Rudolf Hawel
Im Reiche der Homunkuliden
Rudolf Hawel

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Fünftes Kapitel.

Eine Reise durch die Luft.

Als Lorenz am nächsten Morgen das Arbeitszimmer seines Herrn betrat, fand er diesen schon in einem Buche lesend.

»Nun, Lorenz«, rief er ihm entgegen, »heute werden wir also durch die Luft fahren, haben Sie nicht ein wenig Angst vor dieser Expedition?«

»Es ist eine ungewisse Sache«, antwortete Lorenz, »aber diese Automaten sind so gescheite Kerle, daß man wohl annehmen muß, es wird keinerlei Gefahr dabei sein. Wenn sie nur sonst anders wären!«

»Was gefällt Ihnen denn nicht an den Homunkuliden?«

»Man kann mit Ihnen nicht reden. Ich muß einmal den Archimedes oder den Plato fragen, ob sie uns nicht einige passende Exemplare schicken wollten, solche, die etwas mehr Lebenswärme haben. Mich friert immer, wenn ich mit den drei Kerlen bei mir zusammensitze. Selbst der Koch spricht wie ein Buch, und da wird einem förmlich unheimlich dabei. Jetzt versuch' ich noch eins. Ich kaufe mir Tarockkarten und lehre sie Königrufen. Daß einmal Leben in das Panoptikum kommt!«

»Im Reich der Homunkuliden bekommen Sie ja nichts zu kaufen!«

»Dann muß mir der Plato aus dem Museum Tarockkarten verschaffen!«

»Um was wollen Sie denn spielen, die Homunkuliden haben ja kein Geld!«

»Und wenn ich um Erbsen spielen muß, gespielt wird. Es ist ja entsetzlich hier, keine Wirtshäuser, kein Kaffeehaus, die Zeitungen sind alle die reinsten Amtsblätter mit lauter Kundmachungen. Wenn ich so an mein kleines, gemütliches Stammgasthaus denke...«

»Und an die Wetti!« warf lächelnd der Professor ein.

»Ja, an die auch!« sagte seufzend Lorenz.

Der Professor versprach, sein möglichstes zu tun, damit Lorenz' Wille erfüllt werde.

»Ich hoffe, das mit der Tarockpartie, wenn Sie schon darauf bestehen, wird sich machen lassen. Seien Sie nicht ungeduldig! Wir sind ja erst wenige Tage hier.«

»Ich will Leute um mich haben, mit denen ich reden kann, Leute, die lachen können, Leute, die schimpfen, wenn ihnen was nicht recht ist, Leute, die lustig sind, aber das sind Uhrwerke...«

»Ich glaube, Sie haben bis jetzt Unterhaltung genug gehabt, Lorenz. Heute machen wir eine Luftreise. Wenn Sie in Ihrem Zeitalter geblieben wären, würden Sie wahrscheinlich nie zu einer solchen Ausfahrt gekommen sein. Denken Sie nur, was Sie da alles sehen und hören!«

»Das ist alles ganz wahr und richtig! Aber ich hab' niemanden, mit dem ich darüber gemütlich plaudern kann. Ich werde mir noch einen Hund anschaffen müssen!«

Es war ein Glück, daß es in diesem Augenblick an die Tür klopfte. Plato und Archimedes traten ein, Lorenz und seinen Herrn zur geplanten Fahrt abzuholen.

»Also, wohin soll die Reise gehen?« fragte fröhlich der Professor.

»Ganz, wie Sie wollen, Herr Professor«, antwortete Archimedes, »nach Süden, Norden, Osten oder Westen. Die Bemannung des Aeronaut harrt nur Ihrer Befehle!«

»Na, Lorenz, was sagen Sie zu einer Reise über die Alpen?« fragte der Professor gütig und setzte, zu den Homunkuliden gewendet, lächelnd fort: »Ich muß ihm heute schon seinen Willen lassen, er hat Heimweh nach seiner Zeit. Er entbehrt hier viele liebgewordene Gewohnheiten!«

»Warum sagt das Herr Lorenz nicht?« fragte verwundert Plato. »Wenn es in unseren Kräften steht, werden wir seinen Wünschen bereitwilligst nachkommen!«

»Er möchte hie und da ein Spielchen machen, wie er es zu seiner Zeit gewohnt war...«, erklärte der Professor.

»Ein Spielchen? Was soll das sein?« fragten die beiden Homunkuliden.

»Ein Kartenspiel – Tarock – Lorenz war immer ein passionierter Tarockspieler

»Ah, ich kann es mir denken – in unseren Museen haben wir eine äußerst reichhaltige Sammlung von Spielkarten aller Zeiten. Ich werde trachten, daß Herrn Lorenz das Gewünschte zur Verfügung gestellt wird.«

»Wenn die Karten so alt sind, dann kennt man sie schon von hinten...«, gab Lorenz zu bedenken.

»Nein, wir werden Ihnen die prächtigsten neuen Spiele zur Verfügung stellen, Herr Lorenz!« versicherte Plato.

»Aber hier kann niemand spielen!« seufzte tiefbetrübt Lorenz.

»Auch dafür werde ich sorgen!«, tröstete der Homunkulide.

Die Aussicht auf einen solchen Königrufer besserte die Stimmung Lorenz' sehr bedeutend und er gab zu erkennen, daß ihm das Reich der Homunkuliden jetzt schon besser gefalle. In glücklichster Laune erklärte er, bereit zu sein, eine Luftfahrt über die Alpen zu machen, doch sprach er die Befürchtung aus, das Luftschiff könnte an einen der Bergriesen anfahren, was der Konstruktion dann so schaden könnte, daß nicht nur die Sicherheit des Herrn Professors, sondern auch seine erheblich gefährdet würde.

»Beruhigen Sie sich, wir fahren über die Berge, die höchsten Gipfel werden noch einige Meter unter uns bleiben!« tröstete lächelnd der gelehrte Archimedes.

»Auch der Großglockner?« fragte staunend Lorenz.

»Auch der!«

»Und der Montblanc?«

»Auch der würde noch unter uns bleiben!« versicherte Archimedes.

»Na, auf die Geschichte bin ich neugierig!« sagte etwas bedenklich Lorenz, »Hoffentlich irrt sich der Steuermann nicht, und wir kommen am Ende statt auf der Erde auf dem Mond an, wo es, wie ich gehört habe, nicht sehr angenehm sein soll!«

»Das wird auf keinen Fall geschehen«, sagte Archimedes, »denn zu einer solchen Reise fehlt uns das Allernotwendigste!«

»Den Homunkuliden kann auch etwas fehlen?« fragte mit maßlosem Staunen Lorenz.

»O ja, in diesem Falle würde uns die Luft fehlen. So wenig ein Schiff ohne Wasser fahren kann, ebensowenig fährt ein Luftschiff ohne Luft!«

Der Professor erkundigte sich, ob zu dieser Reise eine besondere Ausrüstung notwendig sei. Archimedes verneinte.

»Herr Professor brauchen bloß Hut und Rock zu nehmen; was Sie sonst benötigen werden, wird sich alles auf dem Schiffe finden«, sagte er.

Das Automobil brachte die Herren nach kaum viertelstündiger Fahrt zum »Hafen des Aeronauten«. Sie hielten vor einer Riesenhalle. Höchst neugierig folgte Lorenz den drei Herren. Er brannte vor Begierde, die seltsame Fahrt mitzumachen, und doch beschlich ihn eine geheime Furcht – es ward ihm bange vor dem Gedanken, Tausende von Metern über dem Erdboden in der Luft dahinzusegeln, ihm, der nicht ohne Angst von dem Fenster eines vierten Stockwerkes auf die Gasse herabschauen konnte.

Die Herren wurden, in der Halle angelangt, mittels Aufzuges in eine beträchtliche Höhe hinaufbefördert.

