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Zehntes Kapitel.
»Vergieb mir!«

Der Morgen des Tages, an dem Amely zurückkommen sollte, fand Gösta in dem Tempel seiner Erinnerungen, der Freistatt, die er seiner Julia in Halleborg bereitet hatte. Ach, sie, die heute kommen sollte, war ja nicht im geringsten in das Gebiet derjenigen eingedrungen, die abgereist war, aber doch hatte Gösta das Gefühl, als müßte er Abschied nehmen. Er war ja sein freier Herr, er konnte die Thür zuschließen und auf dem Altare seiner begrabenen Liebe opfern, er konnte vor Julias Bilde träumen, wann er wollte. Und doch – die absolute Einsamkeit war nun vorüber. Heute traf sie ein, die den Namen der Baronin Hallenhjelm trug, und mit ihr würde seine Seele von neuem Zwiespalte erfüllt werden und ... »Lebe wohl für heute, habe Dank für diese Zeit, in der wir ganz allein waren, wir beide! Lebewohl, mein Lieb!«

Draußen wurden allerlei Anstalten zum Empfange der Gutsherrin getroffen. Gösta hatte selbst gar nicht überlegen können, ob er an diesem Tage das Haus festlich schmücken lassen sollte. Der alte Svensson hatte nicht gefragt, ob man Ehrenpforten errichten und die Freitreppe mit Guirlanden schmücken sollte, er bat nur bescheiden, aber bestimmt nm Auskunft, wie es damit eingerichtet werden sollte. Er fragte nicht, ob aus den Zinnen der Fassade und den Seitentürmen geflaggt werden sollte, er blickte nur zu den Fahnenstangen empor und fragte:

»Wann sollen sie aufgezogen werden, Herr Baron?«

Um sich nicht den Mißdeutungen der Leute auszusetzen, mußte Gösta sich zusammennehmen und bei den Vorbereitungen helfen. Dabei machte sein natürlicher Geschmack sich geltend, und zur Mittagszeit prangte Halleborg in einem Festschmucke wie nie zuvor.

Und auf dem Rasen liefen die Silfversspjütschen Kinder umher, die trotz ihrer grenzenlosen Freude nicht auf die frischgeharkten Steige zu treten wagten. Sie jubelten vor Freude, daß sie nun bald Mama und die große Schwester wiedersehen würden.

Oben in den Zimmern ging Hanna hin und her und erteilte mit geschäftiger Wichtigkeit, mit einer altklugen hausmütterlichen Miene, die unbeschreiblich komisch wirkte, ihre Befehle. Mamsell Ulla, die während Frau Ragnhilds langer Abwesenheit die Lindenäser Wirtschaft treu geführt und nun wieder die Zügel des Halleborger Haushaltes ergriffen hatte, hütete sich wohl, ihrer geliebten, kleinen Hanna diese stolze Freude zu verkümmern. »Darnach mußt Du Fräulein fragen, Kerstin.« – »Fräulein, wird der Kaffee aus den kleinen Tassen getrunken?« – »Welches Tischtuch sollen wir nehmen, Fräulein?« So ging es unaufhörlich, und die junge Vicewirtin würde sich ganz von ihrer Würde zu Boden gedrückt gefühlt haben, wenn sie nicht zugleich so seelenvergnügt, so überglücklich bei dem Gedanken gewesen wäre, bald die Mama und Amely umarmen zu können. Ja, bald, sehr bald, denn nun hatte es schon eins geschlagen, und Gösta hatte gesagt, daß sie vor drei Uhr ankommen würden. Sie hatten heute nur drei Meilen zu fahren. – »Liebe Kerstin, fülle diese Schale mit Blumen.« – »So ist's recht.« – »Drei Sorten Wein, hat der Baron gesagt.« – »Ach liebe, gute Ulla, ich bin so froh!«

Still und verschlossen, einem Schatten gleich, ging der Kammerjunker mit schwankenden Schritten auf und ab. Er sah entsetzlich verfallen aus, das Gesicht war wie Pergament, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Gebeugten Hauptes ging er langsam vom Hause auf den Hof, von den Ehrenpforten bis zur Brücke, und dann wieder ins Haus. Er war müde, hatte aber doch keine Ruhe. Er hatte im innersten Herzen gefürchtet, sterben zu müssen, ohne sie wieder gesehen zu haben, die das Leben voller Leiden, das er ihr bereitet, so geduldig ertragen und bei allem Elende stets gut geblieben war, die ihm seine Brutalität in den Stunden des Rausches nie nachgetragen und ihm nicht einmal dann Vorwürfe gemacht hatte, als ihr Haus durch seine Schuld an den Rand des Unterganges gebracht war. Sie und ihr erstgeborenes Kind.

