Rudolf Hawel
Im Reiche der Homunkuliden
Rudolf Hawel

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Viertes Kapitel.

Der Professor hält eine Mathematikstunde mit seinem Diener ab. – Wetti erweist sich nicht als jenes hochherzige Weib, das Lorenz in ihr zu sehen vermeinte. – Der Ausführung des großartigen Vorhabens werden seitens der Behörden bedeutende Schwierigkeiten in den Weg gelegt.

Lorenz hatte eine unruhige Nacht gehabt. Nach dem Frühstück rief ihn der Professor in sein Studierzimmer.

»Sie haben also den festen, unabänderlichen Entschluß gefaßt, diese wissenschaftliche Expedition mit mir mitzumachen?«

»Jawohl, Herr Professor!«

»Haben Sie alles bedacht, Lorenz, was Sie damit aufgeben?« fragte er weiter.

»Jawohl, ich habe auch mit meiner Braut gesprochen, sie wird uns begleiten.«

Der Professor runzelte die Stirn.

.«Wieso?... Sie wird uns begleiten?«

»Herr Professor haben schon halb zugesagt, sie als Köchin aufzunehmen. Ich habe mit ihr vorgestern gesprochen. Sie ist bereit, gegen ein Gehalt von monatlich sechzig Kronen die Reise mitzumachen...«

»Ich habe das zugesagt?« fragte zweifelnd der Professor.

»Sehr wohl, Herr Professor! Das Frauenzimmer würde uns beiden gute Dienste leisten. Wer weiß, wie nach zweitausend Jahren das Universum eingerichtet ist, und ich bin, was Essen und Trinken anlangt, eine konservative Natur, und auch der Herr Professor könnten sich anfangs den Magen verderben... und...«

»Ja... ja... wenn ich es einmal zugesagt habe, so bleibt es auch dabei. Also Ihre Köchin kann mit uns schlafen. Und sechzig Kronen verlangt sie monatlich... Sie kocht aber doch zweitausend Jahre nichts!«

Lorenz zuckte die Achseln. Er bediente ja auch nicht während der zweitausend Jahre, war aber doch nicht gewillt, von seinem Lohne einen Heller nachzulassen. Denn ein so außerordentliches Unternehmen mußte sich doch rentieren.

»Gut«, sagte der Professor nach einigen Minuten tiefen Nachdenkens. »Bleiben Sie draußen, ich werde Sie in kurzer Zeit hereinrufen!«

Lorenz empfahl sich mit einer Verbeugung. Nach wenigen Minuten, die er im Zimmer draußen verbrachte, ertönte schon die Klingel.

Lorenz trat ein. Der Professor hatte einen Papierbogen in der Hand, der über und über mit Zahlen bedeckt war.

»Wissen Sie, Lorenz, was Sie während der zweitausend Jahre, die Sie bloß verschlafen, verdienen?«

»Sehr wohl, Herr Professor!«

»Nun, – was glauben Sie?«

»Zwei Millionen viermalhunderttausend Kronen!« entgegnete prompt Lorenz.

»Und Ihre Braut?« forschte der Professor weiter.

»Eine Million vierhundertvierzigtausend Kronen!«

Der Professor warf einen Blick auf seine Berechnungen.

»Stimmt! Sie haben sich das alles schon selbst ausgerechnet?«

»Sehr wohl, Herr Professor!«

»Miteinander verdienen Sie also drei Millionen achthundertvierzigtausend Kronen. Sie wachen also als Millionär auf! Kommt Ihnen das nicht ein bißchen viel vor?« fragte er mit leiser Ironie.

»Herr Professor ersparen während der Zeit, was Sie für Kost, Quartier, Uniform, Neujahrsgeschenke und so weiter ausgeben müßten. Herr Professor ersparen dabei Hunderttausende!« erwiderte Lorenz. Das war ein Punkt, bei dem er fest bleiben mußte.

»Und glauben Sie, daß ich wirklich drei Millionen achthundertundvierzigtausend Kronen besitze?«

Lorenz wußte keine Antwort. Das war eine Sache, die den Professor allein anging.

»Zu Beginn unseres Schlafes werde ich die Summe nicht auszahlen, denn ich müßte Ihnen sonst die zweitausendjährigen Zinsen schenken. Und am Ende dieser Zeit...?«

Lorenz zuckte wieder die Achseln.

»Ich habe diese Summe nicht – und werde Sie doch befriedigen!« sagte er lächelnd. »Ich übergebe Ihnen ein Kapital, das in zweitausend Jahren das Millionenfache der Summe tragen wird, die Sie und Ihre Braut bei Ihrem Erwachen von mir zu fordern haben. Dieses Kapital legen Sie in der Staatsbank auf Zinseszinsen am. Die Bank gibt wohl nicht mehr als dreieinhalb Prozent, aber Sie werden dabei profitieren, denn ich gebe Ihnen weit mehr als Sie von mir – nämlich als Sie beide von mir zu fordern haben! Sind Sie damit zufrieden?«

Lorenz sagte mit vor Freude glänzenden Augen: »Ja, Herr Professor, wann hätten Herr Professor die Güte, dieses Kapital auszuzahlen?«

Lorenz sah bei dieser Gelegenheit wie ein Urbild des Harpagon aus. Seine Augen glänzten vor Begierde, der Gedanke, so unermeßlich reich zu werden, beherrschte ihn ganz und gar.

»Selbstverständlich sofort. Sie müssen mir bloß eine Quittung ausstellen, daß Sie das Kapital wirklich empfangen haben, und ich übergebe Ihnen sofort die Reichtümer. Sind Sie damit zufrieden?«

»Sehr wohl, Herr Professor! Herr Professor sind zu gütig!« stammelte Lorenz.

Aber wider Erwarten ging der Professor nicht zur eisernen Kasse in der Ecke des Studierzimmers, um die notwendigen Banknotenstöße daraus zu entnehmen, er zog bloß sein Portemonnaie aus der Hosentasche, suchte lange darin herum und reichte schließlich dem Diener einen Heller.

Betroffen sah ihn Lorenz an.

»Herr Professor belieben zu scherzen«, wagte er schüchtern zu bemerken.

»Scherzen? Habe ich jemals mit Ihnen gescherzt?« fragte erzürnt der Professor.

Lorenz verbeugte sich lächelnd, so, als ob er auf den Spaß des Professors einginge.

»Nein, nein... es ist mir Ernst«, fuhr der Professor erregt fort. »Tragen Sie den Heller in die Bank und legen Sie ihn zu dreieinhalb Prozent Zinseszinsen an, so ist, vorausgesetzt, daß der Zinsenzuschlag nur einmal im Jahr erfolgt, der Gesamtbetrag Ihres Guthabens an der Bank nach zweitausend Jahren« – er nahm ein Blatt Papier vom Tisch und wies auf eine ungeheure Zahlenreihe hin, die darauf aufgeschrieben stand –

»7.596,650.000,000.000,000.000,000.000 – Kronen.«

»Verstehen Sie das?« fragte er zornig erregt, »Verstehen Sie das, was das heißt? Ihr Guthaben gegenüber dieser Summe bedeutet nicht mehr, als wenn ein Rothschild einen Heller weggibt, ja, millionenmal weniger als das!«

Lorenz war einfach starr.

»Wissen Sie, daß Sie mit dieser Summe die ganze Erde ankaufen können?« fragte bissig der Professor.

Lorenz schwindelte.

»Aber wir verzichten ja auf die Kost, auf Kleidung, auf Geschenke«, warf Lorenz schüchtern ein.

Der Professor richtete sich in seiner ganzen Größe auf und betrachtete Lorenz von oben herab.

»Sie können gehen«, sagte er.

Lorenz trollte sich. Er wußte nicht, wie er sich das Benehmen seines Herrn deuten sollte.

Im Stammgasthaus ward er mit gewohntem Enthusiasmus empfangen. Er hatte eine höchst geheimnisvolle Miene angenommen und deutete nur kurz an, daß er im Auftrage seines Herrn großartige mathematische Berechnungen auszuführen gehabt habe.

Wetti fiel diesmal nicht in Ohnmacht, ließ aber Lorenz sagen, daß sie wichtig mit ihm zu sprechen habe. Nach dreiviertel zwölf Uhr erschien sie. Sie ward vom Stammtisch freudigst begrüßt und plauderte lachend und schäkernd mit jedem obskuren Mitglied der Tafelrunde. Am meisten bemühte sich um sie der lustige Schmiedemeister Sedlak. Er war Witwer und von sehr einnehmendem Äußern.