»Das soll wohl eine Vorübung sein«, dachte sich Lorenz, als nach minutenlanger Fahrt der Aufzug sie endlich zum Ziele gebracht hatte. Der Anblick, der sich ihnen bot, war ein höchst sonderbarer. Eine breite Galerie umgab eine offene Halle, die ganz und gar von dem Luftschiffe eingenommen wurde. Das seltsame Fahrzeug hatte eine Länge von mindestens siebzig, eine Breite von ungefähr zwanzig und eine Tiefe von wenigstens vierzig Metern. An den beiden Enden des Schiffes waren eigentümliche Schrauben nach Art der Schiffsschrauben angebracht, deren ungeheure Flügel die Mauerzinnen der Halle weit überragten. Um das Verdeck des Schiffes lief eine Brüstung.

»Na, Gott sei Dank, hinunterfallen kann man doch nicht so leicht«, sagte sich Lorenz, als er hinter den Herren über den langen, schmalen Gang zum Verdeck schritt.

An Bord wurden sie von mehreren Herren empfangen, die sie mit der allen Homunkuliden eigenen steifen Förmlichkeit begrüßten. Archimedes stellte den Kapitän und die Offiziere des Luftschiffes vor. Auch Lorenz wurde durch einen Händedruck des Kapitäns geehrt, wodurch er sich ungemein geschmeichelt fühlte. Der »Automat«, der einen solchen Koloß wie dieses Luftschiff zu führen imstande war, dünkte ihm ein halber Herrgott zu sein.

Da bis zur Abfahrt fast noch eine Viertelstunde Zeit war, so führte der Kapitän die Herren zu ihren Kabinen. Sie stiegen auf breiten, prachtvollen Treppen in den Schiffsraum hinab.

»Den Maschinenraum werden wir uns später besehen«, sagte Archimedes und öffnete die Tür zu einem sehr elegant eingerichteten Salon.

»Donnerwetter«, sagte verblüfft Lorenz, »und das geht alles mit uns in die Luft hinauf? Fällt die Geschichte nicht um, wenn das Schiff in den Wolken zu wackeln anfängt?«

»Herr Lorenz, Sie haben in Ihrem ganzen Leben noch keine so ruhige Fahrt gemacht«, versicherte Archimedes.

Die Einrichtung fand die höchste Bewunderung der Herren. Die zwei Nebenräume waren ebenso hübsch wie der Salon möbliert.

Dem Professor fiel auf, daß die Türen all dieser Räumlichkeiten fast hermetisch zu schließen waren.

»Das hat darin seinen Grund«, erklärte Archimedes, »daß wir an Bord häufig an Luftmangel leiden. Wenn wir über zweitausendfünfhundert Meter emporsteigen, ist die Luft schon so dünn, daß das Atmen erschwert wird. Dann begeben wir uns in den Salon. Die Türen werden geschlossen, die Maschinen des Aeronauten mit den Luftpumpen in Verbindung gesetzt, durch Schließung der Türen die Räumlichkeiten in eine pneumatische Kammer verwandelt und wir atmen Luft von einem Atmosphärendruck viertausend Meter über dem Meere!«

»Ausgezeichnet!« sagte der Professor, »Und so hoch steigen sie empor ohne Ballon?«

»Ganz ohne Ballon – mit Hilfe unserer elektrisch betriebenen Schrauben und mit Hilfe eines Apparates, von dessen Prinzip Ihre Zeit noch nicht die geringste Ahnung hatte!«

»Oh«, sagte überrascht der Professor, »was für ein zauberischer Apparat wäre das?«

»Ein Spiegelapparat ganz eigener Konstruktion und mit ganz eigenartiger Aufgabe!«

»Ein Spiegelapparat – wozu dient der Spiegelapparat?« fragte mit größtem Erstaunen der Professor.

»Bitte, Herr Professor«, sagte Archimedes, »mir nur nachzufolgen!«

Er ging voran. Auf dem breiten Gang ließ der gelehrte Homunkulide eine Falltür öffnen. Auf ein Zeichen von ihm ward der dunkle Raum taghell beleuchtet. Auf einer Eisentreppe stiegen die Herren ein Stockwerk tiefer, über den Boden des Luftschiffes spannte sich ein sonderbares Drahtnetz aus mattschimmernden silbergrauen Metallfäden.

»Das ist jener Spiegelapparat, von dem ich sprach«, sagte Archimedes; »dieser Spiegel hat, wie Sie bemerken, eine sehr rauhe Oberfläche. Er hat aber auch nicht die Aufgabe, Lichtstrahlen zurückzuwerfen, sondern Kraftstrahlen einer ganz andern Art!«

»Bei Gott, ich verstehe Sie nicht! Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich nicht einmal ahne, was Sie meinen, mein Herr«, sagte fast atemlos vor Erregung der Professor.

»Diese Vorrichtung hat den Zweck, die sogenannten Schwerstrahlen, die die Erde zu uns sendet, zurückzuwerfen. Die Schwere ist eine Kraft wie jede andere. Zu unserer Zeit ist es gelungen, auch die Schwere in Elektrizität, Licht, Wärme zu verwandeln. Zu Ihrer Zeit, glaube ich, hat man die Entdeckung gemacht, daß sich gewisse Lichtstrahlen durch Magnete aus ihrer Richtung bringen lassen. Es war ein karger Anfang. – Wir Homunkuliden oder Automaten, wie Herr Lorenz sagt, haben es zustande gebracht, durch sinnreich konstruierte Apparate Kraftstrahlen jeder Art abzulenken. Und als wir es erreichten, auch die Strahlen jener Kraft, die wir als Schwere, als gegenseitige Anziehungskraft der Körper bezeichnen, aus ihren Bahnen abzulenken, war eines der größten physikalischen Probleme der Welt gelöst!«

»Und welche Erscheinung gab den Anlaß zu dieser ungeheuren Entdeckung?« fragte fast bebend der Professor.

»Die elektrischen Anziehungs- und Abstoßungserscheinungen. Wir sahen, daß durch Elektrizität die Anziehungskraft der Masse aufgehoben wird. Die gleichnamigen Pole der Magnete stoßen einander ab. – Diese Erscheinung gab Anlaß zu grandiosen Forschungen – ihr genialstes Ergebnis ist die Erfindung des Schwerkraftspiegels. Wenn dieses sonderbare Netz, das Sie hier ausgebreitet sehen, von Elektrizität durchströmt wird, hört die Schwerkraft der Erde auf, auf unser Schiff zu wirken – wie Lichtstrahlen von einem Spiegel prallen die Strahlen der Erdschwere von diesem Netz ab!«

Der Professor stand wie betäubt da.

»Na, da muß man schon ›Sie‹ sagen«, brummte Lorenz, »die Kerle gehen mit unserer alten Weltkugel um, wie wenn's eine Kegelkugel wäre.«

In diesem Moment ertönte eine elektrische Klingel.

»Wenn sie die Abfahrt des Schiffes von Deck aus betrachten wollen, dann bitte ich, den Rückweg anzutreten. In fünf Minuten wird sich der Aeronaut in Bewegung setzen!« ermahnte Herr Archimedes,

Lorenz war der erste, der das Deck betrat. Er brannte vor Neugierde, zu sehen, wie sich die gewaltige Maschine in Bewegung setze. Die Herren nahmen beim Steuerhäuschen Aufstellung. Lorenz war ganz Auge und Ohr. Alles auf Bord interessierte ihn auf das lebhafteste. Neben dem Häuschen des Steuermanns lag zusammengerollt eine ungeheure Eisenkette mit Ringen von der Dicke eines Mannesarmes. Er konnte es nicht unterlassen, zu versuchen, ob er nicht imstande sei, das Ende der Kette aufzuheben. Lächelnd sahen ihm der Professor, der Kapitän, Plato und Archimedes zu, wie er sich schwitzend, mit gerötetem Antlitz, abmühte, zwei Ringe aufzuheben.

