Rudolf Hawel
Im Reiche der Homunkuliden
Rudolf Hawel

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Fünftes Kapitel.

Wie die Nachricht aufgenommen wird. Die Akademie der Wissenschaften läßt einen feuersicheren Pavillon als Ruhestätte für den Professor und seinen Diener bauen. Die Feierlichkeiten am Tage der Einschläferung. Letzte Gedanken des Professors und des Dieners.

Am zweitnächsten Tage brachten die Blätter der Hauptstadt lauter Leitartikel, die sich einzig und allein mit der Tatsache beschäftigten, daß das Unterrichtsministerium auf Vorschlag der Akademie der Wissenschaften für das Unternehmen des Dr. Voraus eine namhafte Summe gewidmet habe. Die freiheitlichen, nationalen und sozialdemokratischen Blätter sprachen dem Ministerium zu diesem Entschluß ihren höchsten Beifall aus. Die konservative und klerikale Presse verhielt sich, wie vorher, ablehnend, führte ihre Ansichten aber in weit vornehmerer und sachlicherer Art aus als früher. Nur ein einziges Blatt, »Der bessere Christ«, erging sich in unflätigen Schmähungen des wissenschaftlichen Unternehmens, erklärte sich schließlich doch damit sehr zufrieden, daß dadurch »dieser verrückte Professor auf immer verhindert werde, die Zeitgenossen mit seinen Tollheiten zu belästigen«.

Die Blätter richteten eine eigene Rubrik ein, in die nur Mitteilungen aufgenommen werden sollten, die auf dieses Unternehmen Bezug hätten.

In diesen bewegten Tagen wurde Lorenz zu einer vielgesuchten Persönlichkeit. Die Reporter der kleineren Blätter suchten ihn mit Vorliebe auf, und er ermangelte nicht, ihnen alle möglichen Nachrichten zukommen zu lassen. Und um was die Herren nicht alles fragten! Was für ein Kostüm sie anziehen würden, wie man die Betten einrichten werde. Endlich wurde die Frage nach dem Schlafsalon der beiden gelöst. Die Akademie ließ nach den Plänen eines bekannten Architekten in ihrem Riesenpark einen Pavillon erbauen, der das Schlafgemach der beiden enthalten sollte.

In allen Blättern erschienen Abbildungen des Pavillons, und das Interesse an diesem Bauwerk war ein so allgemeines, daß auch der Architekt über seine Absicht interviewt wurde. Er sprach sich dahin aus, daß der Bau so ausgeführt werden müsse, daß kein Geräusch von außen in das Innere dringen könne, weshalb Matratzen, gepolsterte Türen und sonstige Tapeziererarbeiten bei diesem Bauwerk eine hervorragende Rolle spielen würden.

Lorenz hatte wieder einige glückliche Wochen. Die anstrengende, aufreibende Tätigkeit, zu der ihn der so nahe Termin der Ausführung ihres so hochbedeutenden Vorhabens zwang, verursachte es, daß der tiefe Schmerz um Wetti in seinem Herzen etwas zurückgedrängt wurde. Er hatte alle Hände voll zu tun. Jeden Nachmittag besuchte er erstens den Garten der Akademie, um sich von den Fortschritten des interessanten Bauwerkes zu überzeugen. Er war dort bald allen Arbeitern bekannt. Daß er mit seinem Herrn das interessante Experiment ausführen werde, machte ihn bei allen sehr interessant, und die Maurer, Poliere und sonstigen Arbeiter begrüßten ihn mit großer Achtung, die nicht ohne Herzlichkeit war. Und erst die unendlich vielen Dinge, Bücher, Karten, wissenschaftlichen Instrumente usw., die der Professor in dem Pavillon unterbringen wollte! Jeden Tag gab es stundenlange Konferenzen mit dem Professor Dr. Voraus, der endlose Verzeichnisse anlegte, am nächsten Tage manches als unnötig ausstrich, um es am dritten Tage, einer neu gewonnenen besseren Einsicht folgend, wieder hinzuzusetzen.

Endlich hatte der Professor das Allerallernotwendigste beisammen, das ihm wert schien, für eine so ferne Zukunft aufbewahrt zu werden. Es war höchste Zeit, denn vom fertiggestellten Rohbau im Akademiegarten wehten schon die bunten Wimpel und Fahnen herab, die das Gleichenfest verkündeten.

An diesem Tage ward dem Professor im Saale der Akademie der ihm vom Kaiser verliehene hohe Orden überreicht. In seiner Dankesrede bat der Professor, man möge ihm den Orden auch für die zweitausend Jahre überlassen, da er ihn als eine liebe Erinnerung aus der Gegenwart in die Zukunft mitbringen wolle. Er sprach auch die bestimmte Hoffnung aus, daß die Menschen jener weltenfernen Zeit dieses strahlende Zeichen der Anerkennung würdigen werden...

Der Bau erwies sich hochinteressant, nicht nur für den Fachmann, auch für den Laien. Es war eine geniale Schöpfung der genialen Baumeister Fellner und Helmer. Die Hauptmauern waren aus Granitquadern aufgeführt und besaßen eine Dicke von 150 Zentimetern. Der Dachstuhl bestand durchwegs aus Eisen und war mit Platten aus einer aus Asbest und Ton geformten, absolut feuerfesten Masse gedeckt. Vier Blitzableiter ragten über das Dach empor, eine ziemlich unnütze Einrichtung, da bei der Konstruktion des Gebäudes von der Verwendung von Holz prinzipiell abgesehen wurde.

Selbst die Fensterrahmen waren aus Eisen, desgleichen das Haupttor und die beiden Nebentüren. Interessant war die plastische Ausschmückung des zu so eigenartigem Zwecke errichteten Baues.