Hanna bewachte die Weinflaschen in dem großen Eichenschranke mit ängstlichen Blicken, doch heute schien es damit keine Gefahr zu haben. Die Gedanken des alten Vaters beschäftigten sich ausschließlich mit seiner Gattin und seinem teuren Kinde. Schließlich mußte er einer Frage, die ihn den ganzen Tag verfolgt hatte, Ausdruck verleihen:

»Hanna, wie mag es nun wohl mit Amelys Gesundheit stehen?«

Gösta war im Nebenzimmer und hörte diese Frage, die aus der Tiefe seines eigenen Herzens zu kommen schien. Ja, wie mochte es nun wohl mit Amely sein? Würde sie machtlos, halbtot, mit geschlossenen Augen und feuchtkalten Wangen, in Kissen gebettet, im Wagen liegen? Würde er sie ins Schlafzimmer tragen müssen und sie dort gleich den wochen- oder monatelangen Kampf wieder beginnen? Oder würde sie ebenso sein wie vor ihrer Reise? Hatten diese sechzehn Monate nur den Zeiger ihrer Lebensuhr still stehen lassen, und würde der Perpendikel nun wieder seine Schwingungen beginnen? Ging es nun abwärts?

Jetzt konnten sie jeden Augenblick eintreffen. Es war nun Zeit, daß er sich in die Vorhalle oder auf den Hof stellte.

Gösta durchschritt den großen Saal, in dem die Mittagstafel gedeckt war. Ein tiefes Mitleid zog in seine Seele ein. Ach, sie würde kaum imstande sein, den blumengeschmückten Ehrenplatz einzunehmen! Krank und angegriffen wie sie war, mußte sie natürlich gleich ins Bett, und so würden die anderen an dem festlich geschmückten Tische sitzen, während diejenige, der zu Ehren alle diese Vorbereitungen getroffen waren, im Kreise fehlte. Und sie würden sich einzeln auf den Zehenspitzen in das Schlafzimmer begeben – er selbst auch, wenn die Reihe an ihn kam – und das bleiche Antlitz auf dem weißen Kissen betrachten und dann mit finstergefalteter Stirn wieder zu ihrem Glase und dem Essen zurückkehren. Oh!

Er ließ den Blick über die Wand hingleiten. Dort hingen alle seine Ahnen. Einige im Richtertalare und in der Reichsratsuniform, die meisten aber im Kriegerschmucke. Auch er ging in den Streit für Haus und Heim. Sie zu gewinnen, hatte er sich in dieses Dilemma gestürzt. Doch in diesem Augenblicke fühlte er es deutlich, daß er lieber unter Kanonendonner mit dem Schwerte in der Hand darum gekämpft hätte.

Da dröhnten die von der langen Reise ein wenig schweren Hufe des Dreigespanns auf der Brücke.

Kaum hielt der Wagen, so legte Gösta auch schon die Hand auf den Thürgriff. Doch als er nun öffnete, stand deutlich auf seinem bleichen Gesichte geschrieben, daß er nicht fand, was er erwartet hatte. Er blickte verständnislos zu Frau Ragnhild hinüber.

Im Wagen waren weder Betten, noch Kissen oder Decken. Auf dem Rücksitze lagen Reisetaschen, Pompadours und Sonnenschirme, im Fond saßen zwei Damen.

War die verschleierte Dame Amely?

Er bot ihnen die Hand zum Aussteigen, dann legte er den starken Arm auf sie und trug sie die hohe Steintreppe hinauf.