Auf einmal geschah ein Wunder – Lorenz hatte Riesenkräfte gewonnen. Die Kette erklirrte, er hob ein acht Ringe langes Stück mit Leichtigkeit empor. Wie von einem Teufelspuk erschreckt, ließ er die Kette fallen, langsam sank das Endstück zu Boden – kaum daß man das Aufschlagen der gewaltigen Eisenmenge auf den Eichenbrettern des Decks vernahm.

»Ja – was ist das?« fragte er verblüfft. Ganz starr stand er da und sah hilflos in staunendem Schrecken auf seinen Herrn und die drei Homunkuliden.

»Die Spiegel sind soeben in Aktion getreten«, erklärte lächelnd Archimedes, »ich muß bitten, Herr Lorenz, sich jetzt ruhig zu verhalten, denn Sie sind in diesem Moment in ganz andere, Ihnen vollständig unbekannte Verhältnisse geraten.«

»Lorenz, jetzt bleiben sie bei mir und rühren sich während der ganzen Fahrt nicht mehr von meiner Seite weg!« sagte der Professor, »Sie richten sonst doch noch ein Unglück an!«

Lorenz beeilte sich, zu seinem Herrn hinzukommen, und wollte mit leichtem Schritt über die Kette, die vor ihm lag, hüpfen. Aber, o Wunder– der leichte Sprung fiel ganz anders aus, als er sich gedacht hatte. Der treue Diener flog mit Eleganz zirka fünf Meter hoch empor.

»Halt – aufhalten!« schrie er angstvoll. Einen Moment schwebte er in der Höhe oben, dann begann er ganz langsam wie eine Flaumfeder aufs Deck herabzuschweben.

Nun stand der Professor starr da. Als Lorenz nach Verlauf von einigen todbangen Sekunden am Deck anlangte, war sein Gesicht kreidebleich und er schlotterte vor Angst mit allen Gliedern.

»Seien Sie froh«, sagte Archimedes, »daß trotz unserer ausgezeichneten Spiegelapparate noch immer ein Rest von Schwerkraft zurückbleibt, sonst wären Sie jetzt ohne uns – ganz allein aufgestiegen!«

Lorenz ging langsam – er schlich vielmehr – zu seinem Herrn hin und setzte sich ganz verstört und verschreckt auf einen Sessel neben dem Häuschen des Steuermannes.

»Wär' es nicht gescheiter, wenn wir in den Salon hinabgingen?« fragte er, scheu um sich schauend. »Da hat man wenigstens eine Decke über dem Kopfe und kann nicht unversehens wie eine Hexe in die Luft hinauffahren! Was war denn das jetzt?«

»Die Schwerkraft hat zu wirken aufgehört. Sie haben fast gar kein Gewicht mehr!« erklärte Archimedes.

»Da wär's gut, wenn man sich ein paar Bügeleisen an den Leib binden würde!« meinte der langsam zur Besinnung kommende Lorenz.

»Das würde Ihnen auch nichts nützen«, sagte geärgert der Professor; »die haben hier ja auch kein Gewicht. Sie haben es ja vorhin an der Schiffskette gesehen, wie leicht Sie acht bis zehn der ungeheuren Ringe emporgehoben haben! Bleiben Sie da sitzen!«

»Am liebsten wär's mir, wenn mich die Herrschaften anbinden möchten, mir ist so sonderbar, als wenn ich jetzt und jetzt in die Luft fliegen müßte!«

Dasselbe Gefühl hatte der Professor, ihm war so jugendlich leicht zumute!

Ein neues Zeichen ertönte, das ungeheure Luftschiff begann sich zu heben, man vernahm das dumpfe Summen der mächtigen Schrauben, die in rasendem Laufe sich um ihre Achsen drehten. Langsam, majestätisch stieg der Koloß aus der Halle empor.

Der Professor stand an dem Geländer und sah aufmerksam in die Tiefe hinab. Lorenz hatte höchst vorsichtig, ohne sich zu erheben, seinen Sessel ebenfalls zum Geländer gerückt und sah mit ängstlichen Blicken auf das Dächermeer, das anscheinend immer mehr in der Tiefe versank. Der sonst so geschwätzige Diener war still geworden.

Das Luftschiff schlug die Richtung nach Westen ein. Es flog in einer Höhe von mehr als tausend Metern über dem Boden hin. Die Schnelligkeit mußte eine enorme sein, eilfertig schwanden unter ihren Blicken die fernen Fluren dahin. Ausgedehnte Äcker, Wiesen, dann und wann das Häusermeer einer großen Stadt, dann ausgedehnte Wälder und wieder Äcker und Wiesen und wieder Riesenstädte. Nach einstündiger Fahrt erblickten sie das breite, schimmernde Band eines mächtigen Stromes.

»Was für ein Strom ist das?« fragte der Professor.

»Der Strom Ihrer einstigen Heimat«, sagte Plato, »die Donau!«

»Die Donau?« schrie Lorenz auf. »Unsere Donau – unsere blaue Donau?«

»Ja, ja, Herr Lorenz!« bestätigte auch Archimedes. »Das ist Ihre Donau – ganz gewiß...«

»Unsere Donau!« schrie entzückt Lorenz und klatschte wie verrückt in die Hände. Er wollte sogar zu tanzen anfangen, und wenn nicht schnell einer der Homunkuliden, die zur Bemannung des Schiffes gehörten, herbeigeeilt wäre, Lorenz wäre in seiner Herzensfreude einige hundert Meter emporgewirbelt.

»Ich muß Sie doch anbinden lassen«, sagte der Professor. Aber sein Ton war nicht der gewohnte ernste, strenge, seine Augen schimmerten feucht und seine Stimme hatte einen unsäglich wehmütigen Klang.

»Verzeihen Sie, Herr Professor!« entschuldigte sich Lorenz. »Mich hat das Heimweh gepackt! Denken Sie nur, da unten rinnt unsere Donau, unsere Donau!«

Und er legte den Kopf auf beide Arme und sah unverwandt in die Tiefe hinab nach dem Strome seiner fernen Heimat und, ach, so fernen Jugendzeit. Als er nach einer Weile den Kopf emporhob, sah der Professor, daß dem alten Knaben die hellen Tränen über das Gesicht liefen.

Solange Lorenz die Donau noch sehen konnte, blieb er sitzen und sah unverwandt nach dem schimmernden Bande hin. Als hinter bewaldeten Bergrücken der Strom verschwand, stand er auf und äußerte den Wunsch, die Kabinen aufzusuchen. »Mir ist das Herz schwer geworden, und da möchte ich gern ein wenig allein sein«, sagte er stockend.

»Ich werde mit Ihnen gehen«, sagte gütig der Professor, »in solcher Stunde ist es gut, wenn man einen Genossen jener Zeit, nach der man sich sehnt, bei sich hat. Sonst werden die Gefühle allzu übermächtig...«

Plato und Archimedes sahen sich verwundert an, sie begriffen den Zustand des treuen Dieners nicht.

»Ist Herrn Lorenz unwohl geworden?« fragte betroffen Plato. »Es ist ein Arzt auf dem Schiffe, ich werde ihn rufen!«

»Nein, nein«, sagte abwehrend der Professor,« dieses Unwohlsein kann kein Arzt beheben, Lorenz hat einen akuten Anfall von Heimweh bekommen. Und von Sehnsucht nach seiner Jugendzeit!«

Die Homunkuliden starrten verwundert dem Professor ins Gesicht, sie wußten sich die rätselhafte Krankheit Lorenz' nicht zu erklären.

»Heimweh – Sehnsucht nach der Jugendzeit? Was soll das heißen?« fragten sie. »Diese Krankheiten sind bei uns nicht bekannt. Herr Professor müssen die Güte haben, uns darüber aufzuklären!«

»Sehr gern«, sagte der Professor, »aber erst, wenn wir wieder auf festem Boden sind – jetzt bitte ich, uns die Tür zum Salon öffnen zu lassen!«

Lorenz und der Professor wurden in den Salon geführt. Hinter ihnen wurden die Türen hermetisch verschlossen.

