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Neuntes Kapitel.
In der Ferne

Die Pflugschar schnitt in die schwarze, kräftige Erde der Halleborger Felder, die Sonne schien, die Natur war zu neuem Leben erwacht; überall herrschte Freude, Lust und Thätigkeit. Doch drinnen in seinem Arbeitszimmer saß der Halleborger Majoratsherr in tiefer Verzweiflung am Schreibtische. Einmal über das andere setzte er sich auf den Sessel nieder und ergriff die Feder, manchmal schrieb er sogar ein paar Worte, und dann faßte er das Papier mit der linken Hand, ballte es mit einem Ausrufe der Ungeduld zusammen, warf es in den Papierkorb und trat an das offene Fenster, von wo aus er auf den Hof hinabschaute. Dann fiel ihm plötzlich ein, daß das Stubenmädchen das Papier im Korbe finden und die Worte lesen könnte, und er suchte es wieder hervor, zerriß es in ganz kleine Stücke und setzte sich wieder an den Schreibtisch.

Baron Gösta Hallenhjelm schrieb zum erstenmal an die Baronin Hallenhjelm, und das wurde ihm sauer.

»Meine geliebte Amely!«

War er verrückt? Das ging auf keinen Fall an!

»Liebe Amely!«

Aber er hatte sie ja gar nicht lieb!

»Meine kleine Frau!«

Nein ... Wie dumm er war! Wie hatte sie ihn denn in den paar Zeilen, die sie ihm durch den Kutscher von Jönköping aus geschickt hatte, angeredet? Er suchte im Schreibtischauszuge und fand auch bald das kleine Billet. »Bester Gösta!« – Schön! Also:

 

»Beste Amely!«

»Es that mir sehr leid, aus den Zeilen, die Du mir durch Johnsson schicktest, zu sehen, daß die Reise Dich sehr angegriffen und Du unterwegs viele Schmerzen gehabt hast. Gehörst Du nicht zu denen, von welchen die Seekrankheit ihren Tribut fordert, so hoffe ich, daß die Seereise leichter sein wird, und ich sehne mich sehr nach der Nachricht Deiner glücklichen Ankunft!

Wären die neuen Verkehrswege, die man vor sechs Jahren in England anzulegen begonnen hat, und von denen sich, wie ich glaube, auch einer in Belgien befindet, diese wunderbaren Wege mit zwei parallel laufenden Eisenschienen, auf denen Wagen mit ausgehöhlten Rädern von einer rollenden Dampfmaschine gezogen werden, doch schon auf dem Kontinente eingeführt! Die Wagen sollen Häusern gleichen und so eingeteilt sein, daß Du darin wie in einem Zimmer hättest schlafen können. Doch vielleicht ist eine solche Beförderung nicht so ungefährlich, die Wagen haben steife Federn und stoßen sehr, und bleibt nur das Wetter schön, so hast Du es auf der See wohl ebenso gut.«

 

Puh! Nun hatte er eine und eine halbe Seite mit weitläufigen Reihen geschrieben! Der Brief mußte länger sein, und etwas von zu Hause mußte er ihr noch schreiben, aber was? In seine vielen landwirtschaftlichen Pläne war sie ja nicht eingeweiht, und die Gutsleute waren ihr fremd. Doch von Lindenäs! Vom Vater und von den Kleinen! Ja, das ging. Und so schrieb er selbst noch einen Teil der vierten Seite voll, und als er die Feder hinlegte, war er so stolz und selbstbefriedigt wie ein Dichter, der ein Werk beendet, das seinen Namen unsterblich machen soll.

Die Antwort traf erst Anfang Juni ein und war von Frau Ragnhilds Hand geschrieben. Amely lag beinahe im Sterben, die Seereise hatte sie entsetzlich mitgenommen, und zwischen den abgemessenen Worten konnte man eine Klage über diese lange zwecklose Reise lesen.

