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Drittes Kapitel.
Mit zwanzig Jahren zum Tode verurteilt

In der Dämmerstunde des 21. März fuhr das alte, grün angestrichene Einspännerfuhrwerk des Präpositus im langsamen Schritt in den Halleborger Hof ein. Gösta hatte es vom Fenster aus erblickt und war hinabgeeilt, um seinen väterlichen Freund, nunmehr sein einziger Vertrauter auf Erden, schon in der Vorhalle zu empfangen.

Gösta war die allmähliche Veränderung ihrer Gespräche während dieser zwei Jahre nicht aufgefallen, wohl aber dem alten Präpositus. Zuerst war nur von der blutenden Herzenswunde, von der Pflicht zu leben und zu leiden, von der Liebe, die sogar den Tod überwindet und von Ihm, der selbst die Liebe ist, gesprochen worden. Allmählich in dem Maße, wie die alten Herzensfäden zwischen Gösta, dem Vaterhause und seinen Leuten sich langsam und unmerklich wieder anknüpften, fiel die Unterhaltung auch auf allerlei, was das alte Halleborg oder einen der Gutsleute betraf, bisweilen auch, obgleich seltener, auf Bewohner des Kirchspiels, die wohl der Präpositus, nicht aber Gösta kannte. Aus einigen hingeworfenen Worten, mit denen Gösta sich absichtslos verraten, hatte der Präpositus einen klaren Einblick in die Gefühle gewonnen, die bei dem Gedanken an den bevorstehenden Abschied von Halleborg in der Seele des Majoratsherrn aufstiegen. Und der alte Prediger, der sein Beichtkind, den jungen Mann, den er unter seinen Augen hatte aufwachsen sehen, von Herzen lieb hatte, freute sich darüber und murmelte bisweilen vor sich hin: »Wäre nur die Zeit nicht so kurz gewesen, wäre nur die Zeit nicht so kurz gewesen!«

Als die beiden nun in Göstas Zimmer eingetreten waren, stellte der junge Mann sich ans Fenster, blickte in die neblichte, im Tauwetter daliegende Landschaft und sagte:

»Ich saß hier, und betrachtete die alten, bekannten Umgebungen; ich sah sie sich nun zum letztenmale auf den Frühling vorbereiten und die weiße Decke abschütteln.«

Er glaubte in gleichgültigem Tone eine allgemeine Bemerkung hingeworfen zu haben, doch der alte Mann hörte deutlich das sich unter den Worten verbergende schmerzliche Beklagen heraus. »Zum letztenmale, Gösta! Das sind die Worte, die von der Wehmut diktiert sind. Ich komme nun gerade aus einem andern Hause, von einem Menschenkinde, das jung wie Du, traurig wie Du, wahrscheinlich auch zum letztenmal die Schneedecke schmelzen sieht, nicht bloß zum letztenmal hier im Hallingethale, nein überhaupt auf Erden.«

»Oh, wie ich ihn beneide!«

Der Präpositus lächelte wehmütig.

»Schon wieder so weit? Du weißt, wie ich über Deine Lebensmüdigkeit denke, und ich will Dir nun nicht mit einer Wiederholung meiner Ansichten beschwerlich fallen. Übrigens ist es gar kein »er«, sondern ein junges Mädchen von nur zwanzig Jahren. Eine Seele, die soweit es auf dieser Erde voll Mängel und Schmerzen möglich ist, die Flügel zur Flucht ebenso rein und unbefleckt vom Erdenstaube erheben wird, wie sie es waren, als sie zu ihrem kurzen Besuche hienieden vom Himmel herniederschwebte.«

»Von wem sprichst Du, Onkel?« fragte Gösta, mehr aus Artigkeit als aus Interesse.