Archimedes setzte die elektrische Beleuchtung in Betrieb und zeigte, auf welche sinnreiche Art die schweren Türen des Salons zu öffnen seien.

»Wenn Sie einen Ausblick auf die Erde genießen wollen, dann bitte ich, diesen Hebel um 180 Grad nach links zu drehen«, sagte er, »durch die Seitenfenster des Salons sehen Sie nur Luft und Nebel. Hier stehen auch ganz ausgezeichnete Gläser zur Verfügung;« er öffnete einen Schrank und entnahm ihm zwei Binokel von der Form der Operngucker.

»Aus zweitausend Meter Entfernung bringen Ihnen diese Gläser alle Gegenstände auf dreißig Meter in die Nähe! Wenn sie hinunter sehen – pardon, ich muß das Bodenfenster vorher öffnen.«

Er trat zu dem Hebel, den er vorher gezeigt hatte, hin und drehte ihn mit einem Ruck herum. In diesem Moment schien sich der Boden des Salons in einer Fläche von ungefähr zwanzig Quadratmetern zu öffnen und die Herren sahen mit entsetztem Staunen in die greuliche Tiefe hinab.

»Die Glasdecke ist sicher«, sagte Archimedes, »Sie können ruhig darauf treten. In aller Muße können Sie die Gegenden, die da unter Ihnen scheinbar vorüberziehen, betrachten und haben noch den Vorteil, den Einfluß der verdünnten Luft nicht zu spüren, der sich an Bord sehr bald geltend machen wird.«

Er verließ den Salon. Der Professor und Lorenz blieben zurück. Stumm saßen sie auf ihren Sesseln und sahen durch den kristallenen Boden in die Tiefe hinunter. Das Luftschiff zog über hügeliges Land. Endlich reihte sich in schachbrettartiger Anordnung Feld an Feld.

»Es sind Teufelskerle«, begann nach einer langen Pause Lorenz, »sie können was! Aber«, er sah erst eine Weile stumm vor sich nieder, »alles verstehen sie doch nicht! Was Heimweh ist und wie einem manchmal ums Herz werden kann, davon haben diese Automaten keinen Begriff!«

»Woher sollten sie ihn haben? Die ganze Welt – der Erdball ist ihre Heimat... Ein Vaterhaus kennen sie nicht... sie haben nicht Vater noch Mutter«, fing der Professor an, »und daß sie von ihrer Jugendzeit auch nicht viel halten...« Er stockte. Dem Herrn Professor schien auch schon manches an den Homunkuliden zu mißfallen.

»Ich weiß schon lange, was ihnen allen mitsammen fehlt«, sagte Lorenz, »die Homunkuliden haben kein Herz !«

»Da könnten sie ja nicht leben«, belehrte der Professor, »das sollten Sie doch wissen!«

»Das meine ich nicht«, sagte Lorenz trübe, »ein solches Herz, das das Blut in die Adern treibt, haben sie schon. Und es wird ein gutes Herz sein, in der Fabrik werden sie schon darauf schauen, daß diese Schraube gut konstruiert wird. Aber das andere Herz fehlt ihnen, das Herz, mit dem man sich freuen kann, das uns lachen macht und weinen. So ein Herz haben diese Automaten nicht. Auf das ist bei der Konstruktion vergessen worden!«

»Sie können recht haben. Ich wüßte auch nicht, wozu sie in ihrer Welt ein solches Herz brauchen könnten!« erwiderte der Professor. »Gescheite Kerle sind sie, das muß man ihnen lassen!«

»Das ist aber auch alles!« sagte Lorenz geringschätzig.

Während dieses tiefsinnigen Gespräches hatte sich die Situation unter dem Boden des Luftschiffes, ohne daß es die beiden sonderlich gemerkt hätten, ziemlich verändert. Der Blick auf die Erde hinab ward durch einen grauen, undurchdringlichen Nebel verwehrt.

»Da muß eine große Waschküche unten sein«, sagte Lorenz, der wieder zu einigem Humor kam.

»Das sind Wolken, durch die wir fahren«, erklärte der Professor.

»Ah, das ist interessant, das sollten wir uns doch ansehen!« sagte der neugierige Lorenz. »Durch Wolken zu fahren, das hab' ich noch niemals mitgemacht.«

Er lief zur Tür des Salons.

»Lorenz, Sie werden wieder ein Unheil anrichten«, warnte der Professor, »hier ist ein elektrischer Taster, mit dem wir vielleicht die Bemannung des Schiffes herbeirufen können.«

Lorenz blieb an der Tür des Schiffes stehen. Der Professor drückte auf den Taster und das helle Gebimmel eines Silberglöckleins ertönte.

Man vernahm draußen Schritte, die Tür öffnete sich, ein heftiger Luftzug machte sich bemerkbar, der auf ein Haar den getreuen Diener in die Arme der beiden Homunkuliden Plato und Archimedes geweht hätte. Nur mit Mühe konnte er sich am Türrahmen festhalten.

»Donnerwetter, da zieht's! Die Ventilation wirkt, das muß man sagen!« rief er erschrocken aus.

Auch der Professor war im Moment sehr verblüfft, faßte sich aber bald und rief erstaunt aus: »Der Luftzug kommt aber aus dem Salon, und im Salon ist bis auf die Tür alles geschlossen!«

Archimedes trat entschuldigend vor.

»Als wir das Notsignal hörten, glaubten wir, es sei Herrn Lorenz etwas passiert«, sagte er hastig, »sonst hätten wir nicht so schnell geöffnet.«

Mit dem Luftzug war es aus – plötzlich – es war eigentlich nur ein einziger Windstoß gewesen.

Lorenz stand noch immer ganz verdutzt beim Eingang.

»Ja – was war denn das?« fragte er. »Die Geschichte wird immer unheimlicher!«

»Nein, nein«, begütigte Archimedes, »wir haben in den Salon Luft eingeblasen; denn wir sind während Ihres Aufenthaltes da unten zweitausendfünfhundert Meter emporgestiegen, und da beträgt die barometrische Differenz schon volle zweihundertfünfzig Millimeter gegen den Druck einer Atmosphäre, der im Salon herrschte. Die im Salon enthaltene Luft hat sie hinausgeblasen, Herr Lorenz!«

»Mir ist ganz egal, ob die Luft von draußen oder die Luft von herinnen mich umbläst«, erwiderte unwirsch Lorenz. »Die Erfindung hat ihre Gefahren.«

Die Herren stiegen die Decke zum Verdeck empor.

»Na, wegen dieser Aussicht hätt' ich mich nicht zum Salon hinausblasen lassen müssen«, sagte Lorenz, als er das Verdeck in dichtesten Nebel gehüllt fand. Man vermochte nicht, drei Schritte weit vor sich zu sehen, und dabei herrschte eine empfindliche Kälte. Lorenz ging sehr vorsichtig zum Geländer und starrte in die treibenden Nebelmassen hinaus. »Lorenz, jetzt fahren Sie durch die Wolken«, sagte fast feierlich der Professor, »tief unter Ihnen liegt die Erde...!«

»Das Vergnügen ist mäßig«, sagte Lorenz. »Ich möchte kein Engel sein, das Geschäft wäre mir zu naß und zu kalt!«

Der Professor mußte unwillkürlich lachen, freute sich aber sehr, daß sein Getreuer den Humor wiedergefunden habe.

»Wir werden bald besseres Wetter haben«, sagte lächelnd Archimedes.

Er sprach einige Worte zu dem Kapitän. Auf ein Zeichen des Befehlshabers begannen die Schrauben stärker zu summen. Das Verdeck erzitterte leise unter den Schlägen der gewaltigen Windflügel. Lorenz starrte noch immer in die durcheinanderwogenden Nebelmassen hinaus, die infolge des Durchgleitens des Schiffes in eine seltsam wirbelnde Bewegung gerieten. Es schien, als griffen vergeblich mächtige Geisterarme nach dem Verdeck hinauf.

