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Siebentes Kapitel.
Jeder für sich

Aus der dazumal gebräuchlichen Nachfeier der Hochzeit wurde nichts. Es war nichts dazu angeordnet worden, und es hätte auch nichts daraus werden können, da Amely am nächsten Tage nicht imstande war, das Bett zu verlassen.

Bleich und still, doch zu ihrer eigenen dankbaren Verwunderung schmerzlos, lag sie am Morgen in dem mit altmodischer, gediegener Pracht eingerichteten Gemache und ließ die müden Blicke durch das Fenster über den sonnenbestrahlten See und den düsteren Föhrenwald schweifen. Es war Sonntag, und das Glockengeläute der Hallinger Kirche drang durch das offene Fenster. Würde sie wohl noch einmal zufällig stark genug sein, um zum letztenmale zur Kirche zu fahren und dort die Stimme ihres alten, geliebten Lehrers zu hören? Wahrscheinlich nicht. Nun, dann mußte sie sich auch darein finden. Es war ja auch das beste, daß sie ihren Teil des Kontraktes so schnell wie möglich erfüllte, doch nicht vor – dem 21. August.

Im Laufe des Vormittages kamen die Mutter und Hanna, die älteste der »Kleinen«, ein großes kräftiges, blondes Mädchen von achtzehn Jahren, ein treues Abbild Amelys eigener Gestalt vor und gleich nach ihrer Konfirmation. Trug sie vielleicht auch den Keim der verheerenden Krankheit in sich? Amely und Frau Ragnhild stellten sich diese Frage oft mit Beben und Zagen, ohne jedoch eine Antwort darauf zu finden.

Der Eintritt der Mutter und der Schwester erschütterten Amely im ersten Augenblicke tief, dann aber senkte sich ein wunderbarer Sonntagsfriede über das stille Gemach herab. Die alte Kerstin und Mamsell Ulla mußten auch hereinkommen und durften dableiben.

Die junge Baronin dachte daran, daß sie ihrem Besuche ja etwas vorsetzen müsse, Hanna wenigstens würde sehr dafür sein. Sie sah ein wenig verlegen aus, es war ihre erste Regierungshandlung und sie wußte ja nicht, wie viele gute Dinge in der neuen Heimat vorhanden waren. Sie winkte Mamsell Ulla zu sich heran und überlegte flüsternd mit ihr, und bald darauf wurde ein Präsentierteller mit so vielen Süßigkeiten gebracht, daß Hanna einen Freudenschrei ausstieß.

»Der Herr Baron fragt, ob es gestattet sei, einzutreten?« meldete Kerstin.

Amely fuhr zusammen und Hannas Gesicht verdüsterte sich. Sie hatten den Baron für den Augenblick ganz vergessen. Frau Ragnhild aber stand auf, öffnete die Thür und erhielt einen so warmen Gruß, eine so innige Umarmung, wie sie wohl selten ein Mann selbst für die Mutter der angebetetsten Frau übrig hat. Dann trat er an das Bett, ergriff vorsichtig die kleine, weiße, durchsichtige Hand, die auf dem reich gestickten Laken ruhte, führte sie an die Lippen und fragte:

»Wie geht es denn heute, liebe Fr... Freundin?«

Sie drückte ihm leicht die Hand und antwortete:

»Danke, Schmerzen habe ich beinahe gar nicht, aber ich bin müde, sehr müde.«

Einen Augenblick später verließ Gösta das Zimmer. Frau Ragnhild folgte ihm. In seinem Zimmer angekommen, ergriff er ihre beiden Hände, führte sie an das Fenster und sagte mit unsicherer Stimme:

»Sie scheint nicht sehr erregt zu sein. Wie geht es, wie wird es gehen, meine liebe, andere Mutter? Sie darf nicht bereuen, sich nicht der Verzweiflung hingeben.«

»Da sie gestern so gefaßt war, ist augenblicklich nichts zu befürchten. Doch ein Verbrechen haben wir begangen, Gösta, das sehe ich immer mehr ein, und jeder Missethat folgt, wie Du weißt, die Strafe ...«

