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Fünftes Kapitel.
Die Braut des Todes und des Lebens

Frau von Silfverspjüt hatte einen harten Streit mit ihrem eigenen Herzen auszukämpfen, und sie verlor keinen Augenblick das Vermögen, das Anerbieten, auf das sie schließlich doch einging, richtig zu beurteilen. Doch ihre immer wärmer werdende Sympathie für Baron Gösta verminderte das Widerstreben, das sie gegen die Sache selbst so lebhaft empfand. Was nicht einmal der äußersten Not, der tiefsten Demütigung gelungen wäre, das vermochten seine bittenden, suchenden Augen und sein stummes Flehen. Heutzutage würde man sagen, er habe seine Gedanken und Gefühle durch Suggestion auf sie übertragen. Schließlich sagte sie eines Tages:

»Mein Freund, ich weiß nicht, wohin Sie mich gebracht haben. Sie greifen in meine Gefühlswelt ein und gestalten sie nach Ihren Wünschen um. Es wird mir schwer, es Ihnen zu sagen, aber ich fürchte, Sie mißbrauchen den Einfluß eines starken, warmempfindenden Geistes auf eine arme alte, leidende Frau, deren Herz in seiner Einsamkeit so lange nach Sympathie und Verständnis geschmachtet hat.«

Er beugte sich nieder und küßte schweigend und ehrerbietig ihre magere Hand.

»Wenn wir nun ... wenn wir nun,« fuhr sie fort, »uns Ihren thörichten Plan einen Augenblick als Wirklichkeit denken, wäre es da wohl sicher, daß wir nicht mehr als die beiden unabwendbaren Strafen unserer Handlungsweise erhalten?«

»Welche?«

»Zuerst das Urteil der Welt, aus dem Sie sich vielleicht nichts machen, das aber über die, welche ihr sterbendes Kind verkauft haben, vernichtend gefällt werden wird ...«

»Wird dieses harte Urteil auch von denen gefällt, die imstande wären, ihre kräftigen, gesunden Töchter verlebten, sinnlichen Männern zu geben, nur weil die Töchter Liebe heucheln und die Männer ihren Handel ignorieren können?«

»Ja, diese werden uns vielleicht am meisten verdammen, denn ihnen entreißt die Braut eine gute Beute, den Halleborger Majoratsherrn. Doch schwerer ist die andere Strafe: das Urteil, das wir über uns selbst fällen müssen. Und ... doch kann die Vergeltung uns noch härter treffen.«

»Was meinen Sie damit?«

»Amely ist von allen Ärzten zum Tode verurteilt, aber schließlich giebt es doch nur Einen, in dessen Hand Leben und Tod liegt, und Er hat noch nicht sein letztes Wort gesagt. Ihr armes Herz ist ja auch vom Schicksale zum Tode verurteilt, doch nur Einer erforscht die Herzen der Menschen. Denken Sie sich, wenn Er das Urteil in höchster Instanz ändert ...«

»Ich verstehe Sie nicht ...«

»Wenn ein Wunderwerk Amelys Leben monatelang, Jahre hindurch, jedenfalls länger, als wir es voraussetzen, erhielte, und Ihr krankes Herz, trotz alledem, doch wieder jung, stark und lebendig würde, und Sie sich dann in Ihrer Thorheit gebunden hätten.«

Er schwieg eine lange Weile.

»Halten Sie mich für einen Mörder? Und was mein eigenes Herz betrifft – Sie werden mir zugestehen, daß ich Ihnen als ehrlicher Mann auf Treu und Glauben antworten kann: es ist seit lange begraben.«

Die Mutter gab Zoll für Zoll nach, sie fühlte sich beinahe wie eine Mutter für die beiden, die sie auf diese seltsame unheimliche Art zusammen führen sollte, ohne sie zu vereinen!