Die Hauptfigur der den Giebel krönenden Gruppe war Morpheus, der Gott des Schlafes, das Haupt mit einem Kranze aus Mohnblumen geziert. Putten und schöne Kindergestalten mit Mohnblumen in den Händen schmückten die Gesimse, und in einem großen Fries war wieder Morpheus dargestellt, wie er mit segnender Gabe Arbeitsmüden, Kranken, Sorgenvollen und Kummerbedrückten Erlösung von allem Leide bringt. Der berühmteste Maler der Hauptstadt hatte ein Bild für den Pavillon gespendet, ein großes Wandgemälde, das den ungeteiltesten Beifall nicht nur der Kritiker, sondern auch aller Laien fand. Es stellte den Professor auf einem herrlichen Bette schlummernd vor; im Traume sieht er die Göttin der Wissenschaft, die die rosige Hand erhebt, ihm das Land der Zukunft weist. Von Wolken umgeben, schauen schönheitsverklärte Menschen auf den Schläfer herab.

Das Schlafgemach im Innern des Pavillons war ernst, fast düster, wie es sich für einen Raum geziemt, der dem Dienste der Wissenschaft geweiht ist, Vorhänge von schwerem dunkelroten Samt verhüllten die Fenster. Der Plafond war ein Meisterwerk der Dekorationskunst. Der Professor hatte darauf bestanden, daß auch das Bett seines Dieners in dem Raum untergebracht werde. Das Bett des Professors überdachte ein Baldachin aus den kostbarsten Seidenstoffen mit reicher Stickerei. Auf Befehl der Regierung wurde solche Pracht und Herrlichkeit geschaffen, um den späten Nachlebenden einen möglichst hohen Begriff von der Kultur des Jahres 1907 beizubringen. In der Mitte des Plafonds war eine Ampel angebracht, deren Brenner hundertundsechzig Kerzen Lichtstärke hatten. Neben dem Bett des Professors befand sich ein Taster, der die Ampel in Funktion setzte. Das Bett des Dieners war in einer Ecke aufgestellt. Es war einfacher als das Bett des Professors, mit keinem Baldachin geschmückt. Seine Einrichtung bestand aus solidem Leinen und nicht aus kostbarer Seide. Man hatte Wert darauf gelegt, den Menschen der Zukunft zu zeigen, daß man in der Gegenwart mit feinem Sinn die Menschen voneinander scheide...

In den Räumen um das Schlafgemach herum wurde in eisernen Schränken alles aufgestapelt, was der Professor mitzunehmen gedachte.

Rund um das Haus wurde ein Lindenhain angelegt. Als die Bäumchen alle gesetzt waren, kam der Professor, um sich die Anlage zu betrachten. Lange sah er sinnenden Blickes auf die jungen, mit spärlichem Laub bedeckten Bäume.

Der Unterrichtsminister kam ihm entgegen. »Guten Tag, Exzellenz!« rief der Professor ihm entgegen. »Das ist schön, daß Eure Exzellenz meinem Unternehmen so große Aufmerksamkeit widmen. Ich danke Eurer Exzellenz.«

Der Minister gab ihm die Hand. »Ich bin schon eine Weile hier, Herr Professor, ich wollte aber nicht stören; Sie waren in tiefes Nachdenken versunken.«

»Jawohl«, sagte der Professor mit leuchtenden Blicken, »ich habe mir die jungen Bäume da angesehen, und dabei sind mir seltsame Gedanken gekommen.«

»Wieso, Herr Professor?«

»Wie klein, wie armselig sind diese Bäumchen! Und was für gewaltige, himmelragende Riesen werden es sein, wenn wir aus unserem Schlafe erwachen werden! Zweitausendjährige Baumriesen!«

Er schwieg. Aber man sah ihm die innere Erregung an.

Auch der Minister schwieg eine Weile. »Bei solchen Gedanken«, begann er, »kann man erst die Größe Ihres Unternehmens erfassen. Diese Bäume werden einst Ihren fernen Zeitgenossen als Mitgeborne der Erdveste selbst erscheinen!«

Die beiden Herren waren von ihren Gedanken so ergriffen, daß sie eine Weile schweigend nach dem herrlichen Bau schauten.

Der Professor war seit dem Tage, da das letzte Hindernis, das sich seinem Unternehmen entgegengestellt hatte, beseitigt war, von einer seltsamen, halb glücklichen, halb elegischen Stimmung befangen. Ihm war zumute wie einem kühnen Forscher, der aufs Geratewohl eine Reise in ferne, unbekannte Gegenden antritt und dem trotz der ungeheuren Gefahren, die seiner harren, der Mut das Herz schwellt. Einmal war ihm der niederschmetternde Gedanke gekommen: Was ist es, wenn die heute allgemein als unumstößlich angenommene Idee von der Fortentwicklung der menschlichen Kultur durch den Werdegang in den zwei Jahrtausenden, die er zu verschlafen gedenkt, ad absurdum geführt wird? Griechen, Römer, Ägypter – alle die so hoch entwickelten Völker des Altertums, haben einst sicher gehofft, daß ihre Kultur in ihrer nationalen Eigenart ewig sich entwickeln werde – und was ist geschehen? Unter den Siegestritten des Barbaren wurde sie zertrümmert und auf dem kümmerlichen Erbe bauten Deutsche und Romanen ihre eigene, ihnen entsprechende Kultur auf. Kann es nicht geschehen, daß aufs neue wieder die Barbaren aus dem Innern Asiens hervorbrechen und unter ihren ungeheuren Menschenfluten alles, was heute Kultur heißt, vernichtet wird?

Er hatte Lorenz zu sich ins Zimmer gerufen, um ihm diese Erwägungen mitzuteilen.

»Was würden Sie sagen, Lorenz, wenn wir plötzlich mitten unter lauter Chinesen, Tataren und sonstigen Mongolen aufwachten? Unter Barbaren, die uns zum Lohne für unseren wissenschaftlichen Heldenmut unter den scheußlichsten Qualen vom Leben zum Tode brächten?« frage der Professor.