Lorenz war empört. Er machte ihr verschiedene Zeichen, mit ihm ins dunkle Extrazimmer hineinzugehen. Sie tat, als bemerke sie diese Zeichen nicht.

Da ward Lorenz böse. »Fräulein Wetti«, fing er sehr ernst am, »ich muß noch heute mit Ihnen eine Unterredung haben, da der Herr Professor morgen vormittags genaue Auskunft haben muß, ob Sie mit uns mitgehen oder nicht. Sie müssen sich entscheiden, ob Sie wollen, damit wir wissen, wie wir daran sind.«

Fräulein Wetti ward momentan sehr ernsthaft.

»Ach, Herr Lorenz, was Sie mir da sagten von wegen dem Einschlafen auf zweitausend Jahre, so habe ich mir das recht gut überdenkt und bin noch zu keinem rechten End' gekommen«, begann die Jungfrau.

»Ja, wollen Sie denn nicht mitgehen, wollen Sie die Expedition nicht mitmachen?« fragte verwirrt Lorenz. Die Jungfrau sah ihn mit weinenden Augen an, schüttelte traurig den Kopf und sagte:

»Nein!«

Lorenz war starr.

»Was, was...?« fragte er ganz verwirrt.

»Tun Sie Ihnen wegen der Kleinigkeit nicht aufregen!« sagte sie. »Ich habe mir das heute nacht sehr wohl überlegt und bin zu dem Entschluß kommen, daß ich nicht mitgehen kann!«

»So?« sagte ruhig Lorenz. »Und was sind die Gründe, die Sie abhalten tun, erzählen Sie mir das! Ich hoffe, daß der Schmiedemeister nicht hinter diesen Gründen steckt!«

Da ward die Jungfrau böse.

»Es steckt kein Schmiedemeister und kein anderes Mannsbild dahinter«, sagte sie, »und ich muß Sie bitten, mir mit solche beleidigende Sachen nicht nahezutreten, denn das hab' ich um Sie nicht verdient. Ich habe sehr nachgedacht und die ganze Nacht nicht schlafen können, und wenn ich nicht mitgeh', so müssen Sie das meinem Gefühle sehr entschuldigen. Ich habe nachgerechnet, daß, wenn ich dann einmal aufwachen tu', ich bin heute sechsundzwanzig Jahre vorüber« (hier log die Gute beträchtlich), ich bin dann zweitausendundsechsundzwanzig Jahre alt. Zweitausendundsechsundzwanzig Jahre!« rief sie noch schmerzvoll aus und rang kummervoll die Hände. »So alt – nein, Herr Lorenz, das können Sie nicht von mir verlangen, daß ich dann aufwachen tu' mit Zweitausendundsechsundzwanzig Jahren!«

Sie weinte still vor sich hin.

»Und ich bin dann zweitausendeinundvierzig Jahre alt und der Herr Professor zweitausendeinundfünfzig Jahre!« warf Lorenz ein.

Da ward die Jungfrau böse.

»So, und ich soll Sie, wenn Sie dann zweitausendundeinundvierzig Jahre alt sind, heiraten? Lorenz, ich hätt' Sie für besser gehalten?«

Sie wendete sich entrüstet ab und sah schmerzvoll zur Decke des Extrazimmers auf.

Lorenz saß eine Weile still und beklommen da. Daß die Sache einen solchen Ausgang nehmen würde, wäre ihm im Traum nicht eingefallen. Nach einer langen Pause stand er resigniert auf und sagte: »Nach dem, was Sie mir da gesagt haben, Sie liebes Fräulein, muß ich sehen, daß ich mich in Ihnen sehr getäuscht habe. Sie sind nicht das Frauenzimmer, für das ich Sie gehalten habe, was mich sehr kränken tut!«

»Heißen Sie mich nicht ein Frauenzimmer!« fuhr die Gekränkte auf.

»Ich hab' meinem Herrn das Wort gegeben und das Wort tu' ich halten; ich bin nicht wie die Leute, die heut' so und morgen wieder so reden«, setzte Lorenz nicht ohne Bitterkeit hinzu; »und ich tu' Ihnen zum Abschied nur so viel sagen: Sie und der Schmiedemeister werden schon längst tot und begraben sein, wenn ich und mein Herr aufwachen. Und wir werden in jener Zeit sehr berühmt sein, wo von Ihnen kein Mensch mehr was weiß. Ich werde das alte Wirtshaus nicht aufmachen, aber ich werde Sie auch nicht vergessen. Sie haben mir sehr weh getan, und das tu' ich Ihnen verzeihen. In dieses Gasthaus tu' ich nie mehr gehen, ich will mein Gemüt nicht aufregen, und so leben Sie wohl, liebe Wetti... ich muß Ihnen nur sagen, daß Sie mir sehr weh getan haben!«

Er war ganz rot geworden vor Aufregung. Die letzten Worte brachte er nur stoßweise hervor. Wetti, die sich zu schämen anfing, griff zu jenem bei Frauenzimmern in solchen Fällen allgemein beliebten Mittel. Sie fing heftig zu weinen an, als die Tür aufging und der Schmiedemeister hereinstürmte.

»Wenn Ihnen was geschieht, Wetti, so bin ich da!« rief er aufgeregt und sah Lorenz drohend an.

Die anderen Mitglieder des Stammtisches waren als Assistenz nachgeeilt und sahen aufgeregt in die Stube.

Lorenz stand ruhig und groß vor dem empörten Schmiedemeister.

»Sie brauchen Ihnen da um nichts zu bekümmern, Herr Sedlak«, sagte Lorenz, »dem Fräulein Wetti ist gar nichts getan worden, und ich hab' die Sache schon so lang durchschaut, daß ich nur mehr sagen kann, so viel Falschheit hab' ich mein ganzes Leben noch nicht erlebt.«

Entrüstet hob der Schmiedemeister seinen Arm. Auf den gellenden Aufruf Wettis ließ er ihn wieder gehorsam sinken. Lorenz drehte dem Schmiedemeister den Rücken zu und schritt aus dem Extrazimmer hinaus. Hut und Stock nahm er würdevoll aus den Händen des Kellners entgegen, dann schritt er ruhig und groß zur Tür hinaus.

Heimkommend, fand er die Wohnung leer. Der Herr Professor war wahrscheinlich in irgendeine gelehrte Versammlung gegangen. Er zündete die Lampe an und begann in einer Zeitung, die vor ihm auf dem Tische lag, zu lesen. Den Inhalt der Zeitung faßte er gar nicht, es war ihm, als ob er bedeutungslose, leere Worte läse. Er dachte nur an Wetti. Der schöne Zukunftstraum, der nun so lange seine Seele mit den lieblichsten Bildern erfüllt hatte, war total zerstört worden, zerstört von der rohen Hand des Schmiedemeisters. Er kam ins Träumen hinein. Ohne daß er es beachtete, fielen heiße Tropfen aus seinen Augen auf das graue Zeitungspapier. Draußen knarrte der Schlüssel im Schlosse. Er hörte es nicht. Der Professor kam herein. Lorenz bemerkte es gar nicht. Er saß da, den Kopf auf die Hände gestützt, und weinte still vor sich hin.

»Was ist geschehen? Was haben Sie, Lorenz?« fragte der Professor erschreckt.

Lorenz fuhr auf.

»Ach nichts, es ist nichts...«, sagte Lorenz und wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Kommen Sie da herein, Lorenz«, befahl der Professor in gütigem Ton und schritt voran. Lorenz folgte gehorsam nach.

»Da nehmen Sie Platz und erzählen Sie mir alles! Bedenken Sie, daß ich jetzt nicht als Ihr Dienstgeber vor Ihnen sitze, sondern als Ihr Freund!«

Lorenz wischte sich mit dem Sacktuch die Tränen aus den Augen.

»Sie geht nicht mit«, sagte Lorenz kummervoll, »ich habe mich in ihr sehr getäuscht.«

»Wer geht nicht mit?« fragte verwundert der Professor.

»Sie, die Wetti, die meine Braut gewesen ist. Und ich hab' das Frauenzimmer über die Maßen geliebt und sie für ein sehr braves Frauenzimmer gehalten!«

»Nun?« fragte der Professor.

»Sie war es auch – ohne den Schmiedemeister. Und wie sie gehört hat, daß ich die Expedition mit Ihnen mach', hat sie sich vor mir abgewendet.«

Er trocknete sich die Tränen.

»Aber Lorenz, Sie sind kindisch, ich habe doch niemals das Opfer von Ihnen verlangt; bleiben Sie zurück! Ich gebe Ihnen so viel Geld, als Sie zur Gründung eines Hausstandes brauchen!« sagte gütig der Professor.

