zu danken, das ist alles!«

Sie richtete sich auf und sagte mit mattem, bitterm Lächeln: »Es bedarf keiner Worte, Gösta! Ich weiß, daß Du ein ehrlicher Mensch bist. Sage, las ich nicht Angst und Schrecken in Deinem Blicke, als Du mich heute wiedersahst?«

Er stand auf und trat näher. Ihm war zu Mute, als stünde er vor seinem Richter und sollte einen Eid leisten. In jede Falte seines Herzens mußte er sie blicken lassen. Gab es überhaupt eine Rettung, so war sie nur in unbedingter, schonungsloser Aufrichtigkeit zu finden.

»Nun wohl, ich empfand wirklich Angst und Schrecken, als ich die Todesbraut in eine Braut des Lebens verwandelt sah. Du hast Dich darin nicht geirrt. Doch weshalb ergriff mich dieses Gefühl? Nicht, weil ich darin eine hemmende Fessel für mich sah, nicht weil mein Leben und meine Zukunft sich dadurch anders gestaltet! Der Traum meines Herzens ist ausgeträumt! Doch jetzt bin ich mir meiner Gedanken und Gefühle besser bewußt als während des ersten Eindruckes. Jetzt weiß ich, was mich bei Deinem Anblicke erschreckte und mit Beben erfüllte: der Gedanke an Deine Zukunft, Amely, Deine trübe, freudlose Zukunft. Welches Leben kann ein junges, schönes Mädchen führen, das mit einem ihr fernstehenden und gleichgültigen Manne unlöslich verbunden ist? Du bist bei unserm Handel betrogen worden, Amely. Du glaubtest mir einige Monate voller Schmerzen und Qual zu geben, die Du ebensogut hier wie in Lindenäs verleben konntest. Und nun, da Du erwacht bist, findest Du, daß Du ein ganzes langes Leben fortgeworfen hast, in dem ich Dich des Genusses der Freiheit, aller Freude, allen Glückes beraube! Amely, wem von uns kommt es zu, um Vergebung zu bitten?«

Ihre Antwort war so leise, daß er nur mit Mühe die Worte unterscheiden konnte:

»Du kannst Dich glücklicherweise auch hierin täuschen; ich bin besser, aber nicht geheilt. Mein Leben hängt an einem seidenen Faden, doch, wäre es nun längere oder kürzere Zeit, es ist ein Geschenk aus Deiner Hand. Hättest Du meinen Weg nicht gekreuzt und mich nicht aus Lindenäs entfernt, so läge ich jetzt im Grabe. Ich danke Dir für Deine Worte! Doch sei nun aufrichtig, Gösta, auch wenn es Dir schwer werden sollte. Verabscheust Du mich sehr? Ich meine, quält Dich mein Anblick?«

Seine Augen füllten sich mit Thränen.

»Nun bist Du grausam, Amely! Ich achte und ehre Dich, ich leide unter dem Gedanken, Dir eine Fessel zu sein. Ja ... nur das Bewußtsein, Dir ein unsühnbares Unrecht zugefügt zu haben, verhindert mich wirklich etwas von Dir zu halten.«

Ihr Gesicht erhellte sich und sie fiel lebhafter als zuvor ein:

»Doch dann, Gösta ... dann kann das Leben ja für uns ganz erträglich werden! Ich will thun, was ich kann, um es Dir ... um es uns beiden ...«

»Ach, Du gutes, unschuldiges Kind! Verstehst Du denn nicht, daß mit der Lebenskraft sich auch die Forderungen des Lebens geltend machen, daß die Bäume Blätter treiben müssen, wenn der Saft in den Stämmen steigt! Verstehst Du denn nicht, daß der junge, gesunde Mensch Sehnsucht empfindet, daß das Herz nach Glück und Liebe verlangt?«

Sie zuckte zusammen und erhob stolz das Haupt.