Wen hielt er im Arme? Eine zwar schlanke und weiche, aber doch jugendlich elastische Frauengestalt von Fleisch und Blut. Einen schlanken Leib, der sich ein wenig wehrte und versuchte, sich selbst zu helfen.

Großer Gott, was war denn geschehen?

Auf der Terrasse wandten sie sich, wie damals am Hochzeitstage, um, und Amely schlug den Schleier zurück, um den festlich geschmückten Hof zu betrachten ...

Gösta fuhr zurück, und seine Augen schienen sich aus seinem Kopfe drängen zu wollen. Bei Gott, Professor Lindroth hatte sich geirrt. Das Wunder war geschehen!

In einfachem, aber kleidsamen Reisekostüm, zart, weich und schwach, ein wenig unsicher vor Müdigkeit und Aufregung, aber doch mit der rosigen Farbe und den feingeformten Wangen eines jungen Mädchens, mit Leben in dem feuchten Blicke der wunderschönen blauen Augen und graziöser Haltung war die Baronin Amely Hallenhjelm geborene von Silfersspjüt nicht nur aus dem Süden, sondern auch von den Vorhöfen des Todes zurückgekehrt.

Gösta beugte sich nieder und stammelte einige Worte, die niemand hörte, und von denen er selbst nichts wußte. Doch ihr nun den Willkommenkuß zu geben, wie damals den Abschiedskuß, war ihm unmöglich. Dieses Werk würde jedes Liebeszeichen, das nicht von der Liebe selbst gegeben war, als eine tödliche Beleidigung betrachten.

Und Küsse erhielt sie auch überreichlich in der zärtlichen Umarmung ihres alten Vaters und von sieben jungen roten Lippenpaaren.

Heute war sie die Stärkere, hatte sie die meiste Geistesgegenwart. Sie blickte mit Freudenthränen in den Augen auf die Leute im Hofe hinab und sagte:

»Innigen Dank, liebe Freunde!«

Am Fuße der in das erste Stockwerk führenden Treppe löste Gösta ihre Hand von seinem Arm, beugte sich nieder und wollte sie die Treppe hinauftragen. Doch mit einem freundlichen, aber bestimmten »Danke« wies sie ihn zurück und legte wieder den Arm in den seinen.

Amely und Frau Ragnhild zogen sich in die Schlafstube zurück, doch nach einer knappen halben Stunde hatte Amely sich ausgeruht und konnte an dem Festmahle teilnehmen. Unterdessen hatten die Kleinen mit ihrem Jubel das ganze Haus erfüllt und der Kammerherr war mit Thränen in den Augen durch alle Zimmer gegangen, hatte sich unaufhörlich in sein großes, rotseidenes Taschentuch geschneuzt und »Wunderbar! Wunderbar!« vor sich hingemurmelt.

Gösta war noch immer wie betäubt. Geheilt? Gesund?

Sollte er nun in der Nähe eines jungen, schönen, heißblütigen Weibes leben, das seinen Namen trug?

Vielleicht doch nicht. Frau Ragnhild berichtete bei Tisch, daß die Ärzte auf Capri ganz erstaunt über Amelys schnelle Besserung gewesen seien, aber doch befürchteten, daß der Wurm noch unter den Rosen versteckt liege, es sich hier nur um eine scheinbare Genesung handle, und in der kälteren Luft des Nordens der frühere Zustand wieder eintreten würde.

»Doch dann muß Amely natürlich wieder nach Capri,« fiel Gösta ein. »Wenn man sieht, welche Wirkung ...«

»Nie wieder!« unterbrach Amely seine Rede mit einem so finsteren, ernsten Blicke und in so hartem, bestimmten Tone, daß man mehrere Minuten hindurch nur das Geräusch der Gabeln hörte.

»Nie wieder? Warum?« dachte Gösta.

Ging es ihr wie ihm, bebte sie in der Tiefe ihrer Seele vor dem bevorstehenden Zusammenleben, und wollte lieber sterben?

Er betrachtete sie forschend. Nie hatte eine lieblichere Herrin den Ehrenplatz in Halleborgs Saal eingenommen. Und diese dem Leben Wiedergeschenkte sehnte sich um seinetwillen in das Thal der Schatten zurück! Um seinetwillen!