»Ist das so gewiß? Giebt es nicht auch Erbarmen?«

»Ja, gewiß, denn die – Verblendeten, die nicht wußten, was sie thaten, finden es am sichersten. Wir aber sahen ...«

Auch sie, seine treue Verbündete, schwankte. Es wurde ihm zu eng und schwül in seinen vier Wänden. Er mußte etwas vornehmen, was ihn auf andere Gedanken brachte. Und so ließ er denn seinen kleinen Jagdwagen anspannen und fuhr, trotzdem es Sonntag war, zu dem Baumeister, der das alte, verfallene Lindenäs restaurieren sollte. Das wurde eine lange Beratung. Der Sommer war ja fast zu Ende, und bei den Ställen, die neu gebaut werden mußten, war vor dem nächsten Frühlinge nichts weiter zu machen, als während des Winters das nötige Baumaterial anzufahren. Doch das Wohnhaus war groß und geräumig und hatte ein ausgezeichnetes Fundament und Wände von richtigem Kernholz, und es lag genug trockenes Bauholz im Halleborger Magazin, um neue Bretterverschläge, Thüren, Fenster und Innenwände anzubringen. Hier sollte nun eine gründliche Restauration, die von dem Alten nur das Fundament und die Außenwände bestehen ließ, unverzüglich beginnen. Die Dachziegel sollten schon am nächsten Tage angefahren werden, und am Dienstage sollten sich fünfzehn Zimmerleute nach Lindenäs begeben.

Er kehrte erst spät nach Halleborg zurück und aß nun allein Mittag. Frau Ragnhild und Hanna waren während seiner Abwesenheit nach Hause gefahren. Dann setzte er sich hin und schrieb an einen alten Freund, der Privatdozent in Lund war. Er erkundigte sich nach einem armen Studenten, der seine Studien aus Mangel an Mitteln abbrechen mußte und eine Stelle suchte. Gösta versprach das für jene Zeit außergewöhnlich hohe Honorar von 300 Reichsthalern Banko, wenn Herr Lugner auf ein Jahr nach Lindenäs komme und seine kleinen Schwäger und Schwägerinnen soweit bringen wollte, daß sie später in der Schule mitkommen könnten. Er wollte sie dann in Pension geben, damit sie die städtischen Schulen besuchten.

Und nun war »die Nachfeier« zu Ende, und die beiden, die äußere, materielle Interessen aneinander gefesselt hatten, begannen ihr Leben – jeder für sich.

Mit liebevollerem Eifer als je zuvor ging Gösta am Montag Morgen an seine Arbeit. Jetzt war endlich Halleborg sein! Jetzt konnte er dort alles mit treuer Fürsorge umfassen, ohne von dem schmerzlichen Gedanken, daß es ihm bald entrissen würde, bestürmt zu werden. Er arbeitete mit Eifer, sprach mit den Leuten und hielt lange Beratungen mit dem alten Svensson, der sich vor eitel Freude förmlich verjüngt hatte.

Einmal täglich, gewöhnlich gleich nach Tisch, ließ er sich durch die alte Kerstin bei Amely anmelden und brachte ihr schöne Blumen und ausgesuchte Früchte, die er mit einigen freundlichen Worten überreichte. Sie lag vier Tage zu Bette und wartete mit einem gewissen Eigensinn darauf, daß die Schmerzen sich, infolge der Anstrengung und Aufregung am Hochzeitstage, wieder einstellten. Doch sie waren nicht ärger als sonst, kaum so stark. Die Ruhe und Stille thaten ihr unbeschreiblich wohl. Selbst das außerordentlich gute Bett und das kräftige, nährende Essen, beides so viel besser als in ihrem armen Elternhause, waren ihr ein Genuß und verschafften ihr eine Befriedigung, die sie so in Erstaunen setzte, daß sie sich selbst darüber zürnte. Sie wußte ja, daß dies auch zum Kontrakte gehörte. Sie erfuhr auch durch ihre Mutter, daß alle Bedingungen gewissenhaft und großmütig gehalten, die Geldnot zu Hause ein Ende habe, dieser nagende Kummer, der so schwer auf der Lindenäser Familie gelegen, daß selbst die Allerkleinsten seinen Druck gefühlt hatten. Kerstin und Mamsell Ulla pflegten sie mit unerschöpflicher Hingebung, zwangen sie täglich ein paarmal ein halbes Glas stärkenden Weines zu trinken, und suchten sie vor allem bei guter Laune zu erhalten. Dann stand sie auf und saß drei volle Stunden im Lehnstuhle am Fenster.