»Du sagtest vorhin, daß ich weder vor Gott, noch vor uns selber Dein Weib sei. Das ist wahr. Doch ich werde nie vergessen, daß ich es vor der Welt bin.«

»Das weiß ich. Keine Verleumdung wird der Herrin von Halleborg je anhaften. Und ich glaube noch mehr als das. Wie wenig wir Menschen auch im allgemeinen Macht über die Gefühle unseres Herzens besitzen, und wie unwiderstehlich die Gewalt der Liebe auch sein mag, so bin ich doch fest davon überzeugt, daß Du moralisch zu hoch stehst, um das Liebesbedürfnis Deines jungen Herzens auf einen bestimmten Gegenstand zu übertragen, und wäre es auch nur in der Tiefe Deines eigenen Bewußtseins. Doch infolge der Konsequenz der Naturgesetze muß dieses Verlangen erwachen, und ich bin zu seinem Mörder bestimmt. Verstehst Du nun, daß ich es bin, der um Vergebung flehen muß?«

Sie stand auf, ergriff seine beiden Hände und sagte mit feierlicher Stimme:

»Nein, ich verstehe Dich nicht! Doch ich verstehe, daß völliges, offenes Vertrauen wie in dieser Stunde uns allein vor künftigem Elende retten kann. Wenn einst die Stunde kommt, da ich verstehe, was Du mir eben klar zu machen versucht hast, werde ich es Dir sagen, das schwöre ich Dir. Doch gelobe mir nun auch, daß Du es mir offen mitteilen wirst, wenn ich ... wenn ich eines Tages Deinem ... Deinem Glücke im Wege stehen sollte.«

»Mein Wort darauf!«

»Und wollen wir nun einander nicht helfen die Bürde, mit der wir uns selbst beschwert haben, geduldig zu tragen und mutig auf unserer Bahn vorwärts zu schreiten, sei sie nun lang oder kurz?«

»Wir wollen es versuchen! Und nun gute Nacht! Mögen alle guten Engel über Deinem Bette Wacht halten! Versuche auch Du, Halleborg als Dein eigenes, wirkliches Heim anzusehen, Amely!«

»Ich danke Dir, gute Nacht!«

Als Amely in ihr Schlafzimmer trat, kniete sie vor ihrem Bette nieder und seufzte: »Ich danke Dir, lieber Vater im Himmel, daß dieser Tag, vor dem ich mich so unbeschreiblich geängstigt habe, nun vorüber ist! Ich danke Dir, mein Gott, daß er, trotz der traurigen Verirrung, die ihn zu meinem Gatten gemacht hat, doch ein guter, edler Mensch ist! Oh, mein Gott, vergieb uns beiden, daß wir eines Deiner heiligsten Gebote verletzt haben! Ich verstand es nicht, ich begriff es nicht! Sei mir gnädig und sende mir Kraft aus der Höhe!« – »Vergieb uns beiden.« So hatte sie denn auch hier für ihn gebetet! Ein süßer, stiller Friede zog in ihr Gemüt ein, und das Herz wurde ihr warm. Sie preßte beide Hände gegen die Brust. Sie fühlte dort keinen physischen Schmerz mehr, und doch weilte sie schon seit Wochen nicht mehr unter dem milden Himmel, der ihr die Gesundheit wiedergegeben hatte. War es denn wirklich wahr? War sie geheilt? Lag das Leben wirklich ebenso vor ihr wie vor andern Menschen, die nicht wissen, was es ihnen bringen und wie lange es währen wird? War die zum Tode Verurteilte begnadigt worden?

In welche Strafe wurde das Todesurteil doch verwandelt? Die Verurteilten wurden ja zu lebenslänglichem Zuchthause begnadigt. Ja, so war es! Und Gösta schien andeuten zu wollen, daß sie nun im Begriffe sei, mit der lebenslänglichen Zwangsarbeit zu beginnen. Welch abscheulicher Gedanke! Ob es sich wohl wirklich so verhielt, daß sein Herz ausgeträumt hatte und nicht wieder erwachen konnte? Hatte man nicht so oft gehört, daß Männer ... Wenn eine andere ...! Oh! Ja, nun fühlte sie einen stechenden Schmerz in der Brust. Wenn es so käme, dann wollte sie sterben, das war ihr fester Wille.