Der Kammerjunker sollte erst unterrichtet werden, wenn alles im reinen war. Seine Frau dachte schaudernd und gedemütigt an das Entzücken, mit dem »das Arrangement« ihn sicher erfüllen würde. Und so begab sie sich denn mit ihrer schweren, wunderlichen Aufgabe zu ihrer Tochter. Wie sollte sie es nur anfangen, bei Amely Verständnis zu erwecken. Sie ging mit brennendem Schamgefühl, wie es eine Tochter empfindet, die ihrer Mutter einen Fehltritt bekennen soll, und durchaus nicht mit der Freude einer Mutter, die ihrer Tochter einen vorteilhaften Heiratsantrag übermittelt. Baron Gösta und Fräulein Amely hatten sich in dieser Zeit nur selten getroffen. Sie war so schwach, daß sie meistens auf das kleine Giebelzimmer, das sie mit einer ihrer kleinen Schwestern teilte, angewiesen war. Manchmal kam sie sogar nicht weiter als vom Bette in den Lehnstuhl. Doch, was sie von Baron Gösta gesehen und durch die Mutter von ihm gehört hatte, war ausreichend gewesen, alle Scheu, jedes Gefühl des Verdrusses darüber, daß ein Fremder ihre Armut, die sich in hundert Zeichen verriet, sehen mußte, zu vertreiben. Sie sah ihn mit denselben Gefühlen kommen und gehen wie den alten Präpositus und betrachtete ihn als einen guten, freundlichen Menschen, vor dem sie ihre Armut nicht so ängstlich zu verbergen brauchte.

Frau Ragnhild kam sich wie eine Verbrecherin vor, als sie Amely in ihre eigenen und Göstas Pläne einweihen mußte. Sie begann in allgemeinen, unbestimmten Ausdrücken. Sie wußte selbst nicht, was sie sagte, und Amely verstand es ebenso wenig: unklare Worte von der »Zukunft« und »daß alles ganz anders werden könnte, als man es gedacht hätte« und »niemand wissen könnte ...« Amely lag schon im Bette und hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Die kleinen hektischen Rosen auf den Backenknochen färbten allmählich das ganze Antlitz, die blauen Augen glänzten und sie richtete sich zur Hälfte auf. Schließlich zog sie das Haupt der Mutter heftig an ihre Brust und sagte mit einem schneidenden Gemisch von Jubel und Zweifel:

»Meine Zukunft, Mama? Oh, sage Mama! Hat der Doktor etwas gesagt? Ach, darf ich noch ein bißchen länger leben?«

Frau Ragnhild verbarg mit brennendem Schamgefühl das Gesicht in den Händen. Ihr war zu Mute, als wollte sie einen Leichenraub begehen. Wie konnte sie diese reine, schon halb der Erde entrückte Seele in so krasse, weltliche Berechnungen hineinziehen! Wie konnte sie Amely alles mitteilen, ohne das Vertrauen ihres Kindes für allzeit zu verlieren.

Doch allmählich ging es, Punkt für Punkt. Amely hörte ihr aufmerksam zu, während Erstaunen, Schreck und Furcht sich in dem durchsichtigen Gesichtchen abspiegelten. Sie sah die Mutter wie ein kleiner, erschreckter Vogel, der gegen ein geschlossenes Fenster flattert, an, und Frau Ragnhild glaubte in diesem Blicke zu lesen: »Kann die Frau, die mir alles dieses sagt, wirklich meine Mutter sein?« Nervös, müde und außer sich, brach sie in Schluchzen aus und klagte:

»Mein Kind, Du wirst mich nie verstehen können, wirst vielleicht nicht einmal einsehen, daß ich es nicht böse mit Dir gemeint habe!«

Amely streichelte ihr liebevoll die Wangen und sagte:

»Ja, Mama, ich verstehe viel mehr, als Du glaubst. Alles, was Du mir von dem Fideikommißbriefe und dem 21. August gesagt hast und das andere auch. Und ich begreife, daß er meine kleine Mama lieb gewonnen hat und uns deshalb helfen will, und weiß, daß man nicht stolz sein darf, wenn man so arm ist wie wir. Ich habe oft gehört, daß viele sich mit einander verheiraten, ohne sich gern zu haben, obgleich das sehr unrecht ist. Doch er ist ja durch das Majorat sehr reich, könnte er uns nicht doch ein wenig helfen und sich mit einem frischen, gesunden Mädchen, das ihm keine Last sein würde, verheiraten. Es muß ihm ja wehthun, mich nur zu sehen. Ach, weshalb gerade mich?«

Die Mutter schwieg hartnäckig, wie forschend Amelys bittende Augen auch an den ihren hingen. Da fuhr es wie ein Frostschauer durch die zarte, magere Gestalt, die großen, blauen Augen füllten sich mit klaren Thränen, und sie rief:

»Oh, nun verstehe ich ... wie konnte ich nur so dumm sein! Er will mich ja haben, weil ich bald sterben muß – – weil ich sterben muß!«

Außer dem innigsten Mitleiden mit der Tochter, fühlte Frau Ragnhild in diesem Augenblicke nur Unwillen gegen Gösta und Selbstverachtung. Nie, nie sollte das Gräßliche geschehen! Im Wiederscheine von Amelys Thränen erkannte sie erst deutlich die ganze Schändlichkeit dieses Planes.