Lorenz dachte eine Weile nach.

»Ich glaube nicht, daß das so kommen wird. Ich hoffe, die Leute haben bis dahin doch so viel Vernunft angenommen, daß sie solche Niederträchtigkeiten unterlassen werden!«

»Denken Sie aber, Lorenz«, fuhr der Professor fort, »nach den Griechen und Römern kamen die Deutschen, diese waren Barbaren, es kamen die Hunnen, die Türken usw., unsere Kultur wurde vernichtet. Die wichtigsten Dokumente sind uns nur in Bruchstücken erhalten geblieben. Mühsam mußte eine neue Kultur geschaffen werden. Wie viele Bände von Tacitus allein sind uns unwiederbringlich dahin –«

»Jetzt ist das anders«, sagte unerschrocken Lorenz. »Wir haben nicht nur Bücher, sondern haben Besseres, als die alten Römer und Griechen hatten, etwas, das nicht so leicht Verlorengehen kann wie ein Buch. Wir haben Eisenbahnen, Telegraphen, Dampfschiffe, Dampf- und andere Maschinen. Auch die Chinesen fahren heute schon mit der Eisenbahn und die Japaner haben uns schon alles abgespickt, was sie von unserer Gescheitheit brauchen konnten. Und bis dorthin werden die Tataren und Mongolen und Kosaken sich auch schon wissenschaftlich eingerichtet haben und werden nicht alles kreuz und klein schlagen, wenn sie über uns kommen, weil sie das alles selber brauchen und verstehen können. Wir haben heute eben mehr als Bücher...«

Der Professor sah seinem Diener erstaunt in das Gesicht.

»Lorenz, Sie sind ein grundgescheiter Kerl...«, sagte er vergnügt.

»Ich war längst dieser Meinung«, sagte Lorenz, »ich glaube, die Leute werden froh sein, daß sie uns haben.«

»Sie haben recht, Lorenz«, sagte freudestrahlend der Professor. »Unsere Kultur ist eine andere, die Kultur der Völker des Altertums war zum größten Teil eine formale. Unsere Kultur ist auf der Kenntnis der Natur und ihrer Kräfte aufgebaut, diese Kultur mit dem tausendfältigen Fortschritt, den sie auch in das Leben des Ärmsten gebracht hat, kann nicht so verschwinden wie ein Band Tacitus. Lorenz, wenn wir erwachen, werden wir in einer Welt von Göttern leben. Unter Menschen, die, mit übernatürlichen Kräften begabt, das All unter ihren Willen zwingen!«

»Ich hoffe auch, daß es sehr hübsch werden wird«, sagte Lorenz.

»Lorenz, Sie sind ein braver Mensch«, sagte der Professor und drückte ihm ein Zwanzigkronenstück in die Hand. »Sie haben mir eine frohe Stunde bereitet...«

»Ich danke, Herr Professor«, sagte Lorenz mit einer tiefen Verbeugung. »Darüber habe ich mir auch schon viele Gedanken gemacht, in was für einer Währung wir im Jahre dreitausendneunhundertsieben rechnen werden. Es wird gut sein, wenn wir unser Vermögen in Hartgeld mitnehmen. Unsere Staats- und Banknoten dürften nicht mehr gangbar sein, ebenso wie Rentenscheine, Aktien und andere Wertpapiere. Auch die Lose, die heute noch in Umlauf sind, dürften bis dahin längst gezogen sein, und wenn wir einen Haupttreffer gemacht haben, so ist der sicher dann schon zugunsten des Staates verfallen! Das Gold wird aber noch immer seinen Wert haben, ich glaube, die Menschheit wird sich in dieser Beziehung nicht besonders ändern. Daher nur Gold. Wenn es uns von unseren Kulturnachfolgern nicht früher gestohlen wird, werden wir damit sicher nach unserem Erwachen einen schönen Anfang haben!«

»An was alles Sie denken«, sagte bewundernd der Professor.

Als der Pavillon fertig und auch alles eingeräumt war, was der Professor im Lande der Zukunft nötig zu haben erachtete, setzte man den Tag fest, an dem die Einschläferung vorgenommen werden sollte.

Man bestimmte dazu den 21. März.

Sämtliche Blätter veranstalteten Extraausgaben, in denen sie das Ereignis dem Publikum bekannt machten. Die Akademie der Wissenschaften vereinbarte mit dem Professor, in welcher Art sich dieser ereignisreiche Moment vollziehen solle. Die Akademie wünschte, daß dies mit größerem Gepränge geschehe, um auch den Laien die Ahnung beizubringen, welches hochbedeutende Ereignis sich vollziehe. Der Herr Professor war zuerst entschieden dagegen, aber Lorenz gelang es, ihn den Wünschen der Akademie geneigt zu machen. Denn er war nur zu gern bereit, unter möglichst großer und, wie er hoffte, bewundernder Teilnahme des Publikums von seiner Gegenwart Abschied zu nehmen. Besonders der eine Gedanke beherrschte ihn dabei, es der treulosen Wetti zu zeigen, was für einen berühmten volkstümlichen Mann sie in ihm verliere. Er nahm als bestimmt an, daß Wetti es infolge ihrer stark entwickelten Neugierde nicht unterlassen werde, dabei zu sein, wenn sie von den Spitzen der Akademie in den Pavillon geführt würden.

Er täuschte sich nicht. Als die Blätter verkündeten, was sich am 21. März vollziehen werde, ward Wetti mächtig ergriffen. Der falsche Schmiedemeister hatte ihr triumphierend die Extraausgabe gebracht. Sie war natürlich zuerst in Ohnmacht, und nachdem man sie mit unendlicher Mühe daraus erweckt hatte, in einen Weinkrampf verfallen. Aller Trost, den ihr der Schmiedemeister spenden wollte, war vergebens. Als er den Gekränkten spielen wollte, gab sie ihm erregt zu verstehen, daß sie wohl das Recht dazu haben werde, in einem solch großen Moment ergriffen zu sein. Schließlich wurde ihm strengstens aufgetragen, die Gefühle der Jungfrau zu schonen, worauf er erregt die Restauration verließ, in ein anderes Wirtshaus ging, wo er mit vierzehn Vierteln Heurigen seinen Schmerz zu gelinder Wehmut bezwang.