»Nein, Herr Professor, das kann ich nicht annehmen««, sagte der treue Mann, »ich hab' mir das einmal vorgenommen, daß ich Sie begleite, und dabei bleibt's. Und wenn der Herr Professor mir einen Gefallen tun will, so...«

Er stockte und wischte sich wieder die Augen ab.

»Nun, was soll ich da tun?« fragte verwundert der Herr Professor.

»Es wäre mir sehr lieb, wenn die Sache mit dem Einschlafen auf zweitausend Jahre recht bald sein würde, damit ich das Frauenzimmer vergesse. Wenn ich dann aufwachen werd', ist die ganze Sache längst vorüber; die Wetti und der Schmiedemeister sein dann längst tot und begraben und mein Herz wird wieder ruhig sein!«

»Ah, Sie fliehen vor Ihrer Liebe in die Ewigkeit«, sagte gütig der Professor. »Ich werde mein Möglichstes tun, Lorenz.«

Lorenz kehrte in sein Zimmer zurück. Er konnte an diesem Abend wieder lange nicht einschlafen.

Der Herr Professor saß drüben noch lange an seinem Schreibtisch und brütete über seinen Manuskripten. »Er ist ein braver Mensch«, sagte er vor sich hin; »wie froh wird er bei seinem Erwachen sein, wenn er daran denkt, daß dieses Frauenzimmer schon so lange gestorben ist.«

Am Morgen des anderen Tages, Lorenz hatte eben die Zeitungen im Studierzimmer des Professors deponiert, erklang mit schrillem Ton wieder die elektrische Klingel. Der Diener eilte in das Zimmer zurück. Der Professor saß beim Schreibtisch, hielt die klerikale Zeitung in der Hand und rief entrüstet vor sich hin: »Es ist eine Gemeinheit, eine bodenlose Gemeinheit!«

Lorenz sah dem Professor fragend in das Gesicht.

»Sie wollen es uns verbieten, zweitausend Jahre zu verschlafen! Was sagen Sie dazu?«

»Wir werden uns das nicht gefallen lassen«, sagte Lorenz energisch.

»Sehr richtig, Lorenz«, sagte der Professor; »hören Sie nur!«

Lorenz verbeugte sich.

Der Professor begann vorzulesen:

»Zeit und Ewigkeit – eines der letzten vier Dinge, liegen einzig in der Hand Gottes. Es ist eine Auflehnung gegen Gott, über den Zeitraum von zweitausend [Jahren] – so alt ist nicht einmal unser heiliger Glaube – hinüberleben zu wollen in eine ferne, nur Gott bekannte Zeit. In geistiger Beziehung ist das ein neuer Turmbau zu Babel, die Menschen wollen höher bauen als Gott. Wir dürfen es nicht dulden, daß um eines Wahnsinnigen willen ein ganzes Volk gestraft werde. Unausbleiblich aber wäre der Zorn des Himmels und seine Folgen. Die Hand, die kühn nach den höchsten Attributen der Gottheit sich ausstreckt, wird von Gottes Blitz zerschmettert werden, und die Feuerflamme wird die mitverzehren, die dem Kühnen, die dem Frevler nahestehen!«

»Na, was sagen Sie dazu?« fragte erregt der Professor.

»Sehr ermunternd klingt die Geschichte nicht«, meinte bekümmert Lorenz. »Ich glaube, die Polizei wird uns sehr schikanieren!«

»Das ist sehr leicht möglich«, antwortete der Professor. »Wir haben jetzt im Parlament eine konservative Majorität – ob nicht der Druck dieses Parlamentes die Polizei und die Regierung veranlaßt, unser Unternehmen mit allen Mitteln zu verhindern? Die Abendblätter werden übrigens bereits die Antwort der Regierung bringen, denn der Unterrichtsminister verspricht schon morgen, das wäre also heute, die Interpellation zu beantworten.«

»Was gedenken Herr Professor zu tun, wenn die Regierung wirklich unser Unternehmen verbietet?«

»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht«, sagte der Professor. »Heute, wenn wir die Abendblätter gelesen haben, werden wir darüber sprechen.«

An diesem Tage las Lorenz die Abendblätter, bevor er sie seinem Herrn hineinbrachte.

»Also, was ist's?« fragte begierig der Professor, als Lorenz den Stoß Zeitungen vor ihm niederlegte.

»Man weiß nicht, was Seine Exzellenz vorhat«, begann Lorenz vorsichtig. »Er erklärt unsere Expedition als ein wissenschaftliches Unternehmen, das vom Ministerium des Unterrichtes alle Förderung verdient...«

Der Professor nahm das »Freisinnige Journal« zur Hand. »Ja, er gibt aber zu, daß die Bedenken des Monsignore vollkommene Beachtung verdienen, denn der gewagte Versuch sei nur zu gut geeignet, allen Glauben im Volke zu untergraben. Der Minister behält sich vor, seinerzeit alle nötigen Schritte in dieser Angelegenheit zu unternehmen! Kennen Sie sich jetzt aus?«

Der Professor sah Lorenz jetzt durchdringend an.

»Nein«, sagte Lorenz.

»Ich auch nicht«, antwortete der Professor.

Die beiden sahen sich fragend an.

»Lorenz«, fing der Professor an, »uns kann noch das Schicksal eines Giordano Bruno, eines Galilei blühen!«

»Vielleicht sperren sie uns doch noch in das Narrenhaus ein?« sagte bekümmert Lorenz.

»Na, wir werden ja sehen, was die Zukunft bringt; ich hoffe, Lorenz, Sie sind der Mann dazu, allem ruhig ins Auge zu schauen.«

»Ich wollte, Herr Professor, daß wir schon schlafen möchten«, sagte Lorenz.

»Wieso?«

»Dann hätt' ich schon alles hinter mir«, sagte bekümmert Lorenz.

»Sie denken noch immer an die Wetti?« fragte teilnahmsvoll der Herr Professor.

»Sehr wohl, Herr Professor.«

»Ich werde die Sache zu beschleunigen trachten«, tröstete der Herr Professor.

Sein Diener tat ihm herzlich leid.

Des anderen Tages erhielt der Professor eine Einladung zum Unterrichtsminister. Die Interpellation des Monsignore Schleicher hatte bereits gewirkt.

Seine Exzellenz empfing den Herrn Professor äußerst zuvorkommend. So schöne Worte über seine hervorragende Bedeutung auf wissenschaftlichem Gebiet hatte der Herr Professor noch niemals vernommen. Schließlich bat der Minister dringend, der Herr Professor möge sich dem Staate, dem er angehöre, der Zeit, in der er lebe, durch sein Experiment nicht entziehen. Er sprach sogar direkt die Meinung aus, das Ministerium könne das Vorhaben des Professors absolut nicht dulden, da dadurch eine hervorragende Kraft dem Staate plötzlich entzogen würde.

Der Professor war über die Elogen, die ihm der Minister machte, anfangs sehr erfreut, erinnerte sich aber plötzlich der Interpellation des Monsignore Schleicher.

»Pardon, Exzellenz, in dieser Angelegenheit ist mein Wille unerschütterlich«, sagte er. »Ihre ehrenden Worte erfreuen mich sehr, aber mein Leben, meine Zukunft gehören ganz und gar der Wissenschaft. Und ich halte dieses Experiment für absolut notwendig.«

»Pardon«, fing der Minister am, »wir haben bereits an die Hofkanzlei eine Eingabe gemacht. Herrn Professor steht eine große Ehrung bevor...«

»Sehr erfreut, Exzellenz, aber ich muß bitten, mir den Orden erst während ich schlafe auf die Brust zu heften«, sagte lächelnd der Professor.

»Das geht nicht, die Ordensinsignien können nicht zweitausend Jahre einem Inhaber verbleiben«, warf der Minister ein. »Nach dem Tode des Ausgezeichneten müssen sie dem Ordenskapitel wieder zurückgestellt werden.«

»Exzellenz, ich werde Auftrag geben, daß der Orden zurückgestellt wird!« rief mit Pathos der Professor aus.

»Nach zweitausend Jahren, wer weiß...«, sagte sorgenvoll der Minister.

»Glauben Exzellenz, daß in zweitausend Jahren das Ordenskapitel nicht mehr besteht?«

»Die Wege Gottes sind unerforschlich«, sagte Seine Exzellenz.

Der Herr Professor ward sehr kühl entlassen. Exzellenz war eben weit mehr Kultus- als Unterrichtsminister.

Nun kamen bewegte Zeiten für die beiden.