»Fräulein Amely auf Lindenäs, die Tochter des alten Kammerjunkers Silfverspjüt.«

»Sie! Die kleine Amely! Ich habe sie seit vielen Jahren nicht gesehen, aber ich erinnere mich ihrer als eines gesunden, lebhaften Kindes!«

»Der Wurm lauert unter den Blumenblättern. Sie hat die Schwindsucht in ziemlich weit vorgeschrittenem Stadium.«

»Unheilbar?«

»Ja freilich.«

»Armes Mädchen! Arme Eltern! Kammerjunkers sind von allen Nachbarn die einzigen, die mich nicht beschwer ... ich meine, die keinen Umgang mit mir anzuknüpfen versucht haben, als ich hierher zog. Als Knabe und Jüngling bin ich ein paarmal in Lindenäs gewesen.«

»Frau von Silfverspjüt ist eine Denkerin, eine zartfühlende Frau, die unter der Grobheit und Roheit des die Spirituosen nur allzusehr liebenden Kammerjunkers viel gelitten hat. Sie würde nie gestattet haben, daß man Dich belästigte. Dazu sind sie nun arm, blutarm und stehen mit ihrer großen Kinderschar vor dem Ruin, haben also jeglichen Umgang aufgeben müssen. Es ist ein Heim, ohne Frieden und Sonnenschein, und doch – und doch hängt das Mädchen am Leben, von dem sie beinahe nichts gesehen hat, und doch trüben sich ihre milden, blauen Augen, wenn sie von dem baldigen Ende ihres schmerzenreichen Daseins spricht. Ach, Gösta, das Leben hält uns alle mit stärkeren Banden fest, als wir es für möglich halten, das werden wir erst in dem Augenblicke einsehen, da wir ihm im Ernste lebewohl sagen müssen.«

»Vielleicht ...«

So wenigen Impulsen aus dem Außenleben gelang es, die Aufmerksamkeit des Einsiedlers aus Halleborg zu fesseln, daß er nun, da es einmal geschehen war, den Gedanken an die Lindenäser Nachbarn gar nicht los werden konnte. Mit zwanzig Jahren zum Tode verurteilt! Sie, die doch am Leben hing. Doch zu ihm wollte der Tod, den er doch so sehr herbeisehnte, nicht kommen. Wie seltsam! Er erinnerte sich Amelys. Flachshaarig, blauäugig, groß und stark und frisch wie eine Blume. Nun war der Stengel von den Würmern angefressen, und sie mußte sterben, ohne gelebt zu haben. Und Nahrungssorgen hatten sie auch, die Alten gegenüber an der andern Seite der Bucht. Die Eltern alterten im Kreise einer Kinderschar, deren Zukunft sie nicht sichern konnten. Not und Armut brachen über sie herein, und sie waren außer stande, ihre Kinder davor zu schützen. Und alles dieses nach einem freudlosen Leben, einer Ehe ohne gegenseitiges Verständnis und geistige Zusammengehörigkeit. Eine feine, gemütvolle Frau, die mit einem rohen, brutalen Manne, der sie, wenn auch nicht direkt tyrannisiert, doch jeden Augenblick durch sein Wesen hatte verletzen müssen, vor einen Lastwagen gespannt, der ihnen schließlich zu schwer geworden war. Ja, es gab doch sehr viel Weh hier auf Erden!

Er sprach mit Inspektor Svensson über die Lindenäser Familie. Der Alte schüttelte den Kopf. Es herrschten gar zu traurige Verhältnisse dort drüben. Die Kartoffeln erfroren, ehe sie ausgenommen wurden. Die Eggen lagen den Winter über auf freiem Felde und verfaulten. Wollte der Baron dort vorbeifahren, so würde er neben dem Landwege einen zur Hälfte mit verfaultem Heu belasteten Erntewagen sehen, um den sich kein Mensch mehr gekümmert, seit die Tagelöhner ihn bei einem Regenschauer zu Ende Oktober einfach im Stiche gelassen hatten. Die Lindenäser fahren nämlich im Oktober Heu ein. Und im Frühlinge beim Pflügen fielen die Ochsen vor Hunger und Mattigkeit um. Ja, es war ein Elend.

Ein paar Tage später befand Gösta sich in tiefem Grübeln über einen passenden Vorwand zu einer Fahrt nach Lindenäs. Das lustige Leben auf den andern Gütern der Umgebung stieß ihn ab, die Sorgen und die wunderliche Wirtschaft auf Lindenäs zogen ihn an. Nach so langem Zaudern konnte er keine gewöhnliche Visite mehr machen, das würde seltsam aussehen, um so mehr, da er allen übrigen Verkehr abgebrochen hatte. Er wollte sich daher dort ein Gewerbe machen und einen plausibelen Vorwand für seinen Besuch angeben. Schließlich fiel ihm ein praktischer Ausweg ein. Ein Stück der Halleborger Landstraße ging durch Lindenäser Terrain, er wollte dort eine Kiesgrube kaufen und sie gut bezahlen, dann würde er schon willkommen sein.