Wetti aber ging des anderen Tages sofort zu ihrer Schneiderin und schaffte sich ein schwarzes Seidenkleid an. Als die Künstlerin sie um die Details der Robe befragte, ordnete sie trotz des in ihr tobenden Schmerzes das Arrangement in einer Weise an, die die höchste Bewunderung des Salons hervorrief. Soviel Sachkenntnis hatte niemand von einer einfachen Köchin vorausgesetzt.

Als das Kleid fertig war, ließ sie sich sofort im vollen Staat photographieren. Selbstverständlich Kabinettformat. Ein Bild sendete sie an Lorenz. Es trug die Unterschrift: »Zum ewigen Angedenken, Ihre geliebte Wetti,«

Der Empfang des Bildes bereitete Lorenz einen schweren Tag. Die Augen wurden ihm feucht, als er die holde Gestalt betrachtete.

Seufzend versorgte er das Kuvert mit dem Bild in dem Reisekoffer, den er als letztes Gepäcksstück in den »Schlafwaggon« mitzunehmen gedachte.

Im Hause des Herrn Professors ging es in den letzten Wochen vor dem 21. März stürmisch zu. Auch die Geschäftswelt nahm regen Anteil an dem wissenschaftlichen Unternehmen. Die Händler mit Konserven bestimmten den Professor mit leidenschaftlichen Bitten, umfangreiche Proben ihrer hervorragenden Erzeugnisse als vielleicht doch notwendig werdenden Proviant mitzunehmen. Eine hervorragende Firma erbot sich, aus eigenen Mitteln ein Lagerhaus neben dem Schlafpavillon zu erbauen und es kostenlos mit allen möglichen Fleisch-, Fisch-, Gemüse- und Obstkonserven zu füllen. Die Firma bat sich einzig und allein nur die eine Entschädigung aus, in ihrem Firmentitel die Bezeichnung führen zu dürfen: »Konservenlieferant des Herrn Professors Dr. Voraus für die Reise in die Zukunft.«

Der Professor lehnte entschieden ab. Er erklärte nachdrücklichst, es nicht notwendig zu haben, für diese Reise Proviant mitzunehmen. Nun wendete sich die Firma an Lorenz. Er, der nicht so zuversichtlich war wie sein Herr, nahm dankbarst eine Kiste Konserven an, die er mit Erlaubnis des Professors in einem Nebenraum des Pavillons aufstellte. Die Firma erhielt von ihm die Erlaubnis, nach ihrer Abreise ihren Kunden mitzuteilen, daß im Auftrage des Sekretärs des Herrn Professor Dr. Voraus 1000 Kilogramm Konserven ihrer Erzeugnisse für den Pavillon geliefert wurden. Die beträchtliche Anzahl von Zwanzigkronenstücken, mit denen er außerdem noch beteilt wurde, verpackte er ebenfalls in seinem Reisekoffer.

Unangenehm wurden in jenen Tagen die Unglücklichen, die es sich durchaus in den Kopf gesetzt hatten, dem Professor in das Land der Zukunft zu folgen, da ihnen das Land der Gegenwart durch verschiedene Vorfälle total verleidet wurde. Die Teilnahme an der Expedition des Herrn Professors erschien ihnen weit angenehmer als die bisher üblichen Mittel, sich durch Ertränken, Erschießen, Vergiften usw. aus diesem Jammertal zu befreien. »Vielleicht«, so dachten jene Unglücklichen, »ist es in zweitausend Jahren anders, besser als jetzt.« Es waren auch Leute darunter, die aus ihrer Gegenwart fliehen wollten, weil sie mit den eben bestehenden Gesetzen in schwere Konflikte geraten waren und nach zweitausend Jahren sich ein humaneres Zeitalter erhofften, in dem die veralteten Einrichtungen, wie Arreste, Kerker oder gar das so unangenehme »Aufhängen«, längst abgeschafft oder wenigstens Einrichtungen gewichen seien, mit denen sich ein verständiger Mensch doch halbwegs befreunden konnte.

Der Professor wollte aber von allen diesen Anerbietungen nichts wissen. Und mit Recht! Hätte er sie angenommen, er wäre, wie einst der Eroberer Amerikas, mit einer Schar Verbrecher und Verzweifelter im Lande der Zukunft angekommen. Ein ganzes Heer Polizisten und Detektive umgab täglich den Professor, um ihn vor der Rachsucht der Abgewiesenen zu schützen.

Unter solchen Aufregungen kam der 21. März heran. Für die sechste Nachmittagsstunde war die feierliche Einschläferung der beiden Herren angesetzt worden. Die restlichen Vorbereitungen dazu waren außerordentliche. Der Besitzer des Hauses, in dem der Professor wohnte, hatte die Stiege mit Blattpflanzen und Lorbeer reich dekorieren lassen. Über der Tür des Zimmers prangte ein geschmackvolles Blumenarrangement: »Guten Morgen im Jahre 3907!« Die Jahreszahl war aus Rosen gebildet, ein Kranz aus wundervollen dunklen Veilchen bildete den Rahmen.

Als Lorenz die Morgenblätter in das Schlafgemach des Herrn Professors brachte, war dieser schon munter und begrüßte ihn in freundschaftlichster Weise.

»Heute nacht werden wir besser schlafen«, sagte er vergnügt zu dem Eintretenden.

»Und schneller!« erwiderte Lorenz.

»Wieso?« fragte verwundert der Professor.

»Wenn wir sonst aufwachen, ist bloß eine Nacht vorüber, aber dann – an jenem Morgen!« antwortete bedeutungsvoll Lorenz.