Er haßte sich selbst.

Er griff nervös nach seinem Glase, um die Burgfrau auf Halleborg willkommen zu heißen. Er versuchte, so maßvoll wie möglich in seinen Ausdrücken zu sein, konnte aber nicht anders, als auch einige Worte von Freude und Hoffnung hineinzuflechten, die sie für eitel Lüge hielt. Er sah, wie sie darunter litt, wie ihre Augen ihn gleichsam um Schonung anflehten, und er brach seine kurze Rede ab.

Gösta warf einen Blick auf seine Schwiegereltern, und sein Herz erfüllte sich mit Bitterkeit über die beißende Ironie des unerbittlichen Schicksals. Dort saßen Amely und er, beide jung, schön, einander würdig und mit den besten Gütern dieses Lebens bedacht, und belogen einander mit äußerer Freundlichkeit, während sie innerlich vor dem gemeinschaftlichen Leben zurückbebten. Neben ihnen saßen die ungleichen Alten. Er roh, gewöhnlich, schwach und charakterlos. Sie fein, gebildet, warm empfindend, edel denkend und begabt. Doch wenn diese beiden einander zutranken, lag in ihren Augen eine ganze Welt wahrer, guter Gefühle, Liebe, ungemischte Freude über das Wiedersehen, Schmerz über seine schwache Gesundheit, und die Freimaurerei der langjährigen gemeinschaftlichen Sorgen, sowie der gemeinsamen, lieben Interessen. – Gösta richtete es so ein, daß er am Abende vor der Abfahrt der Lindenäser einen Augenblick mit der Mutter allein blieb und fragte sie in einem Tone, aus dem er vergebens jeden Vorwurf zu verbannen suchte:

»Aber Mama, weshalb hast weder Du, noch Amely, mich auf diese ... diese erfreuliche Veränderung vorbereitet?«

Sie sah ihn lange mit ernsten Blicken fest an und antwortete nach einer Pause:

»Weil ich vor dem Abgrunde, der sich vor unsern Füßen öffnete, zurückbebte, weil ich dachte, daß alles nur Blendwerk sei und sie doch sterben müsse. Jetzt kommt das Unheil, Gösta! Mein armes, armes Kind!«

Als sie nun allein geblieben, die Fahnen entfernt waren und Ruhe und Stille über dem Rahmen des vor kurzem noch so lebensvollen Bildes lagen, ging Gösta mit schweren, langsamen Schritten in den Saal, wo seine Frau am Fenster stand und mit träumerischen Blicken den Wagen nachschaute, die ihre Lieben fortführten und die man durch eine Lichtung des Birkenwaldes am Seeufer noch sehen konnte.

Er empfand ein neues, wunderliches Gefühl. Allein mit einer fremden Dame! Einem schönen, jungen Mädchen, das seit zwei Jahren seinen Namen trug! Liebende Brautpaare, die einander nie mehr etwas so Großes geben können, daß sie sich vorher nicht schon etwas Größeres, Besseres, Edleres geschenkt haben, werden ängstlich bewacht, doch diese beiden, die außer dem äußeren Bande nichts mit einander gemein hatten, waren hier allein eingeschlossen, der eine der Gefangenwärter des andern. Eine fremde Jungfrau, wehrlos unter seinem Dache, für allzeit von dem Glücke und dem Leben der Liebe ausgeschlossen, ehe sie auch nur wußte, welche Bedeutung in diesen Worten lag!

Tiefes, inniges Mitleiden erfüllte ihn, und er sagte leise: »Amely!«

Sie zuckte zusammen und wandte sich mit einem [Gesicht] um, auf dem die größte Angst geschrieben stand.

Nun kam er also, um Rechenschaft zu fordern, er, der um seine Freiheit, die die Wissenschaft ihm so fest versprochen hatte, bestohlen worden war. Aller Stolz, alle Gefühle des Gekränktseins machten einer unaussprechlichen Angst Platz, die ihr das Herz zusammenpreßte. Sie drückte die Hände gegen die Brust, sank auf das niedrige Fensterbrett in der tiefen Nische nieder und stöhnte:

»Vergieb mir! vergieb mir!«


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