»Was sagen Herr Professor zu dieser Fahrt?« sagte Lorenz.

Der Professor antwortete nicht. Er schien den treuen Diener gar nicht gehört zu haben.

»Etwas unheimlich«, rief mit allem Aufwand seiner Stimme Lorenz zu seinem Herrn hinüber.

Der Professor drehte den Kopf nach ihm. Er sprach einige Worte, aber Lorenz vernahm keinen Laut. Er sah aufmerksam hin. Da bemerkte er auf einmal, daß aus der Nase des Professors Blut floß.

»Was ist das, Herr Professor bluten!« rief er erschreckt.

In diesem Moment fühlte er, daß es auch ihm ganz warm über die Lippen rann. Er wischte sich ab – und hatte die Hand voll Blut.

»Was ist denn das wieder?« fragte er sich entsetzt. Es ward ihm ganz übel, er bekam nicht Atem genug, das Sprechen ward ihm unsäglich schwer, seine Adern pochten, eine furchtbare Angst überfiel ihn.

Aber schon kam Herr Archimedes zu ihm, nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu der Stiege. Jammervoll wendete er seinen Blick zu seinem Herrn; als er sah, daß dem von Plato der gleiche Liebesdienst getan wurde, folgte er willig seinem Mentor.

Im Salon angekommen, wurden sie von Archimedes über den Vorfall belehrt.

»Verzeihen, Herr Professor«, begann der gelehrte Automat, »wenn ich die Ursache an diesem Vorfalle zum Teil Herrn Lorenz zuschieben muß.«

»Mir?« fragte wütend der Diener.

»Jawohl, Herr Lorenz«, entgegnete ernst Plato, »Ihre Ungeduld ist schuld daran!«

»So –? Na, da möchte ich doch bitten...«

»Um Entschuldigung natürlich, lieber Lorenz«, verwies milde der Professor; »erlauben Sie, meine Herren, daß ich Lorenz selbst den Vorgang aufkläre!«

Plato und Archimedes verneigten sich stumm.

»Wir hatten im Salon Luft von einer Atmosphäre Druck«, fing der Professor zu dozieren an. »Als Sie so schnell hinauf auf das Deck gingen, kamen Sie in eine Luftschichte, deren Druck um vieles geringer war; die in Ihrem Körper eingeschlossene Luft treibt Ihnen nun das Blut zur Nase und beim Munde heraus – wir haben beide die Caissonkrankheit bekommen.«

»Das auch noch«, brummte Lorenz, »zu unserer Zeit hat man die Seekrankheit gekannt, die Eisenbahnkrankheiten und da gibt's noch eine Caissonkrankheit. Gehört das auch zum Fortschritt? Hoffentlich ist ein Schiffsarzt an Bord?«

»Das ist nicht nötig«, sagte lächelnd Archimedes, »die Behandlung Ihrer Krankheit hat bereits begonnen!«

»So, und mit welchen Mitteln wird denn diese neuartige Krankheit behandelt?«

»Mit Luft, mein lieber Lorenz«, begütigte der Professor den Aufgeregten.

»Das ist ein sehr einfaches Mittel und leicht zu haben«, sagte Lorenz.

»Hier wird dieses Mittel eingeführt«, erklärte Archimedes und wies auf eine Öffnung nahe der Decke. »Die Pumpen sind bereits in Tätigkeit, Luft hereinzupressen. Wenn im Salon wieder eine Atmosphäre Druck herrscht, was in fünf Minuten der Fall sein wird, werden Sie bereits ganz gesund sein!«

»Dann ist's recht, meine Herren, und ich bitte sehr um Verzeihung, daß ich durch meine Voreiligkeit die Krankheit herbeigeführt habe. Aber sagen Sie mir, muß ich jetzt, um gesund zu bleiben, immer da herunten sein?«

»Das ist nicht gerade notwendig«, sagte Archimedes, »Sie dürfen nur den Salon nicht allzu schnell verlassen. Wenn Sie an diesen Taster drücken«, er wies dabei auf einen Perlmutterknopf neben der Tür, »so stellen erstens die Luftpumpen ihre Tätigkeit ein, es öffnet sich dann unter dem Druck der eingeschlossenen Luft dieses Ventil da oben, und es beginnt ein langsamer Ausgleich zwischen der Luft im Salon und der den Aeronauten umgebenden Luft. Wenn dann die Druckdifferenzen gleich Null geworden sind, zeigt Ihnen ein Glöckchen an, daß Sie ohne Schaden den Salon verlassen können. Denn dann hat die Luft, die in Ihrem Körper eingeschlossen ist, auch schon die Dichte der den Aeronauten umgebenden Luft angenommen.«

»Ganz wie bei einem Caissonarbeiter!« bemerkte der Professor.

»Hm, hm«, sagte nachdenklich Lorenz, »mir ist die Geschichte wohl nicht ganz klar, wenn sie aber vom Herrn Professor selbst bestätigt wird, so ist es meine Pflicht, sie ohneweiters zu glauben. Wenn aber für das Verhalten auf dem Schiff die Beobachtung weiterer Maßregeln notwendig ist, dann bitte ich noch um einige Aufklärungen. Denn wenn ich zufällig meinen Kopf hier verlieren sollte, so würden alle Ihre Pumpen und Schrauben nicht hinreichen, mir ihn wieder aufzusetzen. Das aber muß ich sagen, daß ein Omnibus, wie man ihn zu meiner Zeit hatte, ein weit einfacheres und angenehmeres Vehikel war als dieses Fahrzeug hier!«

Der Professor mußte unwillkürlich lachen.

»Wir werden Herrn Lorenz sofort in angenehmere Stimmung bringen«, sagte Plato, der bis jetzt geschwiegen hatte. »Wir werden den Anhänger der alten Zeit mit der neuen versöhnen. Wollen Sie, Archimedes, die Fenster öffnen lassen!«

Archimedes ging zur Wand und drehte einen Hebel. Man hörte ein sonderbares Geräusch, wie wenn Rollbalken heruntergelassen würden. Plötzlich erfüllte Tageshelle den Salon, zwei Wände verwandelten sich in ungeheure Fenster; auch der Ausblick durch den Boden des Salons wurde wieder frei.

»Ah!« sagte staunend Lorenz.

Heller Sonnenschimmer leuchtete durch das eine Fenster und erfüllte das Zimmer mit seinem warmen, blühenden Lichte. Lorenz eilte sofort hin, enttäuscht schüttelte er den Kopf.

»Keine Gegend..., keine Gegend...«, sagte er, »alles blau...! Nur Luft..., nur Luft..., sonst gar nichts... wir werden uns doch nicht verflogen haben?«

»Nein, Herr Lorenz«, tröstete Plato, »sehen Sie nur einmal ein wenig abwärts!«

Auch der Professor war zum Fenster getreten. Ergriffen sah er in die unendliche Weite hinaus. Ihm war zu Mute, als ginge ihm hier der Begriff »Ewigkeit und Unendlichkeit« in seiner ganzen furchtbaren Größe auf. Nirgends haftete der Blick, alles war leere unendliche Ferne. Nur tief, abgrundtief wogten unter dem Schiffe die grauen Nebelmassen, dann und wann das Aufleuchten eines Blitzes und nach einer Weile leise murmelnder Donner, wie aus weiter, weiter Ferne erklingend.

»Die Luft muß sehr dünn sein«, sagte er zu Archimedes.

Archimedes wies auf ein Aneroidbarometer, das draußen am Fenster hing. Es zeigte nur mehr einen Druck von 290 Millimetern an.

»Was?« rief erschrocken der Professor aus, »zweihundertneunzig Millimeter Druck, dann wären wir ja mehr als fünftausend Meter hoch!«

»Es dürfte stimmen!« sagte Archimedes. »Dem Gewitter zu entgehen, flüchteten wir in diese Höhe.«

Bei dem Fenster stand ein hübscher, vollständig gedeckter Tisch. Die Herren ließen sich auf den Fauteuils, die um den Tisch gereiht waren, nieder.