Sie fühlte sich kräftig genug, beim Mittagessen zu erscheinen ... wenn sie nur wüßte ... wenn sie nur wüßte, wie er darüber dachte. Vielleicht wollte er lieber allein essen? Vielleicht war ihm der Anblick ihres abgezehrten Gesichtes und ihrer zusammengesunkenen Gestalt unangenehm? Doch plötzlich erfüllte ein Gefühl des Stolzes, das Bewußtsein ihrer Rechte ihr gepreßtes Herz. Sie war doch Hausfrau hier und hatte noch nie an ihrem eigenen Tische gesessen! Nun gut, sie würde es thun, wenn auch nur um zu zeigen, daß dies, wenn und wann sie wollte, ihr Platz sei. Litte er sichtlich darunter, wollte sie es ihm ersparen und nur sehr selten bei Tische erscheinen. Doch heute sollte es geschehen.

»Ulla! Zwei Kouverte heute. Portwein und Madeira.«

Als er in den Speisesaal trat, stand sie dort auf den hohen Stuhl gestützt, dem seinen gegenüber.

Scharf und forschend hing ihr Blick an seinen Zügen, und das Resultat ihrer Beobachtung stellte sie zufrieden. Ein hastiger, aber unverkennbarer Zug von Befriedigung zeigte sich in Göstas schönem Gesichte, als er sich schnell näherte, den Stuhl zurecht rückte und sie vorsichtig darauf setzte. Er hätte seiner Freude beinahe Ausdruck verliehen, ließ es aber sein, damit sie seine Worte nicht für Übertreibung und Heuchelei halten sollte.

»Nein, wie nett! Wie geht es aber heute?« war alles, was er sagte.

Er setzte sich und fand zu seinem Erstaunen, wie froh ihre Gegenwart ihn machte. Es war das allen guten Menschen eigene Gefühl der Teilnahme an der zufälligen Linderung der Schmerzen eines kranken Geschöpfes, aber es war nicht das allein, sondern viel mehr. Er verstand nicht, daß sein unruhiges Gewissen sich beruhigte, als er sie, der er ein Unrecht zugefügt, kräftiger, lebensfrischer in Blut und Haltung sah, als sie es früher gewesen war, ehe er in ihr Leben eingriff.

Außerdem waren Amelys mißtrauische Gedanken, daß er, mehr oder weniger bewußt, wünschte, sie möchte sich so schnell wie möglich entfernen, durchaus unbegründet. Er hatte die Gebrochene, dem Tode Verfallene nicht gewählt, um der Ehefesseln so bald wie möglich entledigt zu sein, sondern deshalb, weil eine Verbindung, wie er sie wünschte, mit einem kräftigen, jungen Mädchen mit den gewöhnlichen Gefühlen und Gedanken eines solchen, den Naturgesetzen zufolge unmöglich oder wenigstens empörend und äußerst kränkend gewesen wäre. Für Vetter Karl Emil war nun ein Schloß vor Halleborgs Pforte gehängt, und ob er im übrigen wünschte, daß dieser Schlüssel fortgeworfen würde oder sich im Salon des Schlosses befände, daß Amely lebte oder stürbe, darüber hatte er nie nachgedacht, da es ja ein für allemal entschieden war, daß sie die Braut des Todes ebenso gewiß wie die seinige sei.

Und mit Dankbarkeit und Bewegung, ohne die Unschlüssigkeit, die ihm am Hochzeitsabende die Zunge gebunden und den Arm zurückgehalten hatte, erhob er sein Glas und sagte:

»Sei mir herzlich in unserm lieben, alten Halleborg willkommen, Amely! Möchtest Du hier nicht zu sehr leiden!«

»Zu sehr und zu lange, meint er,« dachte Amely, und das Herz that ihr weh, als sie mit einem tonlosen »Danke« ihr Glas erhob.