Die holde Gestalt, die ihn am nächsten Morgen, ein wenig müde zwar, aber doch mit Grübchen in den Wangen und glänzenden Augen, am Frühstückstische erwartete, hatte unter seinem Dache geschlafen; sie trug seinen Namen und nur einige unverschlossene Thüren lagen Tag und Nacht zwischen ihnen. Der feinfühlige Mann empfand bei diesem Gedanken ein Unbehagen, als hätte er ein junges Mädchen kompromittiert.

Wenn dies unerträglich würde, wenn sie sich eines Tages dagegen auflehnte und ihren Anteil an Lebensfreude und Glück forderte, wenn sie sich dereinst – wer konnte es wissen! – zu einem andern Manne hingezogen fühlte und er sie frei gäbe, würde dieser andere ihm dann Glauben schenken, wenn er, Baron Gösta Hallenhjelm, sagte: »Du bist für sie der Erste. Dein Mund hat ihre feine Wange zuerst geküßt. Mein Haus ist ihr ein väterliches Dach gewesen.«

Mild und still, doch fest und bestimmt, übernahm sie die Pflichten einer Hausfrau. Infolge ihrer eigenen Kränklichkeit und des in ihrem Elternhause herrschenden Mangels war sie nur wenig zu diesem Berufe vorbereitet, doch ihr gesunder Verstand, ein fester Wille und die Hilfe der beiden alten treuen Dienerinnen ebneten ihr die Wege.

Es wurde Herbst, und ihre Lieben suchten mit forschenden Blicken nach Zeichen der Verschlimmerung, auf deren Möglichkeit die italienischen Ärzte Frau Ragnhild vorbereitet hatten. Gösta beobachtete sie ebenfalls mit großer Aufmerksamkeit. Würde es schlimmer, so mußte sie im Frühlinge wieder nach dem Süden. Würde er sich dann über das Alleinbleiben freuen? Er wußte es selbst kaum; ihr würde es aber wohl eine Erleichterung sein.

Doch es zeigten sich keine beunruhigenden Symptome. Man beobachtete allerdings die äußerste Vorsicht, jedoch schien sie merkwürdigerweise seit ihrer Rückkehr trotz der kälteren Luft stärker geworden zu sein.

Göstas Zimmer betrat sie nur, wenn er sie selbst dahin führte. Bei den Mahlzeiten fehlte sie jedoch selten, und auf dem neutralen Gebiete, im Salon und den beiden daran stoßenden Zimmern, konnte Gösta sie jederzeit treffen. Sie beschäftigte sich viel mit Lesen, und er wählte ihr passende Bücher aus. Allmählich begannen sie auch, wie ein richtiges Ehepaar, über ihre Pläne und Arbeiten mit einander zu sprechen. Doch sie gab allem, außer dem, was sie persönlich unter Händen hatte, die Bezeichnung »Dein«, und als Gösta sie eines Morgens durch die halbgeöffnete Thür im Frisiermantel sah, erhielt die alte Kerstin Schelte, weil sie die Thür offen gelassen hatte.

Glücklichen, liebenden Gatten, die unwiderstehliche Liebe vereint hat, bringt die erste Zeit der Ehe beinahe stets manch schmerzlichen Zwiespalt, um so schmerzlicher, je mehr sie einander lieben, denn je höher sie einander auf das Piedestal gegenseitiger Bewunderung gestellt, desto mehr haben sie einander über gewöhnliche, menschliche Fehler und Schwächen erhaben angesehen. Und es thut dem Herzen so weh, so unbeschreiblich weh, wenn es die Entdeckung macht, daß es mit einem Menschen zum Genossen in den erträumten Himmel eingetreten ist, daß der Ehehimmel auch Wolken hat und in den Liebesduetten sich oft Mißtöne vernehmen lassen.