Die Korrespondenz des Professors schwoll ungeheuerlich an. Mut jeder Post kam eine Anzahl Briefe ins Haus, darunter jedesmal mehrere Schreiben, in denen in überschwenglichen Worten der Professor um sein Bild und um sein Autogramm gebeten wurde. Auch Lorenz ward in den ehrendsten Worten um solche Angedenken gebeten, welche Bitten dem unglücklich Liebenden vielfach Trost in seinem Leiden gewährten. Ein schwärmerisches Frauenzimmer bat ihn um eine Locke von seinem Haupthaar. Der Brief war auf parfümiertem rosa Briefpapier geschrieben und in den glühendsten Ausdrücken gehalten. Dieser Brief brachte in Lorenz' Herzen eine höchst lebhafte Erregung hervor. Dieses Frauenzimmer wäre schon mit einer Locke von seinem Haupt zufrieden, während er doch Wetti den ganzen Mann zur Verfügung stellte. Er schüttelte wieder traurig sein Haupt und stellte tiefsinnige Betrachtungen an, deren Endresultat durchaus nicht zugunsten der Damen ausfiel.

Auch andere recht seltsame Briefe waren darunter. Es meldeten sich eine Menge Leute bei dem Professor, die die bestimmte Absicht aussprachen, mit dem Herrn Professor in das vierte Jahrtausend hinüberzuschlafen, Studenten, die bei ihren Prüfungen durchgefallen waren, bankerotte Geschäftsleute, unglücklich Liebende, Schicksalsgenossen von Lorenz, kurz, eine Menge Leute, die alle Ursache hatten, diese Zeit zu fliehen, und die sich von einer sehr fernen Zukunft erst die Besserung ihrer Lage erwarteten.

Der Widerstand der Regierung gegen die Pläne des Professors war ein fast unbesiegbarer. In allen Vertretungskörpern, im Gemeinderat, im Landtag und im Reichsrat, wurden in dieser Angelegenheit Interpellationen eingebracht. Die im Gemeinderat herrschende Partei verhielt sich dem Projekt des Professors Doktor Voraus gegenüber durchaus ablehnend. Die Majorität dieser Körperschaft bestand aus stark konservativen Männern, die jeder Neuerung, jedem Fortschritt gegenüber sich grundsätzlich ablehnend verhielten. Angelegenheiten der Wissenschaft oder Kunst interessierten diese auf das rein Praktische bedachten Herren nur sehr wenig. Speziell die Professoren genossen geringes Ansehen, und die Mitglieder der medizinischen Fakultät waren ihnen geradezu ein Dorn im Auge. Dürrkräutler, alte Damen, die sich praktisch mit der Heilkunde befaßten, und Schäfer, die nach ihren Anschauungen eine natürliche Veranlagung für die Medizin besitzen, erschienen den Herren im Gemeinderat als die einzig berufenen Faktoren, die Menschen von ihren Gebresten zu heilen. Gegen Professor Dr. Voraus fiel manches scharfe Wort in den Sitzungen, und ein Stadtrat, der durch seine Rednergabe eine gewisse Berühmtheit genoß, nannte den Professor einen »gewissenlosen Schwindler«, was von der Majorität mit unendlichem Beifall aufgenommen wurde.

Auch der Landtag, dessen Majorität der Partei des Gemeinderates angehörte, sprach sich in ganz gleicher Weise gegen den Professor aus. Diese Körperschaft forderte die Regierung in einer Resolution in sehr scharfer Weise auf, dem Treiben und den Gaukeleien des Professors endlich ein Ende zu bereiten und den Professor im Interesse der studierenden Jugend und aus Rücksicht für das Ansehen der alten hochberühmten Universität von seinem Lehrstuhl zu entfernen.

Außerordentlich rege beschäftigten sich die Witzblätter mit dem Professor. Während einer einzigen Woche erschienen nicht weniger als dreiundfünfzig Karikaturen des Professors, von denen manche sehr gemein ausgefallen waren. Auch Lorenz blieb von diesen Liebenswürdigkeiten nicht verschont, aber bei ihm verfehlten sie gänzlich ihren Zweck. Er hob sich sorgsam jedes Blatt auf, und es gewährte ihm das größte Vergnügen, seine reichhaltige Sammlung immer wieder durchzusehen.

Es schien alles danach angetan, als ob die beiden Herren niemals dazu kommen würden, die geplante Reise in jene nebelgraue Zukunft zu unternehmen, als ein Ereignis eintrat, das ihnen in wirksamster Weise zu Hilfe kam.

In der Hauptstadt war ein Riesenstreik ausgebrochen. Einmütig hatten sämtliche Bäcker-, Fleischer- und Selchergehilfen die Arbeit niedergelegt. Die Meister hofften die Mitwirkung des Publikums im Kampf gegen die Arbeiter dadurch herbeizuführen, daß sie jene so wichtigen Lebensmittel, deren Herstellung ihrem Gewerbe obliegt, in Familienregie herstellten und bei Ausgabe ihrer Handelsprodukte weit unter das Mindestmaß hinuntergingen, indem sie sich entschuldigten, daß sie wegen Mangels an Arbeitskräften die Semmel, die Würstel usw. so klein machen müßten. Sie hofften, dadurch das Publikum gegen die Gehilfen aufzureizen, indem sie ihnen die alleinige Schuld an der Hungersnot zuschrieben. Aber das Publikum ging nicht auf den Leim, folgte seiner altvererbten Antipathie gegen Bäcker-, Fleischer- und Selchermeister, indem es zur Selbsthilfe griff, Gebäck ebenfalls in eigener Regie herstellte und in hellen Scharen in das Lager der Vegetarier überging. Unternehmende Geister legten zugleich große Kaninchenzüchtereien an, auf sämtlichen Hausböden der Stadt wurden Taubenschläge eingerichtet und die Höfe der alten Häuser belebten sich mit Geflügel, das die Hausfrauen zur Abwehr der Fleischnot sich eingestellt hatten. Der Handel mit Seefischen florierte; während man früher einen unerklärlichen Abscheu gegen diese Meeresprodukte zeigte, wurden jetzt die Seefischhandlungen tagtäglich von der Volksmenge belagert, indes die Laden der Selcher und Fleischer leer standen.

Aber trotz der Anteilnahme des Publikums drohte der Sieg den Meistern zu verbleiben, da diese, dank ihrer ausgezeichneten Vermögensverhältnisse, in die sie durch ihr humanitäres Wirken geraten waren, ausharren konnten, während die Gehilfen, in kurzer Zeit aller Mittel entblößt, schon nahe daran waren, reumütig in die alte Lohnsklaverei zurückzukehren. In diesem kritischen Moment kam dem Gehilfenobmann ein rettender Gedanke. Er ordnete eine Riesenversammlung aller Streikenden in den größten Sälen der Stadt an. In dieser Versammlung schilderte er die trostlose Lage der Streikenden und teilte mit, daß der Kampf wohl zu Ende wäre, wenn er nicht ein Mittel gefunden hätte, das es allen Gehilfen möglich machte, ruhig und sorglos im Kampf auszuharren.

In atemloser Spannung folgten die Gehilfen den Ausführungen ihres Vertreters.

»In unserer Stadt lebt ein Mann, der in kühnem Fluge die höchsten Höhen der Wissenschaft erklommen hat, ein Mann, der uns darin ein Beispiel ist, daß er trotz aller Schikanen seitens der Regierung unentwegt seinem hohen Ziele zustrebt!«

(Ein Murmeln des Staunens und des Beifalls durchlief die Riesenversammlung.

»Dieser Mann ist Professor Doktor Voraus!« In diesem Augenblick brach ein Riesensturm los.

»Hoch Voraus – hoch – hoch!« Die Menge tobte. Es war ein entfesseltes Meer, das von dem heftigen Orkan bewegt wurde. Minutenlang toste der Sturm.

Der Gehilfenobmann stand ruhig auf der Tribüne.

Endlich trat Ruhe ein.

»Wir können nicht mehr länger hungern, wir können nicht mehr länger zusehen, wie unsere Weiber und Kinder darben, und wir dürfen auch nicht mutlos diesen großen Kampf aufgeben!«

Tosende Zurufe erschallten. Trotz der Entbehrungen, trotz des furchtbaren Mangels, den die Leute litten, war in ihren Herzen die Begeisterung nicht erloschen.

»Professor Voraus«, fuhr der Sprecher fort, »hat das großartige Mittel gefunden, das es uns möglich macht, in dem Kampf, den wir für uns, für unsere Nachkommen führen, auszuharren. Wir gehen zu ihm und bitten ihn, er soll uns Brotlose, Hungernde auf so lange einschläfern, bis der Starrsinn der Meister endgültig gebrochen ist!«

Die Szene, die nun folgte, ist einfach unbeschreiblich. Das Rollen und Brausen eines Sturmes ist ein Kinderspiel dagegen. Die Arbeiter umarmten und küßten sich.