Von nun an erschien sie bisweilen bei Tische, wenn ihre Kräfte es gestatteten, und blieb sie aus, so suchte er sie in ihrem Schlafzimmer oder in dem kleinen Kabinette auf und verplauderte eine halbe Stunde mit ihr.

Im übrigen lebte jeder für sich, und beide waren damit zufrieden. Der Kammerjunker ließ sich nur selten auf Halleborg sehen, er hatte ja nun zu Hause so vieles, worüber er sich freuen konnte; doch nicht allein Frau Ragnhild, sondern auch den Kindern, von Hanna bis zu Erik und Ragnar, den sieben- und neunjährigen Knaben hatte Gösta das sichere ruhige Gefühl einzuflößen gewußt, daß sie in seinem stattlichen Hause, das nun das Heim ihrer Schwester war, allzeit willkommen seien. Und dies machte ihnen unbeschreibliche Freude. Sie schwelgten in dem guten Essen und in allen Schätzen des herrlichen Gartens, sie benutzten Schaukel und Wippwapp, besuchten die Pferde in den Ställen und spielten mit den Lämmern und Kälbern. Alles Gute, alles Liebe aus der alten Heimat besuchte Amely auf Halleborg, alles Beängstigende, Bedrückte, Verfallene, das die Not mit sich führte, war zurückgeblieben.

Und Gösta führte sein Leben, in dem Arbeit mit Erinnerungen abwechselte, das freie Feld mit dem kleinen verschlossenen Heiligtume im Schlosse, wo Julias strahlende Augen ihn immer mit demselben liebevollen, zärtlichen Ausdruck begrüßten, wo er seine Reliquien küßte und die Geliebte beweinte. Doch es kamen Stunden, da sein Herz sich in dem Tempel der Erinnerung müde geseufzt und seine Füße und Gedanken sich auf den Halleborger Feldern müde gewandert, da alle Rechnungsbücher des alten Svensson durchgesehen waren und der Blick schlaff über die Titel der in der Bücherborte stehenden Bücher hinglitt, ohne sich davon angezogen zu fühlen. Dann drangen muntere Kinderstimmen und ein fröhliches Stimmengewirr aus dem Zimmer der Baronin an sein Ohr. Das war eine andere Welt, mit der er nur wenig Berührung hatte, die ihn jedoch bisweilen über die Schwelle seiner Frau lockte. Doch es beklemmte ihn ein wenig, wenn die Kinder dann die Stimme dämpften und das Lächeln in Amelys Antlitz sich in freundlichen Ernst verwandelte. Er war der Gläubiger, dem sie alles schuldeten. Er forderte nichts, er begehrte nichts, doch ein Gläubiger ist nie aufrichtig willkommen. Es giebt nur zwei Verhältnisse im Leben, die uns gestatten, unaufhörlich anzunehmen und dafür um so mehr zu lieben: das Kind, das von seinen Eltern annimmt und das Weib, das von dem Manne seiner Liebe mit materiellen Liebesbeweisen überhäuft wird. Sogar der Gegensatz dieser beiden Verhältnisse: wenn der Mann materielle Unterstützung von der Geliebten annimmt, und wenn die Eltern von den Kindern ernährt werden, hat seinen mehr oder minder versteckten Stachel.

Doch Gösta that, was er konnte, um sie zu vermögen, ihm zu verzeihen, daß er ihnen von seinem Wohlstande mitteilte, und manchmal herrschte, auch wenn er sich im Kreise befand, eine so gemütliche und stillvergnügte Stimmung, daß niemand hätte ahnen können, was diese guten, freundlichen Menschen auf Halleborg doch zusammengeführt hatte.