»Die Herren dürften schon einigen Appetit verspüren« sagte Plato, »es ist zwölf Uhr vorüber...«

Aber die freundliche Einladung blieb ohne Antwort; Lorenz starrte unablässig in die unendliche Ferne hinaus. In dem Professor regte sich der Gelehrte.

»Wie ist es möglich«, fragte er, »daß die Schrauben Ihres Luftschiffes in dieser so verdünnten Luft noch wirksam sind?«

»In erster Linie wirkt bei der Fortbewegung unseres Aeronauten derzeit die lebendige Kraft der Masse. Um das Schiff zu steuern, sind jetzt die Schrauben in höchster Tätigkeit, denn je geringer die Dichte der Luft ist, desto schneller müssen die Schrauben sich drehen. Die große Schraube macht jetzt mehr als zweitausend Umdrehungen in der Minute«, erklärte Archimedes.

»Aber wo nehmen Sie die ungeheure Kraft her, diesen Riesenmechanismus in solche Bewegung zu setzen?« fragte kopfschüttelnd der Professor.

»Die Kraftströme werden uns von der Erde heraufgesendet!«

»Ohne jede Drahtverbindung natürlich, mittels Funkentelegraphie – das ist fast nicht zu glauben – das ist ja undenkbar!«

»Und doch ist es so«, meinte Archimedes, »solche Ströme durch Funkentelegraphie zu senden, ist jene Erfindung, die eben unsere Luftschiffahrt möglich gemacht hat!«

Sinnend saß der Professor da.

»Da fällt mir mein Physikprofessor ein«, sagte er nach eine Weile. »Ende der sechziger Jahre, ungefähr eintausendachthundertachtundsechzig war ich im Gymnasium und der alte Herr trug über Elektrizität vor. Ich hör' ihn jetzt noch sprechen. Er erklärte, daß es nie möglich sein werde, die Elektrizität zum Betriebe von Maschinen zu verwenden. Als ich mich zu meinem tausendjährigen Schlaf niederlegte, also kaum vierzig Jahre, nachdem jener Herr Professor diesen denkwürdigen Ausspruch getan hatte, fuhren die Leute schon auf elektrisch betriebenen Bahnen, betrieben ihre Arbeitsmaschinen mit Elektrizität – warum soll nach zweitausend Jahren menschlicher Geist es nicht möglich gemacht haben, mittels Funkentelegraphie Maschinen zu treiben? Der Italiener Marconi hat die Welt mehr umgeformt als jeder andere Erfinder!«

Lorenz hatte bislang zum Fenster hinausgesehen, plötzlich drehte er sich um und sagte: »Der Herr Plato haben vor einiger Zeit geruht, uns aufmerksam zu machen, daß es bereits zwölf Uhr vorüber ist. Wenn es möglich ist, diesem Zeitpunkt auf diesem kuriosen Vehikel genügend Rechnung zu tragen, so wäre ich gern damit einverstanden. Die Luft hat mir schon ganz angenehmen Appetit gemacht!«

Der Professor schreckte aus seinen Träumen auf, und da auch sein Magen ähnliche Gefühle entwickelte, so stimmte er Lorenz zu. Plato drückte auf den Taster, und fast augenblicklich trat ein Diener in den Salon, der sich nach den Wünschen der Herren erkundigte. Plato erteilte ihm in der Homunkulidensprache einige Weisungen, und nach kaum zehn Minuten stand das Essen auf dem Tisch. Der Professor und Lorenz sowie die beiden gelehrten Homunkuliden taten ihm alle Ehre an. Mit besonderem Vergnügen erfüllte es Lorenz, als der dienernde Homunkulide die Flasche mit dem braunen Zaubertrank hereinbrachte.

»Das ist doch die allerschönste Erfindung«, sagte er, als er das erste Gläschen ausgetrunken hatte. »Das Luftschiff und alles andere ist nicht die Hälfte so viel wert wie dieser Likör! Prost! Die Homunkuliden sollen leben!«

Lustig stießen die Herren mit ihm an. Lorenz trank noch ein Glas – dann noch eines und wurde sehr aufgeräumt.

»Ich glaube, ich habe einen Fehler begangen«, sagte er, »ich habe bis jetzt noch zu wenig von diesem Likör getrunken!«

Er sah höchst vergnügt darein.

»Herr Professor sollten auch noch einige Gläschen trinken; er ist gut und erwärmt einem das Herz, was hier in dieser kalten Temperatur sehr notwendig ist!«

Plaudernd blieben die Herren ein Stündchen sitzen. Der Professor erzählte von seiner Jugendzeit. Andächtig hörten die Homunkuliden zu und schüttelten nur manchmal ganz unmerklich die Köpfe. Sie wollten den Herrn Professor nicht durch ihre Kritik betrüben, wenn er Dinge erzählte, die ihnen ganz unfaßbar abscheulich vorkamen.

Auch Lorenz erzählte in seiner Art von seinen Schicksalen, und als er erwähnte, daß sein Vater, der ein ehrsamer Bauersmann gewesen war, durch Unglücksfälle aller Art um Haus und Hof kam, da wurde Plato beredt und sprach ein vernichtendes Urteil über jene Zeit aus, aus der zu flüchten die glorreiche Erfindung des Herrn Professors ihm möglich gemacht habe.

Archimedes beteiligte sich weniger an dem Gespräch, er verwandte fast keinen Blick von dem vor dem Fenster hängenden Aneroidbarometer.

»Unser Luftschiff ist um tausendfünfhundert Meter gesunken« – er sah nach der Uhr im Salon – »in einer Viertelstunde werden wir die Tauernkette überfliegen!«

»Das müssen wir uns von oben betrachten!« sagte aufgeregt der Professor.

»Mir wird's auch ein Vergnügen gewähren, einmal von oben auf die Berge hinabzuschauen«, meinte Lorenz und wollte zur Tür gehen. Der Professor hielt ihn zurück.

»Sie haben doch gehört – wollen Sie sich neuen Unannehmlichkeiten aussetzen?« fragte er.

»Das nicht, Herr Professor entschuldigen...«, antwortete Lorenz und ließ sich auf einem Fauteuil nieder.

»Ich werde warten, bis die Tür offen ist«, sagte er; »ich will nicht wieder hinausgeblasen werden.«

Es ward still im Salon, man hörte nichts als das Summen der ungeheuren Schrauben.

Auf einmal erklang der helle Ton eines Glöckchens.

»Wir können jetzt ohne Sorge auf das Verdeck gehen«, sagte Archimedes; »die Druckdifferenzen zwischen der hier eingeschlossenen Luft und der äußeren sind behoben!«

Die Herren gingen zur Tür, Lorenz hielt sich scheu im Hintergrunde.

Archimedes öffnete ohne jeden Unfall die Tür. Als sie auf Verdeck kamen, bot sich ihnen ein gewaltiger Anblick dar. Unter ihnen lag all die unsagbare Pracht der Hochalpen ausgebreitet, grüne Matten, aus den Tälern leuchteten die roten Ziegeldächer einsamer Dörfer herauf, himmelragend die Zinken und Schroffen der Tauernkette. Ein riesiges Eisfeld tauchte vor ihren Blicken auf.

»Nun kommen wir zum Großglockner«, sagte Archimedes.

Die Herren lehnten stumm am Geländer; die schimmernde Pracht da unten wirkte so überwältigend auf sie, daß keiner ein Wort hervorbringen konnte. Sie näherten sich dem Gewände des Großglockners; mehr als dreihundert Meter über dem Gipfel des Riesen glitt der Aeronaut dahin. Lorenz hatte die Hände gefaltet und sah staunend hinunter.

»Na, was sagen Sie zu dieser Reise?« fragte der Professor seinen Getreuen.