Doch schon am nächsten Tage lehnte Amely das Haupt an die Brust der Mutter und flüsterte:

»Ich thue alles, was Du willst, Mama. Du und die Kleinen sind sehr zu bedauern, und der arme Papa auch. Es kam mir nur zuerst so seltsam und unheimlich vor, doch da Du es wollen kannst, muß es ja recht und gut sein. Ich will, Mama!«

Weil die Mutter es wollte, mußte selbst das, was ihr instinktiv widerwärtig erschien, recht sein! War es nicht ein grausamer Verrat, aus diesem grenzenlosen Vertrauen Vorteil zu ziehen?

Ja, das war es, aber – sie that es doch. Wenn wir, die kalt und unberührt der Sache Fernstehenden bei unsern Mitmenschen solche Kompromisse mit dem, was recht und heilig ist, sehen, glauben wir so leicht im klaren darüber sein zu können, daß sie alles über Bord geworfen haben und von nun an weder unserer Achtung noch unserer Sympathie mehr wert sind. Doch ach – die Maschinerie des Lebens packt auch uns unwiderstehlich mit ihren Rädern und Zapfen, und wollten wir alle, die in dem Augenblicke der größten Versuchung mit ihrem edleren Instinkte ein Kompromiß geschlossen haben, verurteilen, so würde der Kreis der Achtungswerten bald fürchterliche Lücken aufzuweisen haben.

So wurden denn auch der Vater und die kleinen Geschwister in den Plan eingeweiht. Der Kammerjunker war erstaunt und entzückt, so entzückt, daß er anfänglich außer stande war, seinen Gefühlen Worte zu verleihen. Doch er wußte sich zu helfen. Die beiden fettesten Hammel wurden gebunden auf den Müllerwagen gelegt, und der Stallknecht fuhr mit ihnen nach dem Wirtshause, um sie dort gegen geistige Getränke zu vertauschen. Außerdem traktierte er alle seine Gläubiger mit allerdings sehr dunklen, zugleich aber auch außerordentlich hoffnungsvollen Anspielungen auf eine nahe bevorstehende Veränderung in den Lindenäser Verhältnissen, eine Veränderung, die ihn künftig instandsetzen würde »auf Tag und Stunde zu honorieren.«

Als Baron Gösta in seiner besten Equipage, mit dem schönsten Bouquet des Halleborger Gärtners, zwischen den baufälligen Wirtschaftsgebäuden von Lindenäs dahinfuhr und vor der morschen Treppe hielt und daran dachte, daß hinter der Thür der guten Stube das Mädchen saß, das er mit dem Erbieten aller Insignien der Liebe und Ehe, ohne Liebe und Ehe selbst, beleidigen wollte, da durchlebte er einen schweren Augenblick und fragte sich selbst, ob es nicht besser, nicht weniger schmerzlich gewesen wäre, Vetter Karl Emil als Nachfolger auf Halleborg zu begrüßen.

Doch nun war es geschehen! Er hatte keine Zeit mehr daran zu denken, und er öffnete die Thür mit dem festen Entschlusse, das Peinliche in der Situation für sie, die ihm die Burg seiner Väter, das einzige, irdische Ziel seiner Wünsche, retten helfen wollte, durch die besten ihm zu Gebote stehenden Worte zu mildern.

Drinnen saß sie allein. Die Mutter hatte sich im letzten Augenblicke entfernt, und der Vater, der Gösta mit lauter, ostentativer Freundlichkeit empfangen hatte, zog sich nun zurück.