»Und wenn wir sechs Wochen schlafen müßten!« erschallte ein Ruf.

»Wir schlafen ein Jahr!«

»Zehn Jahre!«

Plötzlich stimmte eine Gruppe das »Lied der Arbeit« an. Als die anderen die heiligen Klänge hörten, entblößten sie das Haupt, und zum Schluß der ersten Strophe sang bereits die gesamte Versammlung mit. Das Lied hörte sich an wie das Brausen des Meeres.

Auf einmal ertönte der Ruf: »Auf zum Doktor Voraus!«

Die Menge drängte zum Saale hinaus, um in geschlossenem Zuge zur Wohnung des Professors zu ziehen. Als die Polizei davon Kenntnis erhielt, wurden sofort größere Abteilungen der Wachmannschaft dem Zuge entgegengeschickt. Erst nach längeren Verhandlungen, die der Versammlungsleiter mit dem Oberkommissär hatte, gestattete die Polizei, daß die Menge zum Hause des Doktors ziehe. Der Versammlungsleiter mußte sich verbürgen, selbst die Ordnung aufrechtzuerhalten. Er tat dies, die Wachmannschaft zog ab und ließ die Menge ungehindert passieren.

Vor der Wohnung des Professors angelangt, stimmte die Menge erst das »Lied der Arbeit« an und brach nach jeder Strophe in tosende Hochrufe aus. Der Professor erschien am Fenster und wurde mit unendlichem Jubel begrüßt. Dann begab sich eine dreigliedrige Deputation hinauf zu Doktor Voraus, teilte ihm den Beschluß der Streikenden mit und bat um seine gütige Unterstützung.

Der Professor war überrascht, er zögerte mit seiner Antwort.

In diesem Moment brachte Lorenz ein großes Schreiben herein. Der Professor langte hastig danach und öffnete das amtliche Kuvert. Es enthielt eine Zuschrift der Statthalterei, die ihm mitteilte, daß ihm auf Einschreiten der Polizeibehörde aus den verschiedensten Gründen endgültig verboten wurde, das große Experiment auszuführen.

Das Papier in den von tiefster Erregung zitternden Händen haltend, begann er:

»Meine Herren, ich will Ihre Bitte erfüllen. Bestellen Sie für morgen abend acht Uhr alle Streikenden samt ihren Familienmitgliedern in den Musikvereinssaal, es müssen aber alle, alle kommen! Dann werde ich sie einschläfern!«

Das Dekret der Statthalterei hatte seine Wirkung getan.

»Ich bitte Sie aber, vorläufig niemandem ein Wort davon zu sagen, damit wir in unserem Werke nicht durch die Weisheit irgendeiner Behörde gestört werden!«

Die Deputation empfahl sich unter den lebhaftesten Dankesbezeigungen.

Die Menge unten stimmte, als die drei Herren zurückgekehrt waren, wieder das »Lied der Arbeit« an, brach in brausende Hochrufe aus und zog dann ab.

Dank der strammen Organisation der Sozialdemokraten gelangte nicht eine Silbe von dem Versprechen des Professors zur Kenntnis der Polizei. Die Parteileitung verkündete des anderen Tages in ihrer Zeitung und durch ungeheure grellrote Plakate, daß sich abends acht Uhr sämtliche Streikende samt Weib und Kindern im Musikvereinssaal einzufinden hätten, wo ihnen höchst wichtige Mitteilungen gemacht würden.

Abends viertel neun Uhr war der Saal zum Erdrücken gefüllt.

Der Einberufer hatte nur das Erscheinen des Professors abgewartet, um sofort die Versammlung zu eröffnen. Der Professor war, von tausendstimmigen Hochrufen begrüßt, erschienen, hatte unter frenetischem Beifall neben dem am Tische sitzenden Polizeikommissär Platz genommen und die Versammlung ward eröffnet. Nach kurzer Begrüßung der Erschienenen teilte der Vorsitzende mit, daß der Herr Professor gekommen sei, sie alle einzuschläfern. Seine großartige Erfindung habe die Macht der Kampfesmittel des Kapitals unwirksam gemacht. Schlafend wird die Menge des Tages harren, an dem die Geldprotzen bedingungslos sich den Forderungen der Unterdrückten fügen werden. Not und Elend, die furchtbarsten Peitschen, die die Arbeitgeber über die aufrührerischen Lohnsklaven schwingen, sind wirkungslos geworden, Streikfonds sind ein überwundener Standpunkt!

Der Polizeikommissär sprang auf, er verlangte dringend eine andere Tagesordnung; die vom Einberufer kundgegebene könne er unmöglich dulden.

Sein Protest verhallte unter den stürmischen Zurufen der empörten Menge. Plötzlich setzte er die Dienstkappe auf, um damit anzudeuten, daß er die Versammlung auflöse. Als die Menge dies bemerkte, brach sie in ziemlich unflätige Rufe aus. Erregt drängte ein wirrer Haufe von Männern und Weibern auf das Podium zu, auf dem Vorsitzender, Schriftführer, der Professor und der Polizeikommissär saßen. Die Situation wurde äußerst gefährlich, die Menge gehorchte nicht mehr dem Präsidenten, ein heulendes Gebrüll erfüllte den ungeheuren Saal; in das Gebrüll mischte sich das gellende Kreischen und Schreien der Weiber und die Angstrufe der erschreckten Kinder.

Plötzlich geschah etwas höchst Sonderbares. Der Polizeikommissär sank auf seinen Sessel zurück, legte die Arme auf den Tisch und schlief trotz des Höllenspektakels, die Dienstkappe auf dem Kopfe, ein.

Auch den Herrschaften, die sich so streitbar zur Tribüne vordrängten, geschah ähnliches. Das Gebrüll verstummte, die drohend erhobenen Arme sanken herab, die erhitzten Gesichter nahmen plötzlich den Ausdruck angenehmster, friedvollster Ruhe an. Man setzte sich ungeniert auf das Podium nieder und schlief behaglich ein. Es dauerte nicht lange und, mit Ausnahme des Einberufers, des Schriftführers und des Herrn Professors, schlief alles. Die Bogenlampen brannten ganz trübe und schläfrig.

Und wie fest sie alle schliefen – kein Atemzug war hörbar! Der ungeheure Saal bot einen seltsamen märchenhaften Anblick. Im Parkett, in den Logen, überall Leute in den tiefsten Schlaf versunken. Im Stehparterre ein verworrener Haufen von Schläfern, Da lag ein dicker Herr, ein junges, schlankes Mädchen hatte den hübschen Kopf auf den großen Bauch des Herrn gelegt und schlief sanft wie ein Engel. Ein Polizeimann hatte im Einschlafen seine Pickelhaube abgenommen und sie auf den Kopf eines sozialdemokratischen Ordners gestülpt.

Oben auf dem Podium aber stand der Professor, die Arme wie segnend über die Menge ausgebreitet. Als nun tiefste Totenruhe eingetreten war, ließ der Professor lächelnd die Arme sinken und wendete sich zu dem Einberufer.

»Sind Sie zufrieden, Herr Hecker?« fragte er. Der Einberufer war ein ziemlich beleibter, glattrasierter Herr mit sehr freundlichem Gesicht. Er sah wie ein Pfarrer aus.

»Nun, so sprechen Sie doch, Herr Hecker!« drängte der Herr Professor.

Hecker sah mit Entsetzen auf Doktor Voraus. Das hatte er doch nicht erwartet! Was er da sah, erfüllte ihn mit staunendem Grausen. Zuerst wandelte ihn ein Gefühl an, das jedem Polizeimann Ehre gemacht hätte. Den Professor einsperren lassen! Unschädlich machen diesen furchtbaren Menschen! Aber endlich sammelte er sich.

»Ich danke Ihnen...!« sagte er einfach. Der Professor reichte ihm die Hand. Hecker zögerte lange, sie zu erfassen. Endlich gewann er Mut, ergriff die gewaltige Hand und schüttelte sie recht herzlich. Der Schriftführer kam zagend herbei, hielt aber die Hände in den Hosentaschen versteckt und verbeugte sich bloß.

»Wollen die Herren auch eingeschläfert werden?« fragte lachend der Professor, als er die fürchterliche Angst der beiden bemerkte.