Er mußte die Frage zwei-, dreimal wiederholen, bis Lorenz aus seinen Träumen aufschreckte.

»Die Aussicht läßt wirklich nichts zu wünschen übrig«, meinte er dann, »in der Beziehung ist diese Art zu reisen allen Eisenbahnfahrten über. Man muß Respekt kriegen vor diesen Leuten!«

Der Professor nickte. »Ist Ihnen also doch nicht leid, daß Sie dieses Experiment mitgemacht haben?« fragte er lächelnd.

Lorenz schwieg erst. »Es gibt viel Interessantes zu sehen, das ist nicht zu leugnen, aber...«

»Nun, was... aber?«

»Schauen Herr Professor nur die beiden Automaten an! – Für die ist das alles nichts... Es ist nicht möglich, daß man sich mit ihnen wie mit guten Freunden hinsetzen kann und sich freuen über die schöne Aussicht... Ihre Gesichter sind immer dieselben, ich glaube, sie haben alle einen Konstruktionsfehler – sie können sich über nichts freuen!«

»Sie haben nicht unrecht«, sagte der Professor, »sie scheinen wirklich keiner Erregung fähig zu sein!«

Plato und Archimedes standen unweit vom Geländer, bei ihnen der Kapitän. Kein Zug in ihrem Antlitz verriet, daß die grandiose Herrlichkeit, die da unten vor ihnen ausgebreitet lag, irgendeinen Eindruck auf sie mache.

»Es wäre mir lieber, sie wären weniger gescheit und dafür mehr... wie soll ich sagen... na... mir scheint, ich finde auch kein Wort mehr dafür...!«

Lorenz schüttelte erregt den Kopf.

»Herzlicher... inniger... teilnehmender...«, unterstützte ihn der Professor.

»Ja, das mein' ich, mir wird kalt, wenn mich so ein Automat anredet!«

»Vielleicht ist's gut für sie«, meinte der Professor, »sie fühlen keine Freude und keinen Schmerz.«

»Dank' schön, wenn ich einmal tot bin, werde ich auch keine Freude und keinen Schmerz fühlen. So lange ich lebe aber...«

Er konnte nicht weitersprechen, da Plato in die Nähe des Professors trat.

Der Aeronaut überflog das Drau-Tal. Der Professor freute sich über die ungeheuren Wälder, die, so weit sein Blick reichte, den Rücken der Gebirge bedeckten.

»Aller Boden, der nicht als Ackerland benützt werden kann«, erklärte Plato, »wird für die Forstwirtschaft ausgenützt. Wir schützen das Land, indem wir unablässig Wälder pflanzen. Wenn wir über die Höhen des Karstes fliegen, werden Sie auf ein Paradies herabschauen, wo zu Ihrer Zeit eine kahle Steinwüste war.«

»Ich habe mich gar nicht erkundigt, wo wir landen werden«, sagte der Professor.

»Wir landen an einer Stätte, die zu Ihrer Zeit schon berühmt und vielbesucht war – in Venedig!«

»In Venedig – ah...«, meinte erfreut der Professor, »ich habe diese herrliche Stadt wiederholt besucht – ein steinernes Gedicht – diese uralten, herrlichen Bauwerke!«

»Davon werden Sie nicht mehr viel finden, die alten Bauten sind längst zerfallen, die Lagunen sind ausgetrocknet...«

»Was?... Was?« schrie erschrocken der Professor. »Dann ist's ja mit der ganzen Poesie dieser herrlichen Stadt vorüber!«

Plato zuckte die Achseln.

»Poesie – nun ja – aber die Stadt ist gesünder geworden, als sie es einst war, und – Poesie – ich glaube, Sie haben so gesagt, Herr Professor...«

»Jawohl – Poesie.«

»Ich weiß nicht recht, was Sie damit wollen«, sagte zweifelnd Plato, »das dürfte etwas sein, was uns Homunkuliden abhanden gekommen ist. Was verstehen Sie eigentlich darunter?«

»Das glaub' ich gern, daß Ihnen das weggekommen ist«, brummte Lorenz, »von dem Artikel habe ich noch nichts bemerkt.«

Der Professor bemühte sich, den beiden Homunkuliden den Begriff »Poesie« zu erläutern. Es war vergeblich, wie sehr er sich auch abplagte. Er sprach von den Erinnerungen an die Jugendzeit, er wies hinunter auf die schimmernde Pracht der schneeigen Felder, auf die ragenden Felsengipfel, die so ernst in ihrer stolzen Größe emporsahen zu ihnen, und erkundigte sich angelegentlich, ob das in der Brust der P. T. Homunkuliden kein wärmeres Gefühl erwecke.

Aber Plato und Archimedes verneinten das entschieden. Und von den Jugenderinnerungen hielten sie auch nicht viel. Sie sahen ganz verwundert darein, als der Professor so sonderbare Fragen stellte.

»Ich glaube«, fing Plato an, »in unserer Zeit ist kein rechter Boden für Poesie; die Entwicklung der Technik, der vollständige Ausgleich aller sozialen Gegensätze, die absolute Gleichheit der Bewohner unseres Staates läßt ein solches sehnsüchtiges Fühlen gar nicht aufkommen.«

»Und es geht Ihnen noch was anderes ab, was für die Poesie sehr notwendig ist...«, bemerkte Lorenz.

»Das wäre?« fragte der Professor den philosophischen Diener.

»Das sind die Weiber! Ich bin immer sehr poetisch gewesen, wenn ich verliebt war. Das muß mit den Organen im Zusammenhang stehen. Ich weiß es noch sehr gut, wie ich mein erstes Mädel kennengelernt hab'... Ich hab' gesungen – meistens sehr traurige Lieder, zum Beispiel: ›Steh' ich in finstrer Mitternacht so einsam auf der treuen Wacht...‹, was mir sehr gut gefallen hat, obwohl es gar nicht wahr gewesen ist, denn ich war damals bei meinem Onkel, dem Bäckermeister, im Dienst, und da haben wir die ganze Nacht arbeiten müssen. Und Gedichte hab' ich gelesen und ins Theater bin ich gegangen..., und manchmal ist die Poesie so stark in mir geworden, daß ich es gar nicht aushalten hab' können!«

Der Professor mußte über die Definition der Liebe seitens Lorenz' unwillkürlich lachen.

»Da gibt's unter den Homunkuliden also gar keine Dichter mehr?« fragte er Plato.

»Dichter in Ihrem Sinne nicht. Aber was auf diesem Gebiete gearbeitet worden ist, was da geschaffen wurde, wird treu gehütet. Wir haben eigene Personen angestellt, die diese Sachen immer aufs neue studieren müssen und dann über den Lebenslauf der Dichter und über ihre Werke Bücher herausgeben, über manchen Dichter sind schon ganze Bibliotheken geschrieben worden!«

»Sehr schön«, nickte zustimmend der Professor, »aber die Werke selbst, werden die nicht mehr gelesen?«

Plato zuckte die Achseln.

»Die Homunkuliden wissen nichts Rechtes damit anzufangen; es ist alles so fremd, so unverständlich für uns!«

Das Luftschiff hatte unterdes die Alpenkette überstiegen. Tief unten lag die lombardische Tiefebene. Wieder derselbe Anblick: Gebreite der Felder, Riesenstädte – im bunten Wechsel. Ein breiter Strom wälzte träge seine graugelben Fluten durch die blühende Landschaft. Sein Bett war an beiden Ufern durch ungeheure Steindämme geschützt.

»Was für ein Wasser ist das?« fragte Lorenz.

»Das ist der Po!« antwortete Plato.

»Das ist ein italienischer Fluß!« sagte erfreut Lorenz. »Da sind wir also schon in Italien angekommen. Um neun Uhr sind wir fortgefahren, jetzt ist's halb drei – in fünf Stunden haben wir einen ganz netten Weg gemacht! Allen Respekt!«

»In kaum einer halben Stunde werden wir landen«, erklärte Archimedes.