Dies war besonders der Fall, wenn Präpositus Hjelm sich einfand. Der Alte hielt treu sein Versprechen, nie wieder an die Warnung, die verschmäht worden war, zu erinnern. Mild und friedvoll, allen gleich lieb, fühlten sich alle in seiner Gegenwart mehr zu einander hingezogen. Übersehend und versöhnlich wie er war, kam er gerade zur rechten Zeit, das Absenden eines Briefes voll Unwillen und Harm, als Antwort auf ein boshaftes Schreiben vom Vetter Karl Emil, zu hindern, der ein paar Wochen nach der Hochzeit das »Haupt der Familie« in einem Geschäftsbriefe freundlich gefragt hatte, ob »der Zustand der jungen liebenswürdigen Cousine noch begründete Hoffnung auf weiteres Gesichertsein der Hallenhjelmischen Erbfolge gäbe.«

So kam der 21. August, Göstas Geburtstag, heran, der bedeutungsvolle Tag, der ihm erst wirklich das Gut seiner Väter sicherte. Amely hatte einen Blumenstrauß gebunden, den sie Gösta am Morgen mit den Worten reichte:

»Ich gratuliere Dir zu diesem wichtigen Tage! Ich kann Dir nichts anderes geben, als was ich vorher von Dir empfangen habe, und meine armen, schwachen Finger sind zu keiner Arbeit imstande ...«

»Danke, Amely. Ja, Du kannst mir wirklich etwas geben. Ich wollte Dich heute darum bitten. Du bist ja nun ziemlich stark. Fahre mit mir nach Lindenäs! Es ist herrliches Wetter, und wir fahren rechtzeitig wieder nach Hause.«

»Ich will es gern versuchen.«

Auf Göstas Bitten hatten die Mutter und die Geschwister Amely so wenig wie möglich von der Wiedergeburt, die das alte Haus durchmachte, erzählt. Jetzt war es fertig, und das alte Lindenäs empfing seine Tochter in strahlendem, hellrotem Anstriche, mit einem hohen Eichenportale, großen, erweiterten Fenstern, neuen Fußböden und neuen weißen Kachelöfen, frischgeweißten Decken und feinen Tapeten. Die beste Stube war neumöbliert worden, und die übrigen so renoviert, daß sie kaum wieder zu erkennen waren. Alles dies war in weniger als vier Wochen geschehen.

Die freudige Dankbarkeit, auf die Gösta gehofft hatte, blieb auch nicht aus. Amely dankte ihm, warm und demütig, beinahe für jedes Detail der durchgreifenden Veränderung, das sie entdeckte. Doch neben dieser Dankbarkeit keimte in ihrem Herzen ein anderes Gefühl auf, das er unmöglich ahnen konnte. Warum war dieses Haus, wie es jetzt war, nicht wirklich das ihrige, nicht wirklich mit dem Gelde ihrer Eltern erbaut? Weshalb war es mit dem Vater so abwärts gegangen, daß er sich nie allein hätte wieder emporarbeiten können? Warum hatte sie sich verkaufen müssen, ihr Leben verkaufen, das sie von heute an, da der Kauf seine Bestimmung erfüllt hatte, kaum mit Recht weiterführen durfte? Sie fühlte mit heimlichem Schrecken, daß ihre Kräfte zugenommen, ihr Gesundheitszustand sich gebessert hatte. Sollte sie, die den schmelzenden Schnee mit solchem Kummer betrachtet, die bei dem Gedanken, ihn nie wieder seine Decke über die Erde breiten zu sehen, geweint hatte, nun davor beben müssen, daß sie nicht bereit sei, in die schwarze Erde hinab zu steigen, wenn die Frühlingssonne sie zum nächsten Male wieder auftaute! Selbst den Kammerjunker rührten dankbare Gefühle, und er war dem Tage zu Ehren vollkommen nüchtern. Hanna hatte Gösta einen ganzen Arm voll der schönsten Rosen, die der verwilderte Lindenäser Garten enthielt, gegeben, und die Kleinen waren so gute Freunde mit dem Schwager geworden, daß sie auf seine Kniee kletterten.

Amely betrachtete alle mit großen, fragenden Augen. Wie würde es werden, wenn sie fort war? Daß er die ihrigen nie ihrem Schicksal überlassen würde, auch wenn die bisherige Hilfe sich unzulänglich erwiese, wußte sie. Doch würde er Lindenäs besuchen, würde er die Kleinen nach Halleborg einladen, würde das eigentümliche Freundschaftsband zwischen ihm und Frau Ragnhild auch dann noch halten? Und wenn es so wäre, würde er wohl einmal mit ein bißchen Dankbarkeit, mit ein wenig Rührung, daran denken, wie schnell und still, ohne Klagen und Seufzer sie fortgegangen, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hatte?