Lindenäs lag in der herrlichsten Umgebung, war selbst aber ein alter wunderlicher Platz. Jetzt noch, in den ersten Tagen des Aprilmonates wurde in der baufälligen Scheune, deren Dach der Sturm zur Hälfte abgedeckt hatte, fleißig gedroschen. Das von Ratten angenagte, schlecht eingebrachte Korn, das durch die Dreschmaschine ging, verbreitete selbst nach draußen hinaus einen widerwärtigen Geruch, und die Maschine selbst gehörte zu den allerältesten ihrer Gattung und war so schwer, daß acht außergewöhnlich große, magere Ochsen sich so anstrengen mußten, daß sie die Augen verdrehten, um das Ungetüm in sachtem Gange zu erhalten.

Auf dem Hofe wäre Göstas Fuhrwerk beinahe im Schmutze stecken geblieben, der Perron vor der Hausthür war so morsch, daß es ein Wagestück war, ihn zu passieren, das Dach war ausgebessert und spielte in allen möglichen Farben, in der Thür selbst aber stand der alte rotnasige und gerade nicht übertrieben reingewaschene Kammerjunker, mit einer Weste von Kalbleder und einem, in größter Hast angezogenen, blauen Fracke mit blanken Knöpfen, öffnete die wurmstichigen Thürflügel und sagte in einem so feierlichen Tone, als machte er den Wirt in einem Schlosse und hätte hier den ganzen Tag auf Gösta gewartet:

»Willkommen in Lindenäs, Herr Baron!«

Drinnen sah es, selbst für die einfachen Ansprüche jener Zeit, unbeschreiblich dürftig aus, doch in allem und jedem konnte man den ängstlichen, unablässigen, wenn auch hoffnungslosen Kampf einer gebildeten Frau mit der Armut sehen. Die Gardinen waren in eigentümliche Falten gelegt, um die unzähligen Stopfstellen dadurch zu verbergen; die gelb und blau gestreiften, eigengewebten Möbelbezüge in »der guten Stube« waren ebenfalls hier und da sorgfältig gestopft, und die Tapeten hatte eine Hand ausgebessert, die an solche Arbeit nicht gewöhnt sein mußte, denn es war ihr nicht gelungen, die neuen Stücke in rechter Übereinstimmung mit dem Muster aufzukleben.

Das kleine Geschäft war bald abgeschlossen und kaum hatte der über die unerwartete Einnahme entzückte Kammerherr sein Geld eingestrichen und seine Frau gerufen, als er sich auch schon nach dem Stalle begab. Und fünf Minuten später fuhr der Stallknecht mit einem der mageren, spottlahmen, sogenannten »Wagenpferde« im Galopp nach der nächsten Schenke, um eine ganze Kanne (½ Liter) Arrak zu holen, denn seit zwei Monaten hatte man auf Lindenäs keinen Tropfen Punsch mehr im Hause. Punsch war in jenen Zeiten eigentlich das einzige geistige Genußmittel der Klassen, denen die Erzeugnisse der »Hausbrennerei« nicht fein genug waren und die nicht die Mittel besaßen, sich einen Weinkeller zu halten.

Die Lindenäser Herrin mußte früher eine Schönheit gewesen sein, das sah man an den brünetten, feinen, aristokratischen Zügen und der stattlichen Figur, jetzt aber war sie durch zunehmende Körperschwäche und beständige Sorgen gebeugt. Sie und ihr junger Gast entdeckten bald aneinander die Zeichen der Freimaurerei des Leidens und der Sympathie, die Menschen einander näherführt. Gösta hatte kaum zehn Minuten mit der Wirtin gesprochen, als er auch schon sah, daß ihr Wesen, ihre Gemütsart und ihr Seelenleben durch die harten Umstände, die ihr Eheleben begleitet hatten, nicht gebrochen waren, wenn sie auch davon nicht ganz unberührt hatten bleiben können. Die Herrin des baufälligen Lindenäs war noch heute von Kopf bis zu Fuß eine Weltdame, dabei aber auch eine warmherzige, zartfühlende Frau. Und ihr wurde es ebenso schnell klar, daß, was den Majoratsherrn von Halleborg auch hergeführt haben mochte, es nicht, wie sie anfänglich gefürchtet hatte, die Neugierde zu sehen, wie weit das Elend und der Ruin auf dem in der ganzen Gegend verrufenen Lindenäs vorgeschritten waren, sein konnte.