Der Professor sah sinnend hinunter in die Tiefe. »Wissen Sie, Herr Archimedes, woran die Szenerie da unten erinnert?«

»Was meinen, Herr Professor?« fragte Archimedes.

»Die ungeheuren Dämme, die dem Strom den Weg weisen hinab zu dem Ozean, damit seine Fluten die Ebene nicht zum Meere machen, haben eine frappante Ähnlichkeit mit den Kanälen auf dem Mars...«

»Sie haben nicht unrecht, Herr Professor, auch der Unterlauf der Donau, des Rheins, der Elbe und der Oder ist schon durch solche ungeheure Dämme geschützt. Selbstverständlich ist der Flußlauf bei Anlage der Dämme gleichzeitig reguliert worden, so daß infolge dieser Regulierung die genannten Ströme in fast geraden Linien ihre Wässer zum Meere senden. Wenn sich nun jemand aus der Entfernung von einigen tausend Kilometern dieses Kanalsystem betrachten würde, so würde ihm die Ähnlichkeit mit den Marskanälen selbstverständlich sofort auffallen.«

»Unser Planet ist alt geworden«, sagte sinnend der Professor.

»Ich glaube, er ist jetzt im besten Alter«, warf Plato ein.

»Zu meiner Zeit war dieser Planet um zweitausend Jahre jünger, und da hat er mir besser gefallen«, meinte Lorenz.

Das Luftschiff folgte dem Laufe des Stromes. Auf einmal tauchte in der Ferne der Spiegel des Meeres auf.

»Das Adriatische Meer!« rief der Professor aus.

»Sehr wohl, Herr Professor, und wenn Sie sich meines Glases bedienen wollen, so werden Sie drüben im Osten das Gestade der istrianischen Halbinsel auftauchen sehen!«

Der Professor nahm das Glas; zu seinem größten Erstaunen sah er fern im Osten die ungewissen Umrisse eines Landes.

»Das soll Istrien sein? Von dieser Halbinsel müssen uns doch mindestens hundert Kilometer trennen, so weit ist die italienische Küste doch von Istrien an dieser Stelle entfernt!« rief der Professor.

»Heute nicht mehr«, sagte Plato; »der Po und die Etsch haben das Adriatische Meer schon gehörig zugebaut. Chioggia und Venedig liegen schon kilometerweit vom Meer entfernt!«

»Da fahren sie jetzt in Venedig auch schon mit Fiakern und Automobilen statt mit Schinakeln«, sagte kopfschüttelnd Lorenz, »alles Schöne hat sich aufgehört.«

Das Luftschiff schlug die Richtung nach Norden ein. Eine weit ausgedehnte, prächtige Stadt tauchte in der Ferne auf.

»Dort liegt Venedig«, sagte Plato.

»Nach zweitausend Jahren sehe ich diese Stadt wieder«, sagte der Professor.

»Sie werden sie kaum mehr erkennen«, meinte Archimedes.

»Es gibt keine Lagunen mehr«, warf Plato ein, »und keine Gondoliere. Die uralten Bauten sind längst gefallen; an ihrer Stelle sind moderne, unserer Zeit und unseren Verhältnissen entsprechende aufgeführt worden.«

»Dann ist die letzte Spur von Romantik, die diese von Sage und Geschichte umwobene Stadt einst belebte, verschwunden?«

Der Professor war tief bewegt, seine Augen schimmerten feucht, als er hinüber sah nach jener Stätte, auf der zu seiner Zeit das alte Venedig gestanden war.

»Herr Professor, Sie sagen Romantik. Ich kann mir nicht recht ausdenken, was Sie darunter meinen... Das ist wohl auch so wie Erinnerung an alte, längstvergangene Zeiten?«

»Etwas von der Art ist's«, sagte Lorenz; »wenn man auf einem Berg eine alte Ruine trifft und setzt sich dort auf einen Stein und denkt nach, wie es da einmal gewesen ist, und stellt sich vor, wie die Ritter kommen und die Edelfräulein, so ist das Romantik. Bei Ihnen gibt's wohl gar keine Ruinen mehr?«

»Nein«, entgegnete trocken Plato; »für altes Trümmerwerk, ob es Mauerstücke sind oder veraltete Anschauungen, haben wir kein Gefühl und kein Verständnis. Es ist uns ja vieles verlorengegangen von dem, was Sie einst besaßen oder Ihnen wert war, zu diesen Verlusten dürfte auch wohl der Begriff ›Romantik‹ gehören. Ich weiß nicht, warum wir die Erinnerung an alte Zeiten pflegen sollen, die doch um so vieles schlechter waren als unsere Zeit. Wir haben nicht viel verloren, Herr Professor, aber viel gewonnen...«

Der Professor sah still auf den Mann, der da so über seine Zeit aburteilte. Lorenz aber war wütend – man sah es ihm an, wenn er nicht reden durfte, so mußte er explodieren. Der Professor winkte ihm ab.

»Seien Sie ruhig, Lorenz!« befahl der Professor, aber Lorenz hätte diesmal seinem Befehle sicher nicht gefolgt, wenn nicht eine neue Erscheinung ihn gefesselt hätte. Ein kleines Luftschiff, eine Nußschale gegen den Aeronauten, der sie führte, kam auf sie zugesaust. Lorenz blieb das Wort in der Kehle stecken.

»Das Ding wird uns die Fenster einrennen«, sagte er ängstlich.

»Haben Sie keine Sorge, Freund Lorenz. Das ist der Lotse, der unser Schiff sicher in den Hafen führen wird«, beruhigte Archimedes.

Als der Lotse den Bord des großen Luftschiffes betrat und zum Steuerhäuschen schritt, konnte Lorenz sich doch nicht enthalten, seiner Meinung Ausdruck zu geben.

»Na, sehen Sie, Herr Professor, jetzt ist der Mensch gerade an Bord gestiegen, und man ist nicht mehr imstande, ihn unter den anderen herauszufinden. Diese Automaten sind alle nur über einen Leisten gearbeitet.«

Als der Lotse das Häuschen des Steuermannes betreten hatte, begann der Aeronaut sich sofort zu senken, die Fluren und Felder, die ersten Häuser der Stadt begannen gleichsam zu ihnen emporzusteigen. Es dauerte nicht lange und der Aeronaut schwebte mitten über der Stadt.

»Na, wann jetzt die Maschinen auslassen, schlagen wir ein ganzes Stadtviertel zu Mus zusammen.«

Das Schiff näherte sich langsam einem riesigen Gebäude, das ähnlich gebaut war wie jenes, von dem aus sie vormittags ihre Luftfahrt angetreten hatten. Ohne jedes Signal, ohne Läuten, Pfeifen oder Schreien fuhr das Riesenfahrzeug sicher in den Hafen. Eine Weile stand es über den Mauern still, dann senkte es sich ganz leise in die Halle herab.

Mit Staunen sah Lorenz links und rechts die Mauern der Halle emporsteigen. Auf einmal gab es einen unmerklichen Ruck, und der Aeronaut stand still.

»Wir sind in Venedig angelangt«, erklärte Plato.

Als die Reisenden auf den freien Platz vor dem Gebäude hinaustraten, machte der Professor die staunenswerte Entdeckung, daß es jetzt da viel ruhiger zuging als damals, da er in schöner Jugendzeit das strahlende Venedig besucht hatte.

Auf einen Blick Archimedes' fuhr ein Automobil vor. Ein Homunkulide, der neben dem Chauffeur saß, stieg würdevoll herab und öffnete, ohne ein Wort zu verlieren, den Schlag des Wagens. Weder die Bemannung der anderen Automobile, die vor dem Gebäude aufgestellt waren, noch die Passanten kümmerten sich um die Angekommenen.

»Das sind die heutigen Venezianer?« rief erstaunt der Professor aus.

»Es sind eben auch Homunkuliden«, erklärte lächelnd Plato.


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