»Nein, nein«, wehrte Hecker ab, »wir müssen, während die Leute schlafen, ihr Interesse vertreten!«

»Aber was soll mit ihnen geschehen?« fragte der Schriftführer. »Wir können sie doch nicht hier liegen lassen!«

»Warum nicht?« fuhr Hecker auf.

»Sie liegen so unbequem«, warf der Schriftführer schüchtern ein.

»Sie spüren nichts davon, und wenn sie tausend Jahre liegen«, tröstete der Professor.

»Man wird aber den Saal brauchen«, bemerkte der Schriftführer, »morgen soll hier ein großes Konzert stattfinden!«

Da wurde Hecker böse. Die Einwürfe des Schriftführers hatten ihm gezeigt, in welche Kalamität die Behörde durch das Experiment gebracht worden war. Sein Herz war von stolzester Freude erfüllt.

»Sie sollen den Leuten Schlafstätten anweisen. Es sind ja nur dreitausend... oder die Meister zur Nachgiebigkeit veranlassen! Herr Professor...« Er wandte sich zu nochmaligen innigen Dank zu diesem. »Dieser Abend bedeutet den Beginn einer neuen Epoche in der Sozialdemokratie!«

Der Professor wehrte ab.

»Was sollen wir aber mit diesem Herrn – (er deutete auf den schlafenden Polizeikommissär) – anfangen? Den müssen wir doch aufwecken, sonst könnte uns die Geschichte übel bekommen!«

Hecker meinte geringschätzig, der Herr Professor solle dann einfach das ganze Präsidium einschläfern. Der Professor hörte aber nicht auf ihn. Er strich leise mit der Hand über den Kopf des Schläfers.

Plötzlich sprang der Kommissär auf. Die rechte Hand herausfordernd auf den Tisch gestützt, schrie er mit Donnerstimme in den Saal: »Ich erkläre die Versammlung für aufgelöst! Ich bitte, den Saal sofort zu verlassen, widrigenfalls ich ihn mit Gewalt räumen lassen müßte!«

Für ihn war seit seinem Einschlafen keine Minute vergangen, er setzte genau dort fort, wo er bei seinem Einschlafen aufgehört hatte.

Erstaunt brach er plötzlich ab; an Stelle des furchtbaren brausenden Sturmes war ja Totenstille eingetreten. Verwirrt sah er um sich. Der weite Saal angefüllt mit Schläfern. Er griff sich angstvoll an den Kopf.

»Was ist das, was ist da geschehen?« fragte er entsetzt.

»Die Leute schlafen bereits«, meinte trocken der Professor.

»Ohne behördliche Erlaubnis, Herr Professor...«

»Jawohl, ohne jede behördliche Erlaubnis.«

»Und die Wachleute im Saal?«

»Die schlafen auch!«

Der Polizeikommissär wollte noch etwas sagen. Aber es ward ihm todbange. Was er hätte auf strikten behördlich Auftrag verhindern sollen, war geschehen, ohne daß er eine Ahnung davon hatte. Wie betäubt wankte er die Stufen, die vom Podium in den Saal führten, hinab.

»Die Versammlung ist aufgelöst!« stammelte er noch einmal

»Nein, sie ist noch beisammen«, bemerkte ironisch der Professor.

Der Kommissär drehte sich erregt nach dem Professor um. Als er ihm aber in das Gesicht sah, in dem die grauen Augen so seltsam funkelten, entschwand ihm aller Mut und er ging hastig zum Ausgang. Zweimal stolperte er über Schlafende, die sich unvorsichtigerweise gerade den Mittelgang als passendes Schlummerplätzchen ausgesucht hatten.

»Meine Herren, wir haben hier nichts mehr zu suchen«, sagte der Professor, als der Kommissär verschwunden war. Er ging voran, die beiden folgten ihm nach.

Es wurde kein Wort gesprochen. Der Anblick der unzähligen Schläfer im Saale bewegte ihr innerstes Empfinden. Der Riesensaal sah aus wie eine ungeheure Leichenhalle.

»Solche Mittel müssen die Enterbten des Glücks anwenden, um zu ihren Rechten zu kommen«, sagte bitter der Präsident zu dem ihm voranschreitenden Professor.

»Aber mit diesem Mittel werden sie siegen«, erwiderte der Professor. »Die Wissenschaft wird einst alle Unterschiede unter den Menschen ausgleichen.«

Eine riesige Volksmenge umstand das Musikvereinsgebäude. Als der Professor erschien, wurde er wieder mit brausenden Hochs begrüßt. Er bestieg einen offenen Wagen und fuhr, freundlich nach allen Seiten grüßend, davon.

Hecker und der Schriftführer wurden von allen Seiten umringt. Man wollte durchaus Auskunft haben, was sich drinnen im Saale zugetragen habe. Die plötzliche Totenstille, die nach dem ungeheuren Lärm eingetreten war, hatte die Leute, die außerhalb des Gebäudes harrten, ganz verblüfft. Hecker teilte mit, daß der geplante Trick bereits ausgeführt sei und daß alle Teilnehmer im Saale den angekündigten Streikschlummer hielten. Die Nachricht verbreitete sich mit Blitzesschnelle. Alles geriet in die freudigste Erregung.

Plötzlich rückten von zwei Seiten große Abteilungen von Polizeimannschaften auf das Gebäude zu. Zweifellos hatte der Kommissär gemeldet, was vorgefallen war, und nun kam die Polizei, um Ordnung zu machen.

Unter Führung eines hohen Polizeioffiziers drang die Wachmannschaft in den Saal. Beim Eingang kauerten schlafend einige Wachleute auf dem Boden. Der Offizier donnerte sie an: »Was ist das? Auf! Sofort!«

Die Wachleute rührten sich nicht. Der Polizeioffizier war ein durch seinen Dienst sehr nervös gewordener Herr; er wurde vor Zorn kirschrot im Gesicht, faßte einen schlummernden Wachmann an der Schulter und schüttelte ihn so, daß sein Helm in weitem Bogen auf das Gesicht eines Saaldieners geschleudert wurde, der längelang dalag und friedlich die Hände über dem Bauch gefaltet hatte. Der Wachmann zeigte keine Spur von Leben und der Saaldiener verzog keine Miene, als ihm der Helm auf das Gesicht fiel.

Der Offizier stellte sich auf die Tribüne und schrie mit Stentorstimme: »Meine Herren und Damen! Sie haben auf Befehl der Polizei den Saal sofort zu verlassen!«

Niemand antwortete ihm als das Echo von den Wänden. In diesem Moment kam, von mehreren Herren begleitet, der Polizeipräsident in den Saal. Auch er war ganz konsterniert, als er die Situation betrachtete.

Der Polizeioffizier erstattete ihm Meldung. Der Präsident ließ versuchsweise schlummernde Wachleute und Zivilpersonen von den mitgekommenen Wachorganen derb schütteln, um sie zu ermuntern. Aber die Schläfer gaben keinen Laut von sich.

»Das ist einfach unerhört!« sagte der Präsident. Plötzlich überkam ihn ein furchtbares Grauen. Wenn so auf einmal der Professor hereinkäme und ihn selbst mit den anderen Herren ebenfalls einschläferte! Er gab sofort strengen Befehl, niemanden, absolut niemanden einzulassen.

»Was ist da zu tun?« fragte der Herr Präsident die ihn begleitenden Herren.

Diese schüttelten verzagt das Haupt.

»Dieser Professor muß absolut unschädlich gemacht werden«, fuhr der Präsident fort. Er gab einem Herrn seines Gefolges den Befehl, den Professor noch im Laufe dieser Nacht in sein Büro zu bringen.

»Wenn er dich aber während der Unterredung einschläfert?« fragte er sich wieder beklommen. Er besann sich eine Weile, zog dann vorsichtig seinen Befehl zurück und ordnete an, daß morgen vormittags Abordnungen der Streikenden und der Meister in sein Büro geladen würden.

»Meine Herren, da ist nichts zu machen«, sagte er zu seinem Gefolge. »Solch ein Fall ist mir noch nicht vorgekommen. Ich muß sofort um eine Audienz beim Minister des Innern ansuchen!«

Als die Kommission vor das Gebäude trat, wurde sie mit zahllosen ironischen Bravos begrüßt. Da sich unterdessen die Nachricht von dem Ereignis in der ganzen Stadt verbreitet hatte, umlagerte eine unabsehbare Menge das Gebäude. Aller Verkehr stockte, kein Wagen der Straßenbahn, kein Fiaker, keine Droschke, überhaupt kein Fuhrwerk war zu sehen. Nur Kopf an Kopf drängte sich die Menge der Neugierigen. Der Polizeipräsident stand ganz bestürzt da.

»Das ist ja Anarchie!« rief er bestürzt aus.