Frei! War es denn möglich? Schlug wirklich schon die Stunde der Erlösung? Löste das Band zwischen der Welt hienieden und dem leidenden Geschöpfe, das sein Egoismus als Treppenstufe zur Burg seiner Väter benutzt hatte, sich wirklich dort unten im Süden, ohne daß er bei der peinlichen Schlußscene gegenwärtig zu sein und auch nur mit einem Blicke an dem schrecklichen Ende teilzunehmen brauchte?

Der rohe Egoismus schien alle edleren Gefühle in Göstas Herzen zurückgedrängt zu haben, er vermochte an nichts weiter zu denken als nur an sich selbst. Ja, er mußte doch dem Vater und den Geschwistern den Inhalt des Briefes mitteilen. Er öffnete das Fenster und rief in den Hof hinunter, daß man ihm sein Reitpferd satteln solle.

Starke Muskeln und gesunde Lungen! Er öffnete den Mund und atmete mit Wohlbehagen die linde, herrliche Luft ein, während er auf dem Wege am Seeufer entlang ritt. Es war ihm ein Genuß, das kräftige, geschmeidige Tier zwischen seinen starken Knieen zu fühlen. So, so, mein Junge! Rasches Schnauben, gedehnte Nüstern, weiße Spritzschaumflocken auf den blanken Reitstiefeln. So, nun sind wir in Lindenäs.

Der Kammerjunker sah den Leuten beim Stallbau zu, die Kinder spielten auf dem Hofe und im Garten, der Unterricht war eben zu Ende.

Nachrichten von Mama und Amely!

Doch als sie den Brief gelesen hatten, und der alte, ergraute Vater traurig die Ellenbogen auf den Tisch stemmte und das Gesicht in den Händen verbarg, als Thränen Hannas frische, rosige Wangen überströmten und die Gesichtsmuskeln der sechs Kleinen krampfhaft zuckten, da that Gösta das Herz weh, da war er gleich bereit, über seine Selbstsucht den Stab zu brechen. Er klopfte den Alten freundlich auf die Achsel.

»Es ist ja nur natürlich, daß, so schwach wie sie war, die Reise sie sehr angreifen mußte; doch in der Sonne des Südens kann sie sich bald wieder erholen. Vielleicht ist sie jetzt schon besser, als sie es zu Hause seit Jahren gewesen ist.«

Die tröstenden Worte machten wenig Eindruck. Hanna blickte ihn halb sorgenvoll, halb trotzig an und schluchzte:

»Ja, wie es auch kommen mag, wir werden sie wohl nie wieder sehen.«

Ruhig, Ajax, ruhig! Auf dem Heimwege will Dein Herr in sachtem Schritte reiten ...

Gösta saß mit gebeugtem Haupte auf dem Hengste und ließ die Zügel schlaff hängen. Er sah wohl fünfzehn Jahre älter aus, als der stattliche Reiter, der vor zwei Stunden nach Lindenäs gejagt war, und er grübelte immer wieder darüber nach, daß auf der weiten Welt doch nur eines dem Menschen das Recht giebt, seinen Lebensweg mit dem eines andern zu vereinen und das Band der Ehe zu knüpfen: Die Liebe. Er verbrachte die Nacht mit Briefschreiben, zerriß aber wieder einen nach dem andern. Am nächsten Vormittage schickte er endlich einen Brief ab, mit dem er selbst nichts weniger als zufrieden war. Dann folgten lange Wochen voller Unruhe, Erwartung, Furcht und Hoffnung. Er hätte dem Briefträger nicht schnelleren Schrittes und mit größerer Ungeduld entgegen eilen können, sobald er Nachricht von Amely erwartete, wenn er der verliebteste Ehemann auf der Welt gewesen wäre.

Endlich! Amely war besser, viel besser und konnte selbst schreiben. Gösta wurde es leichter ums Herz. So würde die Ärmste doch noch ein bißchen Abendsonnenschein bekommen, wie der berühmte Arzt es ihr versprochen hatte, eine kurze Frist der Ruhe hier auf Erden, ehe sie zu der ewigen einging.