Die Kinder kamen, eins nach dem andern, herein, sieben im ganzen, im Alter zwischen sieben und achtzehn Jahren, Knaben und Mädchen. Sie waren außerordentlich dürftig, wenn auch ziemlich sauber gekleidet. Die Jüngeren, die sich entweder ihrer Lage noch unbewußt waren oder für die der Unterricht der Mutter noch mit ihren Jahren Schritt hielt, waren munter und lebhaft, die drei ältesten, die schon das Mißverhältnis fühlten, das in dem Aufrechthalten eines adligen Namens und der damit verbundenen gesellschaftlichen Stellung ohne die entsprechenden Mittel und die notwendigen Kenntnisse liegt, hatten jenes gedrückte, ängstliche, altkluge Aussehen, das stets die Folge vorzeitiger Sorgen ist.

Der Kammerjunker trat wieder ein, er hatte sich gewaschen und die Lederweste mit einer Tuchweste vertauscht. Dann wurde der Thee gebracht, und gleich darauf erschien Amely, das achte und älteste Kind der Lindenäser Herrschaften.

Gösta that bei ihrem Anblick das Herz weh. Das frische, rotwangige Kind, das in seiner Erinnerung lebte, war ein schwankendes Schattenbild mit durchsichtigen Wangen und Fingern geworden. Die schönen blauen Augen waren dieselben geblieben, nur lag jetzt statt der übermütigen Lebenslust, ein unbeschreiblich rührender Ausdruck milder Wehmut darin, und das Flachshaar des Kindes hatte sich in Gold verwandelt, das das abgezehrte Gesicht wie ein Heiligenschein umgab. Diese reiche, goldene Fülle war jetzt das einzige, was frisch und lebenskräftig an Amely war.

Sie hatte nicht einmal den oberflächlichen Unterricht genossen, den die Landherrschaften selbst dazumal ihren Töchtern geben lassen zu müssen vermeinten; doch infolge ihres gesunden Verstandes, natürlichen Taktgefühls und des täglichen Gedankenaustausches mit der Mutter traten die Mängel ihrer Erziehung fast gar nicht hervor. Die Krankheit war nun schon so weit vorgeschritten, daß die Leidende beinahe einem Geiste glich, der jeden Augenblick die Flügel ausbreiten und der Erde entschweben kann.

In dem naiven Bewundern, das sie beim Anblicke des Besuches an den Tag legte, lag nichts von dem Interesse eines jungen Mädchens für einen jungen Herrn. Ihr Gefühlsleben war, da sie ohne Verkehr und Vergnügungen aufgewachsen war und gar keine Lebenserfahrungen hatte, noch das eines Kindes. Sie betrachtete Gösta ungefähr wie einen außergewöhnlichen, schönen, feinen Gegenstand aus einer ihr unbekannten Welt. So sahen also junge, reiche, vornehme Herren aus? Ja, sie hatten es gut, sie konnten sich in der Welt umsehen, mit andern Leuten verkehren und ein sorgenloses Leben führen. Und die jungen Mädchen, die täglich mit ihnen zusammen waren, mußten sich auch schön amüsieren. Baron Gösta sah freundlich und gut aus, und die Zeit verging diesen Abend schneller als gewöhnlich. Doch als der Gast nach Hause fuhr und man ihm lebewohl gesagt hatte, ging Amely zur Ruhe, ohne ihm einen Gedanken zu schenken, ohne sich zu fragen, ob sie ihn wohl je wiedersehen würde.

Doch als sie, ehe sie das Rouleau niederließ, den Blick im Mondenscheine über die wohlbekannten Umgebungen und die letzten Überreste des Schnees, der doch so viele Mängel ihrer alten Heimat barmherzig zugedeckt hatte, schweifen ließ und daran dachte, daß, wenn die weißen Flocken wieder im Hallingethale fielen, sie auch ihr Grab bedecken würden, durchfuhr ein bebendes Angstgefühl die kranke Brust, sie atmete mühsam und hatte das Gefühl, als wollte der letzte Rest ihrer Jugendkraft sich gegen das Schicksal erheben, das grausame Schicksal, zu sterben, ohne gelebt zu haben, und mit zwanzig Jahren schon zum Tode verurteilt zu sein!


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