Aus der Nebengasse heraus hörte man plötzlich tausendstimmiges Schreien und Rufen. In die Menge kam Bewegung, die Leute drängten vorwärts, das Gedränge war lebensgefährlich.

Endlich löste sich das Rätsel. Pferdeköpfe wurden sichtbar – eine Eskadron berittener Schutzleute säuberte die Straße. Der Polizeipräsident atmete erleichtert auf.

Eine halbe Stunde später konnte er unter dem Schutz der Berittenen seinen Wagen besteigen. Er fuhr direkt zum Ministerium des Innern.

Nachts wurde das Gebäude durch einen Militärkordon abgesperrt. Die Menge hatte sich zum größten Teil verlaufen, um daheim in ihren behaglichen Betten das glorreiche Beispiel der Streikenden nachzuahmen.

Am nächsten Vormittag traten im Gebäude der Statthalterei unter dem Vorsitz Seiner Exzellenz des Herrn Statthalters Meister und Gehilfen zu einer Sitzung zusammen. Auch der Polizeipräsident und mehrere Delegierte des Ministeriums waren der bedeutungsvollen Sitzung zugezogen.

Die Gehilfen unter Führung Heckers wiesen siegessichere Mienen. Die Meister sahen ungemein gedrückt aus. Viele von ihnen waren ganz herabgekommen. Das hatte seinen Grund darin, daß sie, um wenigstens halbwegs ihren Aufträgen nachkommen zu können, nun selbst arbeiten mußten, was die größte Anzahl der Herren Bäckermeister sehr schmerzlich traf, da sie die Arbeit längst nicht mehr gewohnt waren und alle Übung in ihrem Gewerbe verloren hatten. Manche konnten sich nicht einmal dunkel erinnern, wie eigentlich eine Kaisersemmel angefertigt werde. Dies und das gänzlich unvorhergesehene Ereignis des vergangenen Abends hatte sie vollständig deprimiert.

Der Statthalter eröffnete die Sitzung mit einer Ansprache, in der er beide Parteien zur Einigkeit aufforderte. Die Meister erklärten sofort, daß nicht sie es gewesen seien, die die Einigkeit gestört hätten; an allem seien nur die Gehilfen schuld, die in ihrem ungezügelten Erwerbsdrang das schöne friedliche Verhältnis gestört hätten. Hecker entgegnete in scharf sarkastischer Weise, daß es die Bäckermeister nicht nötig hätten, sich von dem Arbeitserträgnis ihrer Gehilfen ungezählte Häuser zu bauen. Die Gemüter erhitzten sich, es schien, als sollte die Versammlung resultatlos auseinandergehen. Der Statthalter ersuchte um Ruhe. Er führte in längerer Rede aus, daß die Zustände in verschiedenen Gewerben unhaltbar geworden seien. »Ich erinnere Sie alle an die ernste Gefahr«, rief er mit Pathos aus, »dreitausend Menschen schlummern im Musikvereinssaal einer besseren Zukunft entgegen. Wir müssen da ernstlich Wandel schaffen, ehe unter solchen ungesunden Verhältnissen der ganze Staat zusammenbricht! Ich ermahne Sie zur Nachgiebigkeit!«

Die Bäckermeister erklärten, durchaus nicht nachgeben zu können, sie opferten sich direkt für das Volk! Die Gehilfen lachten höhnisch.

»Dann, meine Herren«, fuhr der Statthalter fort, »beginnen wir im nächsten Jahre mit der Verstaatlichung des Bäckergewerbes. Die Gehilfen werden in die drei untersten Stufen der Staatsbeamten eingereiht. Die Lehrlinge erhalten nach halbjähriger Probezeit ein Adjutum von 50 Kronen monatlich.«

Die Bäckermeister knickten zusammen. Sie dachten mit Grauen an die Abhängigkeit, die ihrer harrte. Sie überlegten, daß sie, wenn man sie auch als Hofräte in diesem neuen Zweige der Staatsverwaltung anstellen würde, nie mehr in die Lage kämen, sich ein Haus zu bauen. Kleinmütig gaben sie zu erkennen, daß sie geneigt wären, auch weitestgehende Forderungen der Gehilfen zu bewilligen. Die Sitzung endete mit einem vollständigen Siege der Gehilfenschaft.

Die Bäckermeister entfernten sich in gedrücktester Stimmung. Als Hecker sich ebenfalls anschickte, den Saal zu verlassen, ward er vom Polizeipräsidenten in der zuvorkommendsten Weise ersucht, noch ein wenig zu bleiben. Hecker schritt an der Seite des Polizeipräsidenten zurück in das Beratungszimmer.

»Sie haben gesiegt«, begann der Präsident, »gesiegt mit unserer Hilfe...«

»Nein, mit eigenen Mitteln«, erwiderte Hecker.

»Lassen wir das! Es hat keinen Reiz, darüber zu reden«, meinte der Polizeipräsident. »Sie müssen aber jetzt alles daransetzen, daß die Arbeiterschaft wieder zu ihrer Pflicht zurückkehrt!«

»Das wird geschehen, Herr Präsident, die Disziplin unserer Partei ist über allem Zweifel erhaben. Morgen früh wird in allen Betrieben die Arbeit in ihrem vollen Umfang aufgenommen. Ich eile jetzt sofort zu Professor Doktor Voraus.«

Als der Präsident diesen Namen hörte, runzelte er die Stirn. Die anderen Teilnehmer der Sitzung waren, durch die Nennung dieses Namens aufmerksam gemacht, ebenfalls herbeigekommen und scharten sich neugierig um den Sprecher.

»Ich bitte nur, die Stunde anzugeben, in der die tapferen Schläfer alle erweckt werden«, sagte der Präsident mit sauersüßem Lächeln. »Die Freude des Volkes wird so groß sein, daß wir, um Ausschreitungen zu verhindern, dieses Fest in unsere besondere Obhut nehmen müssen.«

»Bitte, Herr Präsident!« Hecker verneigte sich in der verbindlichsten Weise. »Noch heute um vier Uhr nachmittags wird sich dieses außergewöhnliche Ereignis vollziehen.«

Hecker schritt stolz wie ein König davon. Extraausgaben verkündigten dem Publikum das Resultat dieser denkwürdigen Sitzung. Die Bäckermeister befestigten an den Spiegelscheiben ihrer Auslagen Plakate, in denen sie mitteilten, daß sie aus lobenswerter Fürsorge für das P. T. Publikum die Forderungen der Gehilfen bewilligt hätten.

Um ein Uhr nachmittags erhielten die das Musikvereinsgebäude umgebenden Straßen ein höchst interessantes militärisches Gepräge. Zuerst zogen mehrere Bataillone Infanterie auf. Eine halbe Stunde später sperrte eine Eskadron Dragoner alle zu dem Gebäude führenden Straßen ab. Nur der Intervention des Statthalters war es zu danken, daß nicht auch Artillerie zur Aufstellung kam. Der Statthalter fürchtete, daß diese Vorsichtsmaßregel das Volk unnötigerweise aufreizen würde. Aber trotz dieser so weitgehenden Sicherheitsmaßregeln sammelte sich wieder eine ungeheure Menschenmenge an, die nur die Rücksicht auf das viele Militär abhielt, ihren Meinungen und Gefühlen in gewohnter Weise lebhaften Ausdruck zu geben.

Als um dreiviertel vier Uhr Hecker und der Professor in offenem Wagen beim Musikvereinsgebäude vorfuhren, ging erst ein Murmeln durch die Menge. Das Murmeln wuchs zum Brausen, zum tobenden Sturm an. Als die beiden Herren in dem Gebäude verschwunden waren, bemächtigte sich der Anwesenden eine atemlose Spannung. Tausende und Tausende von Augen sahen unverwandt nach den Türen. Drinnen in dem großen Saale schliefen dreitausend Menschen – Menschen, die gezeigt hatten, daß sie nichts scheuten, um den Sieg in diesem Kampfe zu erringen. Märtyrer einer besseren, schöneren, einer herrlichen Zukunft! Sie hatten den Sieg errungen, bald wird das erste Paar dieser todesmutigen, wackeren Kämpfer erscheinen. Minute um Minute vergeht. Endlose Minuten! Minuten, die sich zu Ewigkeiten dehnen. Eine Viertelstunde vergeht, es erscheint niemand, die Menge erfaßt eine ungeheure Bangigkeit. Wie, wenn das Experiment mißlungen wäre? Wenn vielleicht gar alle tot wären? – Eine Totenstille herrscht auf dem Platz. Die Tausende stehen alle wie gebannt.