»Da haben Sie recht. Im Schlafe einer Nacht fliegen zweitausend Jahre vorbei. Was wir in dieser einen Nacht bewältigen!« sagte vergnügt der Professor.

Er behandelte die Geschichte wie eine Eisenbahnfahrt in einem Kurierzuge. Man schläft ein, und wenn man aufwacht, ist man fünfhundert Kilometer weiter gekommen.

Die Morgenblätter brachten nur Leitartikel über das große Ereignis des Tages. Die liberalen und sozialdemokratischen Blätter anerkannten das Unternehmen des Professors als eine Tat, der an Heldentum im ganzen Bereich der Weltgeschichte nichts zur Seite gestellt werden könne. Die deutschnationalen Blätter beneideten den Professor. Sie weissagten ihm, daß er bei seinem Erwachen die gesamte Erde im Besitz des deutschen Volkes vorfinden werde, das bis dahin ganz bestimmt zur alten Einfachheit seiner Altvorderen zurückgekehrt sei, Odin verehre und ihm zu Ehren an den heiligen Tagen Roßfleisch esse.

Die klerikalen Blätter erinnerten an den Turmbau zu Babel, der bekanntlich mit einer ungeheuren Verwirrung geendet habe, da Gott durchaus nicht ruhig zusehe, wenn man in den Himmel hineinbaue. Schließlich wünschten auch sie dem Unternehmen einen glücklichen Ausgang und sprachen die bestimmte Hoffnung aus, daß Gott dem Kühnen verzeihend seine Gnade zuteil werden lasse.

Um zehn Uhr vormittags erschien der Ministerpräsident, um von dem Professor Abschied zu nehmen. Er überbrachte ihm von der Regierung vor dem Einschlafen noch den hohen Orden.

»Das Vaterland ist stolz auf Sie«, sagte er bei der Überreichung, »die Augen der ganzen Welt sind heute auf uns gerichtet. Sie schlafen für die Größe des Vaterlandes!« Diese Art, sich Verdienste zu erwerben, schien dem hohen Beamten besonders sympathisch zu sein.

Der Bürgermeister der Stadt mit den beiden Vizebürgermeistern erschien fünf Minuten, nachdem der Ministerpräsident das Haus verlassen hatte. Die drei Herren waren mit den goldenen Ehrenketten geschmückt, und der Bürgermeister erklärte in wirklicher Ergriffenheit, daß die ganze Stadt stolz auf ihren großen Sohn sei. Hocherfreut dankte der Professor. Der Bürgermeister teilte noch mit, daß Stadt und Land sich in die Bewachung und in die Fürsorge um den Pavillon teilen würden. Der Professor war tief gerührt.

Glänzend war die Abschiedsfeier in der Akademie. Der Präsident hielt eine Ansprache, in der er auf die außerordentlichen Verdienste des Professors hinwies.

»Die beiden Herren«, rief er mit Pathos aus, »werden einst in fernster Zeit als Zeugen unseres Lebens, unserer Kultur auftreten. Wenn sie erwachen, wird das, was heute flutend, im vollen Leben uns umgibt, einer toten Vergangenheit angehören. Gelehrte Bücher werden verworrene Kunde von unserem Dasein bringen, aber unser verehrter Freund, Professor Doktor Voraus« – hier mußte der Präsident innehalten, bei Nennung dieses teuren Namens durchrauschte ein nie gehörter Beifallsorkan den Saal – »aber unser verehrter Freund wird ein beredter Zeuge sein, daß auch wir nach dem Höchsten und Größten gerungen haben, daß es unter uns Männer gegeben hat, die um einer Erkenntnis willen ihr Leben so heldenmütig auf das Spiel setzten. Jenen Fernen wird so zumute sein, wie es nun wäre, wenn plötzlich in diesen Saal Homer, Plato, Aristoteles oder irgendeiner der Heroen des Altertums treten würde!«

Hier fand die Rede des Präsidenten ein vorzeitiges Ende. Das Auditorium brach in stürmische Zurufe aus. Alles drängte zu dem Sitz des Professors hin. Die Saaldiener schleppten mächtige Lorbeerkränze herein und legten sie vor dem Stuhl des Professors nieder, die Damen überreichten ihm großartige Buketts aus den herrlichsten Rosen und den seltsamsten, fremdartigsten Blumen. Ja selbst von der Galerie herab warfen die Damen ihm Blumensträußchen zu, als wenn er eine gefeierte Opernsängerin wäre.

Der Tumult war unbeschreiblich. Ruhe zu schaffen, war eine Unmöglichkeit.

Der Präsident stand ratlos vor seinem Pult.

»Sie ersticken ihn noch mit ihren Blumen und Kränzen«, sagte mißvergnügt Lorenz, der in einem Sessel in der vordersten Reihe saß.

Der Professor war aufgestanden. Er war totenblaß vor Aufregung; er wurde von der Menge umdrängt, versuchte zu sprechen, aber in dem ungeheuren Lärm verstanden nicht einmal die Nächststehenden ein Wort.

»So geht das einmal nicht«, sagte sich Lorenz und versuchte, zum Professor zu gelangen, Güte und Höflichkeit nützten nichts. Lorenz setzte seine Ellenbogen ein und bahnte sich auf diese für die Betroffenen schmerzvolle Art einen Weg zu seinem Herrn.

»Wenn das noch zehn Minuten andauert, so kommt es nicht zu dem Experiment; dann kann es passieren, daß Sie in einen Schlaf verfallen, der bis zum Jüngsten Tag dauert«, erklärte Lorenz dem Professor. Der war ganz betäubt; willenlos ließ er sich von Lorenz am Arm nehmen und durch den Trubel führen.

»Platz da, Platz für den Herrn Professor!« schrie dieser mit Stentorstimme, die selbst den tosenden Lärm übertönte. Rücksichtslos drängte er die vornehmsten Damen und Herren zur Seite.