Es wurde Herbst, und Amelys Kräfte nahmen zu. »Sollen wir nach Hause reisen?« fragte Frau Ragnhild. Nein, es wäre ja grausam gewesen, es würde der Tod der Kranken sein, nun da ihre zerstörten Lungen der milden Luft gewohnt waren. Gösta las Amelys Briefe sehr aufmerksam und suchte mit einer gewissen Neugierde nach den Spuren der Anstrengung, die das Schreiben ihm selbst verursachte. Nein! Die ruhigen, einfachen Worte und Sätze klangen natürlich und ungesucht, der stets sehr kurze Inhalt handelte meist von Lindenäs, vom Vater und den Geschwistern, von dem alten Präpositus Hjelm und schloß meistens mit einer kurzen Andeutung über das Leben, das sie führte, und das Neue, was sie sah.

Ach, wäre sie auf sich selbst angewiesen gewesen, würde Amely dieser Briefwechsel noch mehr Kopfzerbrechen verursacht haben, als es bei Gösta der Fall war, doch sie hatte nicht einen Satz in diesen Briefen verfaßt, nicht einen einzigen. Frau Ragnhild schrieb die Briefe und Amely kopierte sie, ohne eine Silbe fortzulassen oder hinzuzufügen. Amely hatte dies von Anfang an von der Mutter gefordert und nie den geringsten Versuch gemacht, selbst damit fertig zu werden. Jetzt wurde kein Wort mehr darüber verloren, sondern Frau Ragnhild sagte nur:

»Heute schreiben wir nach Hause.«

Dann setzten sie sich an den Tisch und schrieben beide fleißig. Amely schrieb an den Vater und Hanna, und Frau Ragnhild schrieb in Amelys Namen an Gösta und an ihren Mann. Dann ruhte Amely sich einen Tag aus, und am dritten Tag schrieb sie »ihren« Brief an Gösta ab, worauf die Post abgesandt wurde.

In drei oder vier Briefen war von ständiger Besserung die Rede, dann aber wurde der Sache gar nicht wieder erwähnt. Gösta fragte anfänglich in jedem Briefe gewissenhaft an, wie es nun mit Amelys Zustande sei, und erhielt bisweilen gar keine, bisweilen die kurze Antwort: »Danke für die Nachfrage!« oder »Ich bin sehr schwach, habe aber keine Schmerzen!« oder »Ich muß sehr vorsichtig sein!« So fragte er denn kaum mehr, er schauderte vor dem Gedanken, daß sie seine Frage mit »Ist es nicht bald zu Ende? Wie lange soll es eigentlich noch dauern?« übersetzen könnte.

Doch in den Briefen, die Hanna erhielt, wurden Kahnfahrten und Ausflüge zu Wagen beschrieben. Ja, einmal war Amely sogar auf einem Maulesel auf den schönsten Berg der Insel hinaufgeritten, Gösta und Hanna sahen sich fragend an, und Hannas Augen glänzten. Amely, die zu Hause zuletzt kaum auf einem Stuhle sitzen konnte, nun auf einem Esel! Wie war das möglich?

Doch der alte Kammerjunker wurde immer kümmerlicher. Er magerte ab, und sein graues Haar wurde schneeweiß. Eines Tages am Ende des Winters fiel er im Stalle um und kam erst nach zwei Stunden wieder zum Bewußtsein. Seit drei Wochen war kein Tropfen Liqueur im Hause gewesen. Es mußte sich also wohl um einen leichten Schlaganfall handeln.

Frau Ragnhild sehnte sich sehr nach Hause und nach allen ihren Lieben. »Wie soll es nun werden, Gösta?« war der Refrain des letzten Briefes, den er im Juni erhielt. Frau Ragnhild und Amely waren nun 14 Monate von Hause fort. Das sollte sie selbst bestimmen, schrieb Gösta. Sie wisse am besten, wie es mit Amely stehe und was ihrer zu Hause warte. Er wisse auch, daß ein Gatte in seiner Lage keinen Augenblick seine Rechte über die der Mutter stellen könne. Er lege die Entscheidung in ihre Hände. »Wie geht es Amely nun?« fragte er zum Schlusse.