Sie saß in einem hohen Lehnstuhle. Ihre Wangen glühten und der abgezehrte Leib verriet eine nervöse Unruhe, die sie weniger leidend als gewöhnlich aussehen machte. Sie trug ihr bestes Kleid, ein schwarzes Kleid von dem dazumal so beliebten Paramattazeuge. Das schlecht sitzende Kleid war in einer Zeit, da Amelys Gestalt noch voller war, gemacht worden und machte nun beinahe den Eindruck, als hätte sie eine Sargdecke um die schmalen Schultern gelegt. Das Köpfchen darüber zeigte jedoch für den Augenblick infolge der erhöhten Farbe schwache Spuren eines Liebreizes, den die Krankheit verheert hatte.

Als Gösta eintrat, erbebte sie wie im Fieberfrost. Und er vergaß alle die schönen, milden Worte, die er hatte sagen wollen, er kniete vor ihr nieder und flüsterte leise:

»Vergieb mir! O vergieb mir! Noch ist es Zeit, falls es Dir unerträglich erscheint. Willst Du aber, so werde ich alles thun, um Dir, außer diesem, keinen Kummer mehr zu bereiten.«

Ihre Furcht und Verlegenheit verschwanden, als sie seine Bewegung sah. Und da sie ja von der Liebe nie eine Ahnung gehabt hatte, konnte sie das Verletzende in ihrer Stellung natürlich nicht in seinem ganzen Umfange erfassen, obgleich es ihr seltsam, beinahe unheimlich erschien, so in der Nähe des Todes mit den Regalien der Feier zu spielen, die das schöne Krönungsfest des Lebensglückes sein sollte, für sie aber jeder Bedeutung ermangelte. Sie entzog ihm leise die Hand, auf die er einen Kuß gedrückt, legte sie auf seinen Arm und sagte:

»Ich habe nichts zu vergeben. Möge Gott uns beiden verzeihen, wenn wir uns an ihm versündigen!«

Die Mama trat mit den Kleinen ein, und der Papa kam mit dem Stubenmädchen, das einen Präsentierteller mit Gläsern brachte, während er selbst eine Punschbowle mit einer zweifelhaften Flüssigkeit trug, die er von dem letzten Reste der für die Hammel eingetauschten Spirituosen gebraut hatte. Die wenig gewählten Worte, die er beim ersten Glase aussprach, das für alle andern außer ihm auch das letzte bei dieser Verlobungsfeier blieb, berührten das Brautpaar und Frau Ragnhild sehr peinlich; doch seine Gattin und Gösta vergaßen keinen Augenblick, daß er in diesem Falle nicht die Spur schlechter war als sie: sie beförderten alle selbstsüchtige, zeitliche Pläne und hatten kein Recht, an dem derberen Ausdrucke der Befriedigung eines andern Anstoß zu nehmen.

Amely saß schweigend da und blickte wie geistesabwesend vor sich hin, bis Gösta seinen Stuhl neben den ihren rückte und ihr leise die Hand streichelte. Da blickte sie ihn forschend an und sagte so leise, daß keiner der anderen es hörte:

»Ich denke an die Tage, die ich dort drüben auf Halleborg verleben soll. Es werden ihrer wohl nicht viele sein, aber es wird mir doch schwer werden, mich so von den Meinen zu trennen? Wir beide haben ja weiter nichts gemeinsam als den Namen, den Du mir giebst, und ich werde sehr einsam sein. Mama weiß ja, daß sie Dir willkommen ist, doch es fehlt ihr oft an Zeit, und meine lieben kleinen Geschwister werden nur schlecht dorthin passen, fürchte ich ... ja, ich sehe ja ein, daß es nicht ... aber nur ab und zu einmal ... es wird ja nicht so lange dauern ...«

Die Rührung übermannte ihn, er erhob sich hastig und drückte einen leichten Kuß auf ihr reiches, goldenes Haar.

»Alle Deine Angehörigen haben ihr Heim da, wo Deines ist, Amely, sobald sie kommen wollen!«

Sie blickte froh und erstaunt zu ihm auf.

»O danke, danke! Ich bin nicht so unerfahren, wie man denken sollte, ich weiß wohl, daß es manche Männer giebt, die in diesem Punkt nicht so gut gegen ihre eigenen – ich meine, ihre wirklichen, gesunden Frauen sind!«

Als sie, zufrieden wie ein Kind, dies, ohne sich der gräßlichen Ironie ihrer Worte bewußt zu sein, aussprach, wurde es sogar dem Vater zuviel. Er schneuzte sich, hustete und ging mit dem Punsche hinaus.


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