Es ging gegen Abend und die Luft kühlte sich ab. Amely mußte nach Hause, und dort warteten die Gutsleute, die sich zum Erntefeste und zur Geburtstagsfeier dort versammelt hatten. Alle Lindenäser sollten mitfahren. Als sie draußen auf dem Hofe bei dem Wagen standen, ergriff Frau Ragnhild Göstas beide Hände, warf einen Blick auf das renovierte, stattliche Haus und sagte:

»Ich danke Dir, Gösta! Gott segne Dich – um der Kinder willen!«

Wieder ging die Fahrt nach Halleborg mit Windeseile, wieder donnerten die Hufe der Pferde auf der Brücke in der Allee, wieder waren die Leute in Sonntagskleidern versammelt, doch nicht um der Leiche der Burgfrau die letzte Ehre zu erweisen, wie Amely es sich gedacht hatte.

Auf der Scheunendiele wurde eifrig getanzt, auf dem Hofe und im Parke amüsierten sich die Kinder und die Alten.

Gösta wurde es warm ums Herz in diesem Kreise, wo alle – er wußte es – ihn lieb hatten. Er trat zu Frau Ragnhild, die sich mit einigen Tagelöhnerfrauen unterhielt.

»Wo lassen wir decken, auf dem Hofe oder hier drinnen auf der Scheunendiele?«

Frau Ragnhild schien seine Worte kaum gehört zu haben. Ein schmerzlicher Ausdruck lag auf ihren Zügen, und sie warf einen flüchtigen Blick zu dem Fenster hinauf, von dem aus Amely, im dicken Wintermantel und mit einem Taschentuche vor dem Munde, das bunte Bild auf dem Hofe betrachtete.

Gösta verstand diesen Blick – und er fühlte einen Stich im Herzen. »Sie« durfte nicht von allem ausgeschlossen werden! Er eilte die Treppen hinauf und trat zum erstenmale unangemeldet in das Zimmer seiner Frau ein.

»Was meinst Du, Amely, lassen wir auf der Scheunendiele oder unten auf dem Hofe decken?«

Sie zuckte zusammen, und es wurde ihr warm, so warm, ums Herz. Er wollte ihr also doch zeigen, daß sie nicht nur ein überflüssiges – um nicht zu sagen, lästiges – Stück Möbel in seinem großen Hause war!

»Wenn ich zu bestimmen hät ...«

»Natürlich hast Du zu bestimmen, Amely!«

»Dann würde ich auf dem Hofe decken lassen. Es ist ja schönes Wetter, und der Tanz wird dann nicht unterbrochen. Ach, die Augenblicke der Freude sind so kurz ... und dann könnte auch ich zusehen, während sie dort essen.«

»Danke!«

So wurden denn viele lange Tische auf dem Hofe gedeckt, und oben am Fenster saß Halleborgs jungfräuliche, zarte Herrin, ihre Schwäche und Müdigkeit vergessend und den stechenden Schmerz in der keuchenden Brust nicht beachtend. –

Doch für gewöhnlich lebte jeder für sich. Jeder für sich! Das Gebiet des Barons und das seiner Frau glichen zwei Planeten, die nebeneinander im Weltenraum kreisen, aber doch voneinander getrennt sind. Amely war nie mit Gösta zusammen in seinem Zimmer gewesen. Er wußte nichts von ihrer Gefühlswelt und die Tagelöhner waren über seine Pläne für das Beste der Begüterung besser unterrichtet als sie. Seit dem Geburtstage fragte er sie gelegentlich in häuslichen Angelegenheiten um Rat, da ihre aufleuchtenden Augen ihm an jenem Abende verraten hatten, daß sie sich darüber freute, doch da sie sah, daß das nur aus Artigkeit geschah und keine weitere Bedeutung hatte, wurde es ihr gleichgiltig, obgleich sie ihm für die freundliche Absicht dankbar war.

Und so wechselten Nacht und Tag miteinander ab, doch die Tage wurden immer kürzer, und die Nächte immer länger.


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