»Dem Herrn Professor ist unwohl!« rief er. »Pardon – entschuldigen!«

Die Saaldiener kamen Lorenz zu Hilfe. Der Professor wurde aus dem Saale geführt.

»Ich sehne mich schon sehr nach Ruhe«, sagte er, als er auf einem Sessel in einem Nebenraum der Akademie Platz genommen hatte. Aus dem großen Saale herüber drang noch immer das Tosen und Brausen der Volksmenge.

»Wir werden bald Ruhe genug haben!« tröstete Lorenz. »Ich halte den Spektakel für eine vorzügliche Vorbereitung zu unserem Unternehmen. Ich glaube, ich würde jetzt auch ohne wissenschaftliche Bemühungen meine zweitausend Jahre verschlafen!«

Der Professor bekannte lächelnd, ganz die gleichen Gedanken und Gefühle zu hegen.

»Abends wird ja alles gut«, wehrte Dr. Voraus die Bemühungen verschiedener Kollegen von der Akademie ab, die herbeigeeilt waren, um ihm mit ihrem ärztlichen Rate beizustehen.

»Jetzt lass' ich aber niemanden mehr vor«, sagte Lorenz, als sie zu Hause angelangt waren. »Ich wollte, wir wären schon in unserem Pavillon und lägen komfortabel auf unseren Betten. Der Ruhm ist eine schöne Sache, aber er bringt viel Unruhe mit sich.«

Der Professor gab ihm vollkommen recht. Er war müde zum Umfallen; mit größter Mühe war er nicht zu bewegen, eine Kleinigkeit zu essen.

»Sie müssen, Herr Professor, etwas zu sich nehmen«, drängte der Diener, »wir haben eine weite Reise vor uns.«

»Lorenz, jetzt machen Sie sich bereit, in längstens einer Stunde geht's los!«

»Sehr wohl«, sagte Lorenz, »jetzt kann's kommen, ich bin gewappnet gegen alles.«

»Hier diese Kiste« – der Professor wies auf eine ansehnliche Kiste, die mit Eisenspangen versichert war – »wird als letztes Stück in den Pavillon gebracht. Sie enthält unser Vermögen – etwas mehr als eine halbe Million Kronen.«

Lorenz war starr vor Staunen. »Das ist also lauter Gold da drinnen? Ich hoffe, die Menschheit von 3907 wird Respekt vor uns bekommen.«

»Diese Zimmer, und alles, was darin ist, bleiben so, wie wir es verlassen. Der Staat hat das Haus gekauft zu einem Denkmal für uns.«

»Das ist sehr hübsch vom Staate; ich hätte solche Exzesse einem Staate, in dem die Polizei noch von solcher Bedeutung ist, niemals zugetraut.«

In diesem Augenblick klingelte es.

»Daß mir niemand hereingelassen wird!« befahl der Herr Professor.

»Sehr wohl, Herr Professor!« sagte Lorenz und eilte zur Tür. Als er öffnete, wurde er starr vor Erstaunen. Vor der Tür stand in seidenstarrendem schwarzen Trauerstaat, die wallenden Schleier aus dem Gesichte zurückgeschlagen, Fräulein Wetti.

Lorenz rang nach Worten.

»Ich bin nur gekommen, daß ich Abschied nehme von Ihnen«, fing die Holde an, »ich habe Ihnen meine Photographie geschickt, und weil Sie mir nicht geschrieben haben, so muß ich mir denken, daß Sie das Bild gar nicht gekriegt haben!«

»Ich habe das Bild schon bekommen, aber... ich konnte doch nicht... Fräulein Wetti... was würde der Schmiedemeister sagen...!« stammelte Lorenz.

»Der hat gar nichts zu reden«, sagte entrüstet Wetti, »das geht ihn gar nichts an. Übrigens, ich hab' ihm gesagt, er darf erst wiederkommen, wenn die Trauerzeit vorüber ist.«

»Die Trauerzeit..., ist wer gestorben?« fragte verwundert Lorenz.

»Nein, Herr Lorenz, aber daß Sie heute auf zweitausend Jahre einschlafen, das ist für mich gerade so viel, als wenn Sie sterben täten. Und ich hab' Ihnen immer sehr liebgehabt«, die Jungfrau verdeckte ihre Augen, damit der geliebte Mann ihre Tränen nicht sehe, »und so hab' ich wohl Grund, um Ihnen Trauer zu tragen!« Schluchzen erstickte ihre Stimme. »Ich kann es gar nicht denken... daß, daß...«

Da Lorenz wußte, daß Wetti in solchen Augenblicken immer gleich mit der Ohnmacht bei der Hand sei, umfaßte er die Tiefbetrübte mit seinen Armen und preßte sie heftig an sich. Es wurde ihm ganz eigen zumute, und er hatte momentan keinen sehnsüchtigeren Wunsch, als daß das Experiment für einige Tage noch verschoben würde.

»Werden Sie noch an mich denken«, schluchzte das Weib, »wenn Sie einmal aufwachen?«

Lorenz wollte eben mit tausend heiligen Eiden versichern, daß er das ja gewiß tun werde, als die Tür aufging und der Professor erschien.

»Pardon, wenn ich störe«, sagte er und wollte gleich wieder die Tür zumachen.

»Nein, nein, Herr Professor«, stammelte Lorenz. »Fräulein Wetti ist eben gekommen, um Abschied zu nehmen!«

»Ich glaubte, sie hätte doch längst Abschied von Ihnen genommen?« fragte verwundert der Professor.

Das klang wie Spott, und Spott hatte Wetti nie vertragen. Alles empörte sich in ihr; sie war in ihren heiligsten Gefühlen verletzt...