Noch eine Viertelstunde. Die Turmuhr der nahen Kirche verkündet die fünfte Nachmittagsstunde, und noch immer ist nichts zu sehen. Ein leises Grollen und Murmeln erhebt sich in der Menge.

Da öffnen sich oben alle drei Türen. Die Menge strömt hinaus, die Schläfer sind erwacht! Ins Leben zurückgerufen durch den Machtspruch des Professors. Ein einziger Jubelruf entringt sich der Menge. Der Bann ist gelöst, die Menschen umarmen sich unter Tränen. Das Militär hält den wiedererwachten Schläfern den Abzug frei. Anderthalb Stunden dauert der Zug. Man winkt den Leuten zu, diese grüßen jubelnd zurück.

Als der Professor mit seinem Diener Lorenz den letzten im Zuge nachfährt, erfolgen Ovationen, die aller Beschreibung spotten. Zwanzig Schritte vom Musikvereinsgebäude entfernt wird der Wagen aufgehalten. Trotz des eifrigsten Protestes seitens des Professors werden die Pferde ausgespannt, eine jauchzende Menge erfaßt die Wagenstange und nach einer kleinen Rauferei wird der Wagen im Trab lustig weitergezogen.

»Nun, sind Sie zufrieden, Lorenz?« fragte der Professor seinen Diener, als sie heimgekehrt waren.

»Der Dienst läßt nichts zu wünschen übrig«, sagte Lorenz, »wenn nicht...«

Er stockte, drehte sich um und wollte das Zimmer verlassen. Das alte Leid war mit Macht über ihn gekommen.

»Lorenz!« rief ihn der Professor an.

Lorenz drehte sich um, er hatte die Augen voller Tränen.

»Sie denken noch immer an Ihre Wetti«, sagte der Professor mitleidig lächelnd. »Fassen Sie Mut! Nach dem Vorgefallenen wird sich nun keine Behörde mehr weigern, mir meine Wünsche zu erfüllen. In weniger als zwei Monaten werden wir uns zu unserem zweitausendjährigen Schlaf niederlegen. Und wenn wir dann aufwachen, liegt alles, was uns jetzt umgibt, in ewigkeitgleicher Zeitenferne hinter uns!«

»Ich werde sie trotzdem nicht vergessen«, seufzte Lorenz und verließ mit schnellen Schritten das Zimmer.

Der Professor hatte richtig kalkuliert. Am nächsten Morgen erschien ein Abgesandter der Statthalterei mit einem höchst schmeichelhaften, in den bewunderndsten Ausdrücken gehaltenen Schreiben Seiner Exzellenz bei dem Herrn Professor. In dem Schreiben war die dringendste Bitte ausgesprochen, der Herr Professor möge ja bestimmt zur persönlichen Entgegennahme höchst wichtiger Mitteilungen im Büro Seiner Exzellenz erscheinen. So zwischen zwölf und drei Uhr, wenn der Herr Professor nicht vorziehen würde, bei Seiner Exzellenz den Tee einzunehmen! Der Überbringer des Schreibens warte auf Antwort.

»Sagen Sie Seiner Exzellenz, daß ich um halb ein Uhr mich im Statthaltereigebäude einfinden werde!« Der Abgesandte verbeugte sich tief und schritt von dannen.

Der Herr Professor rieb sich vergnügt die Hände. »Aha, sie geben bereits nach!«

Die Behörden waren durch das Experiment des Professors in eine höchst bedauerliche Situation geraten. Die Presse sprach ganz unverhohlen davon, daß sich bei dieser Gelegenheit die volle Ohnmacht der sogenannten Regierungsgewalt erwiesen habe. Das Organ der Sozialdemokraten triumphierte. Ihre Partei war die erste gewesen, die die große Erfindung des Professors Doktor Voraus in den Dienst ihres politischen Kampfes gestellt hatte.

Am schlimmsten daran waren die Bäckermeister. Die der Regierung nahestehenden Organe warfen dieser ehrenwerten Genossenschaft vor, daß der blinde Erwerbstrieb ihrer Mitglieder, ihre unkluge Hartherzigkeit gegenüber den Arbeitern, diese Katastrophe verschuldet habe. Es geschah das Ungeheuerliche, daß die Regierungsorgane mit aller Macht für die Sozialdemokraten eintraten und die Bürgerschaft warnten, auf den bisher gegangenen Pfaden weiterzugehen, da sonst der Ruin des Staates unvermeidlich wäre. Der Schrecken infolge des so großartig gelungenen Experimentes lag den weisen Herren in allen Gliedern.

Als Professor Doktor Voraus in der Statthalterei erschien, hielt ihm Seine Exzellenz beide Hände entgegen und sprach in bewegten Worten seine unendliche Freude über die hohe Ehre aus, die ihm der Herr Professor durch seinen Besuch erweise. Als sich die Herren gesetzt hatten, war der Statthalter unermüdlich, immer wieder von neuem nach jedem Detail dieses großartigen Ereignisses zu fragen. Lächelnd antwortete der Professor, und sein Lächeln hatte so etwas Überlegenes, daß Seine Exzellenz tiefe Scheu vor dem furchtbaren Mann ergriff. Schließlich beklagte sich der Professor darüber, daß man seinem großen Experiment, das er im Verein mit seinem Diener plane, so große Hindernisse in den Weg lege.

Als Seine Exzellenz merkte, daß der Herr Professor noch immer die feste Absicht hege, sich seiner eigenen Zeit gänzlich zu entziehen, atmete er erleichtert auf; eine Zentnerlast fiel von seiner schwer bedrückten Beamtenseele. Er entschuldigte sich und die Regierung mit vieler Wärme.

»Herr Professor, wir sind alle stolz darauf, einen so großen Mann unseren Zeitgenossen zu nennen...«, fing er an.

»Bin ich deswegen weniger Ihr Zeitgenosse, wenn ich mich aus dieser Zeit hinüberrette in eine für unsere heutigen Begriffe ewige, ferne Zukunft?« bemerkte der Professor.

»Herr Professor, Sie werden einst das ruhmreichste Denkmal unserer Zeit sein«, bemerkte in zuvorkommenster Weise der Statthalter. »Sie müssen es unserem für Sie ja so anerkennenden Egoismus verzeihen, wenn wir alles daransetzten, so lange als nur möglich die hohe Ehre zu genießen, Zeitgenossen Ihres Wirkens zu sein. Wir haben aber einsehen gelernt, daß wir nicht das Recht haben, hemmend in Ihre Tätigkeit einzugreifen. Wir sind nun zu der Überzeugung gelangt, daß wir die Pflicht haben, Sie in Ihrer segensreichen Wirksamkeit mit allen Mitteln zu unterstützen, die der Staatsregierung zu Gebote stehen.«

Der Professor horchte auf. »Aha, jetzt kommt's!« sagte er befriedigt zu sich selbst.

»Die Regierung wird Ihrem Vorhaben nicht mehr im Wege stehen. Sie wird es im Gegenteil mit allen Kräften fördern. Die Akademie der Wissenschaften wurde durch das Unterrichtsministerium bereits ersucht, uns Vorschläge in dieser Beziehung zu unterbreiten. Ich habe Sie ersucht, zu mir zu kommen, und danke herzlichst für Ihr Erscheinen, um Sie zu bitten, uns ebenfalls mit Ihren Ratschlägen an die Hand zu gehen, respektive die Akademie in ihren Arbeiten zu unterstützen. Es ist uns viel daran gelegen, daß Sie so bald als möglich an die Ausführung Ihres Versuches gehen. Wir haben unseren Irrtum eingesehen.«

Der Professor reichte Seiner Exzellenz dankend die Hand. Der Statthalter begleitete ihn zur Tür. Dort nahm er unter neuerlichem Händeschütteln herzlichen Abschied. Der Professor mußte lächeln, wenn er daran dachte, welch ungeheure Angst sich hinter dem freundlichen Benehmen des Herrn Statthalters barg. Augenscheinlich konnten es die Herren der Regierung gar nicht erwarten, ihn, diesen furchtbaren, gefährlichen Menschen, schlafend zu wissen.

»Also, mein lieber Lorenz, wir reisen in das ›Land der Träume‹! Die hohe Regierung erlaubt es uns«, sagte er fröhlich lachend zu seinem Diener.

»Bald?« fragte dieser beklommen.

»So bald als möglich«, entgegnete lachend der Professor, »die hohe Regierung wünscht nichts sehnlicher, als daß wir sehr bald einschlafen!«

»Das ist recht«, sagte Lorenz melancholisch und fuhr sich mit dem Rücken der Hand über die Augen.


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