Darauf gab der nächste Brief keine Antwort. Frau Ragnhild teilte ihm nur mit, daß sie schon zu Anfang August zu Hause eintreffen würden, damit Amely, die an die milde, trockene Luft des Südens gewöhnt und daher nun empfindlicher gegen Kälte sei, sich nicht den herbstlich rauhen Winden auszusetzen brauche.

Gösta hatte von dem verflossenen Jahre mehr erwartet. Im Frühling und Sommer hatte er ja vollauf mit der Landwirtschaft zu thun gehabt, und da war ihm die Zeit ziemlich schnell verstrichen. Doch im Winter wollte der Tag gar kein Ende nehmen, und die Einsamkeit, die ihm in den ersten Jahren so lieb gewesen, bedrückte ihn zu seinem eigenen Erstaunen. Er besuchte den alten Präpositus beinahe täglich und ließ seine kleinen Schwägerinnen oft nach Halleborg holen. Einmal mußten Hanna und die Kleinste drei Wochen bei ihm bleiben, und in dieser Zeit spielte er einmal sogar mit Hanna Pferd, wobei ihr langer blonder Zopf den Zügel vorstellte. Lachend hatte er sie durch die ganze Zimmerflucht gejagt, und die Kleinste war außer sich vor Vergnügen gewesen.

Doch an dem Abende hatte er bis Mitternacht vor Julias Bilde gesessen ...

Der Gedanke an Amelys Rückkehr erfüllte ihn jetzt mit Beben und Unruhe. Er hatte freilich während der letzten sechzehn Monate oft mit dem Gefühle einer gewissen Leere an das Weihnachtsfest und den Winter, da eine so gemütliche, friedliche Stimmung im Familienkreise geherrscht, denken müssen. Doch so konnte es ja nie wieder werden. Da sah man in der Reise nach dem Süden den Endpunkt des Zusammenlebens, jetzt aber handelt es sich um eine Reise, von der niemand wiederkehrt, und der schweren, aufregenden Zeit, die derselben notwendig vorhergehen mußte, konnte er nun nicht aus dem Wege gehen. Wenn Amely in der Fremde gestorben wäre, wäre ihm dies erspart geblieben. Seinetwegen hätte es gern noch zwei, drei, vier Jahre dauern können. Hätte das mildere Klima der Armen diese Frist geschenkt, so würde dies Balsam für sein wundes Gewissen gewesen sein; doch – Augenzeuge des letzten schrecklichen Kampfes sein, wieder an demselben Punkte wie am Hochzeitsabende beginnen zu müssen ... Hu!

Und doch – Frau Ragnhild mußte nach Hause. Er dachte mehrmals daran, dem alten Svensson die Verwaltung des Gutes zu übergeben, den Platz der Mutter am Bette der Kranken einzunehmen und dort fern von der Heimat den letzten Streit auszukämpfen. Vielleicht wäre es das beste so und an Halleborg bliebe dann nicht das Andenken an ein Ende haften, das – er fühlte es – sich, wie es auch sein möchte, als eine beständig schmerzende, unheilbare Wunde in seiner Seele einbrennen würde.

Doch darauf würde Amely nie eingehen. Stand ihm denn das Recht zu, sie von allen den ihrigen zu trennen? Von allen, denn nun mußte auch die Mutter sie verlassen.

Nein, ihm blieb keine Wahl! Hier in der lieben, so teuer erkauften Heimat mußte die Kaufsumme bis zum letzten Heller bezahlt werden.

Es mußte sein. Das Schlafzimmer der Baronin wurde sorgfältig zurecht gemacht und Johnsson fuhr mit dem großen Reisewagen nach Jönköping.


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