»Wenn ich auch nicht so viel gelernt hab' wie ein Professor«, fing sie an, »aber wissen tu' ich doch, was sich gehören tut. Und wenn wir früher was gehabt haben miteinander, ich und der Herr Lorenz, so geht Ihnen das einen Schmarrn was an...«

Als der Professor diese Anrede vernahm, lächelte er milde und zog sich zurück.

In Lorenz erstarrten aber plötzlich alle Gefühle der Liebe. Daß der geliebte Professor in so ordinärer Weise apostrophiert wurde, regte ihn mächtig auf.

»Ich dank' Ihnen sehr schön«, fing er an, als der Professor wieder in der Wohnung verschwunden war, »daß Sie mir noch einen Abschiedsbesuch machen, aber meinen Herrn brauchen Sie nicht so grob anzufahren, dafür bin ich da. Und wenn ich nach zweitausend Jahren munter werd', so will ich Ihnen eine Ansichtskarte schreiben. Ich empfehl' mich bestens und grüßen S' mir den Herrn Schmiedemeister! Und gratulieren tu' ich ihm auch zu seiner Hochzeit!«

Er ging rasch zur Tür hinein, denn Wetti traf alle Anstalten, wirklich in Ohnmacht zu fallen.

Als sie aber die Tür geschlossen sah, verzichtete sie auf dieses ausgezeichnete Mittel, das sich sonst auf ihrem Lebenswege so ausnehmend gut bewährt hatte, und schritt ziemlich gedeftet die Stiege hinunter. Eine Erfahrung hatte sie gewonnen. Ein Schmiedemeister ist viel leichter zu behandeln als gelehrte Leute.

»Na«, sagte der Professor zu Lorenz, »Sie können sich Glück wünschen, daß Sie von dem Frauenzimmer losgekommen sind. Die wäre Ihnen sicher zu viel geworden!«

Lorenz neigte sinnend sein Haupt. »Neugierig bin ich nur, wie im Jahre 3907 die Weiber aussehen«, sagte er. »Wenn die sich so weiter entwickeln in den Jahrtausenden...!«

Er schüttelte kummervoll sein weises Haupt.

»Nun ist es Zeit, daß Sie Ihr Festkleid anlegen«, mahnte der Professor. »Bald wird man erscheinen, uns zu unserem ›letzten Gang‹, wie die ›Stimmen von oben‹ schrieben, abzuholen. Da sehen Sie, Lorenz, die ganze Straße steht dicht gedrängt voll Menschen!«

»Sehr hübsch, bei einer Hinrichtung könnt's nicht besser sein«, sagte befriedigt Lorenz, als er auf die Gasse hinuntersah.

Von unten hatte man die beiden bereits bemerkt. »Hoch Doktor Voraus!« rauschte es tausendstimmig herauf, so daß die Taubenschar, die drüben auf dem Dache des Nachbarhauses sich sonnte, erschreckt aufflog und eilig davonflog.

Der Professor verneigte sich, die Menge schrie unermüdlich »Hoch!«

In der Ferne sah man, wie mehrere Equipagen sich durch das Gedränge Bahn brachen. In jedem der Wagen saßen mehrere Studenten in vollem Wichs. Die Menge wich auseinander, langsam fuhren die Wagen bis zum Hause des Herrn Professors.

»Jetzt schnell! Sie kommen schon«, befahl der Herr Professor.

In wenigen Minuten klopfte es an die Tür. Eine Deputation Studenten erschien und bat, sich dem Herrn Professor anschließen zu dürfen. Lorenz führte sie in das Arbeitszimmer. Die Deputation erbat sich die hohe Ehre, den Herrn Professor zum Pavillon zu begleiten. Der Professor reichte jedem Mitglied die Hand.

Die Deputation stellte sich dann mit gezogenen Schlägern bei dem Haustor auf. Der Hausmeister, ein riesenstarker Mann, kam und trug die Kiste, die das Vermögen des Herrn Professors enthielt, unter Mithilfe Lorenz' zum Wagen hinunter.

Kurze Zeit darnach erschien der Professor. Die Deputation senkte ehrfurchtsvoll ihre Schläger, als der gefeierte Mann zum Tore hinaustrat. Der Professor bestieg den Wagen, der Senior der Verbindung setzte sich an seine linke Seite. Am Bock oben saß Lorenz, mit den Beinen krampfhaft die kostbare Kiste umklammernd.

Die anwesende Menge vollführte einen Heidenspektakel. Hinter dem Wagen, in dem der Professor saß, wurden vier offene Fiaker eingereiht, die mit einer Unzahl von schleifengeschmückten Kränzen beladen waren. Es waren die Kränze, die man dem Herrn Professor heute vormittags in der Akademie der Wissenschaften verehrt hatte.

»Es ist ganz hübsch«, sagte Lorenz, indem er sich auf dem Bocke zu seinem Herrn umdrehte. »Es fehlt nur, daß die Glocken läuten, und wir haben ein Leichenbegängnis, wie wir es uns nicht besser wünschen könnten!«

Der Zug setzte sich unter den brausenden Rufen der Menge in Bewegung. Die Wagen konnten wirklich nur im Schritt fahren.

Auf dem großen Platz vor dem Gebäude der Akademie der Wissenschaften waren Tribünen aufgestellt. Ihr Erbauer mußte ein ausgezeichnetes Geschäft gemacht haben, denn kein Platz war frei. Fast lauter Damen hielten die Sitze besetzt. Als der Wagen des Professors zwischen den beiden Tribünen durchfuhr, wurde er mit einem Blumenregen überschüttet. Die Pferde scheuten, nur mit Mühe konnte sie der Kutscher beruhigen.

»Jetzt wird's arg«, sagte Lorenz, »ich wollt', es war' schon acht Uhr abends!«

Auch das wurde erreicht. Vor dem Tor des Akademiegebäudes harrten Deputationen der Regierung, des Gemeinderates, des Parlaments und der Universität. »Jetzt kommen die Leichenreden«, sagte Lorenz, als er seinem Herrn beim Aussteigen half.