Bei diesen Beiden war es ganz anders. Ihnen erschien Schmerz und Unglück als etwas Unausbleibliches, und sie warteten förmlich darauf. Als nun die Tage still und ruhig dahingingen und sie oft sogar mit stiller Zufriedenheit erfüllten, so daß sie sich bisweilen wunderten, wo die Zeit geblieben war, blickten sie einander des Abends an wie zwei Kampfgenossen nach einer mörderischen Schlacht. Auch Du ohne Wunden? Wie können Deine Augen lächeln, wie kann Dein Mund so munter plaudern?

Bald nach Amelys Ankunft waren einige der Kleinen in die Stadt gereist, um dort die Schule zu besuchen, und sie selbst mußte schon im Oktober ihre Fahrten nach Lindenäs einstellen. Frau Ragnhild besuchte sie jedoch oft, und Gösta erzählte ihr, wie die Wirtschaft in ihrem Elternhause jetzt ging, daß die Ernte sehr gut ausgefallen, das Vieh in gutem Stande sei und ihre eigenen kleinen Füllen, die sie im Frühlinge bekommen, sich ausgezeichnet befänden.

Eines Tages war Baron Gösta auf die Jagd gegangen und hatte als einzige Beute ein kleines Rebhuhn mit nach Hause gebracht. Er trug es selbst in die Küche und gab Mamsell Ulla Anweisung, wie sie es zubereiten sollte, doch als es auf den Tisch kam, aß er keinen Bissen von dem kleinen Braten und versah sich mit etwas anderem.

»Verwahrt den Rest für die Frau Baronin,« sagte er, als die Schüsseln abgetragen wurden.

Amely blickte ihn fragend an.

»Ich weiß, daß Du gern Rebhühner ißt,« sagte er einfach.

Das Blut stieg ihr in die Wangen, sie erhob ihr Glas und trank ihm mit einem schüchternen »Danke« zu.

Er kümmerte sich also ein wenig um ihren Geschmack? Würde er das thun, wenn ihre Gegenwart ihm eine Pein wäre? –

Der heilige Abend kam. Sie waren den ganzen Tag allein, allein auch unter dem brennenden Tannenbaum. Wie anders war es vor zwei Jahren gewesen! Jetzt konnte Amely bis halb zehn Uhr aufbleiben. Jetzt ordnete sie selbst die Erfrischungen und zündete eigenhändig die Lichter auf den untersten Zweigen an. Auch die Weihnachtsgeschenke waren anderer Art: von ihr einige hübsche Tapisseriearbeiten, ein Gebiet, auf dem sie in letzter Zeit durch Übung große Fertigkeit erlangt hatte; von ihm: freilich ebenso wie damals Bücher, aber auch einige Schmucksachen und ein paar Gesellschaftstoiletten, die darauf hindeuteten, daß es nun für sie Zeit sei, mit anderen Menschen zu verkehren, und die an das Leben und die Zukunft erinnerten.

Als sie die Schmucksachen anprobierte, betrachtete sie ihn forschend. Hatte er denn auf seinen Plan mit der Todesbraut verzichtet? Hatte er sich im Ernste in die Möglichkeit eines künftigen gemeinschaftlichen Lebens versetzt? Ja, es sah so aus, denn sein Gesicht spiegelte tiefen Seelenfrieden wieder, sein Blick schien ihr sogar mit einem gewissen Interesse zu folgen, als sie seine Gaben besah. Doch nun schien er in ihren offenen, reinen Kinderaugen ihre Gedanken zu lesen, und sein Gesicht verfinsterte sich.

»Weihnachten war bei unsern Vorfahren der Tag der Gelübde, Amely. Neue Gelübde wollen wir nicht ablegen, doch laß uns stets des alten gedenken!«

Als sie sich am Abende trennten, war er ein wenig verlegen. Er wollte ihr gern mit einer Liebkosung danken. Doch dieses schöne Haupt, diese elastische Gestalt wagte er nicht mit einem solchen Almosen zu berühren. So ergriff er denn ihre weiße Hand, streifte sie leicht mit seinen Lippen und flüsterte:

»Danke, liebe kleine Hand, die mir so hübsche Dinge gearbeitet hat!«


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