Und es war auch so. Sehr feierliche Ansprachen wurden gehalten, alle genau nach dem Muster jener Reden, die in früheren Kapiteln geschildert wurden. In jeder wurde der Professor als Held der Wissenschaft gefeiert. Als die Reden zu Ende waren, wurde der Professor von Mitgliedern der Akademie in den Garten geleitet. Des Publikums bemächtigte sich eine ungeheure Aufregung, die aber nicht in besonderem Lärmen, sondern in einer tiefen, angesichts der ungeheuren Menschenmenge fast grauenerregenden Stille ihren Ausdruck fand. Alles sah starr nach den Scheidenden. Die Herren hatten ihre Hüte abgezogen, die Damen hatten Tränen in ihren Augen.

»Wissen Herr Professor, was in dem Arrangement vergessen worden ist und was sich ohne Zweifel sehr schön gemacht hätte?« flüsterte der neben dem Professor stehende Lorenz seinem Herrn ins Ohr.

Der Professor wollte durch energisches Kopfschütteln Lorenz zum Schweigen zu bringen; der verstand aber das Zeichen nicht und fuhr flüsternd fort: »Eine Musik sollten wir haben, die jetzt einen Trauermarsch spielt!«

Als die Deputation im Garten der Akademie verschwunden war, löste sich der Bann von der Menge. Plötzlich entstand ein bedeutender Auflauf – eine Dame war in Ohnmacht gefallen, eine in schwarzstarrende Seide gekleidete dicke Dame. Man bemühte sich um sie und lud sie schließlich, da sie sich absolut abgeneigt zeigte, zum Bewußtsein zurückzukehren, in einen Wagen der Rettungsgesellschaft.

Es war Wetti. Um ja kein Detail des ergreifenden Schauspiels zu verlieren, war sie erst in Ohnmacht gefallen, als sich das Tor der Akademie hinter der Deputation geschlossen hatte.

Im Vorraum nahmen alle Herrn bis auf Doktor Stoch, der auf Wunsch des Professors Voraus die Einschläferung übernommen hatte, Abschied von den beiden Helden.

»Ihr Schlafgemach wird ein Heiligtum der Nation sein; so lange es in der Macht des Staates liegt, wird es vor allen Gefahren geschützt sein. Die spätesten Geschlechter werden in Ehrfurcht auf diese durch Ihre Tat geheiligten Mauern schauen«, sagte der Präsident und reichte dem Professor in tiefer Bewegung die Hand. Auch Lorenz ward dieser hohen Ehre gewürdigt. Wenn in den letzten Tagen in der Brust dieses tapferen Dieners Zweifel aufgetaucht waren über die doch in jeder Beziehung höchst ungewisse Zukunft, im Moment dieser ehrenvollen Begrüßung schwanden sie dahin wie der Schnee unter den huldvollen Komplimenten der Frühlingssonne. Nun ward in Gegenwart aller Beteiligten eine ganz besonders feierliche Handlung vorgenommen. Ein Dokument, in dem die Willensmeinung des Herrn Professors, genau am 14. Juli des Jahres 3907 aufzuwachen, dargestellt war, wurde in einen besonderen, an auffälliger Stelle stehenden Schrank geschlossen.

»Ich hoffe, die Herren verstehen dann auch die Kunst, uns zu diesem Termin zu erwecken.«

»Was dazu gehört, ist klar und verständig in meinen Schriften enthalten – die mit mir in diesem Pavillon der Zukunft entgegenharren.«

»Meine Herren, adieu!« sagte wohlgemut der Professor. »Auf Wiedersehen kann ich nicht sagen – unser Abschied ist ein Abschied für immer. Aber ich bitte Sie, bewahren Sie mir, so lange Sie leben, Ihre freundliche Erinnerung! Ich hoffe, nach zweitausend Jahren anderen Menschen von Ihnen zu erzählen, und der Ruhm Ihrer Gelehrsamkeit, Ihre Freundschaft soll aufleben, wenn längst alles dahin gegangen ist, was heute die Erde deckt. Meine Herren, leben Sie wohl!«

Er schritt rasch mit Lorenz in das Schlafzimmer hinein, Dr. Stoch folgte ihnen nach.

Als Lorenz sich anschickte, dem Professor beim Auskleiden zu helfen, sagte der Professor mit ernster Miene: »Lorenz, jetzt können Sie noch zurücktreten!«

»Nein, Herr Professor, ich habe draußen nichts mehr zu suchen...«, sagte er einfach.

Als beide in ihren Schlafstätten lagen, bat Lorenz den Doktor Stoch, mit dem Einschläfern bei ihm zu beginnen. »Ich will, daß mein Herr sich über mich beruhigt!« sagte er.

Sein Wunsch ward erfüllt. Im Verlauf weniger Minuten lag er wie ein Toter auf seinem Bette.

»Ein treuer Mann«, sagte der Professor gerührt. Es war sein letztes Wort, wenige Minuten danach schlief auch er.

Als Dr. Stoch die beiden so ruhig liegen sah, überkam ihn ein fast feierliches Gefühl. Das Schlafgemach dünkte ihm plötzlich zu einer hohen heiligen Kirche zu werden. Unwillkürlich faltete er die Hände und sah mit tiefster Bewegung auf die Schläfer.

Dann ging er leise hinaus. Draußen erwarteten ihn die Herren. Kein Wort ward gesprochen... Der Präsident sperrte das Schlafgemach ab. Schweigend verließen die Herren den Pavillon. Das Laub der Bäume draußen im Parke schimmerte im hellsten Grün – die Abendsonne warf ihren verklärenden Schein auf die blanken Kieswege im Parke.

»Wie herrlich es ist!« sagte Dr. Stoch.

»Diese Sonne wird ihnen scheinen, wenn wir längst nicht mehr sind«, sagte feierlich der Herr Präsident.

Es klang fast wie ein Gebet.

 
Ende des ersten Buches


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