Rudolf Hawel
Im Reiche der Homunkuliden
Rudolf Hawel

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Drittes Kapitel.

Der erste Morgen im Reiche der Homunkuliden. Das Zeitungswesen anno 3907. Ein Besuch bei Gelehrten. Die Altersversorgung der Homunkuliden.

Ein wunderbarer Morgen war angebrochen. Der Herr Professor war mit einem Gefühl unbeschreiblichen Wohlbehagens erwacht. Er drückte auf den Taster, um Lorenz herbeizurufen. Aber statt seiner trat mit einer tiefen Verbeugung ein Homunkulide herein, die Kleider des Herrn Professors tragend.

»Der Herr Professor befehlen?« fragte er.

»Guten Morgen, mein Herr, wo ist Lorenz?«

»Herr Lorenz sieht zum Fenster hinaus und raucht seine Pfeife!'

»Der macht's gut, warum kommt er nicht, wenn ich ihn rufe?«

»Diese Leitung, Herr Professor, führt nicht in sein Zimmer. Wenn Herr Professor etwas befehlen, wir sind angewiesen – – –«

»Nein, nein«, unterbrach der Professor den dienstbereiten Homunkuliden, »da würde Lorenz schwer gekränkt sein, das geht nicht an, ich danke und bitte, rufen Sie mir sofort Lorenz herein!«

Der Homunkulide ging.

Nach kurzer Zeit betrat Lorenz das Gemach.

»Na, wie haben Sie geschlafen?« fragte der Professor.

»Danke, Herr Professor, es geht an; ich habe geträumt, daß wir in dem Luftschiff fahren. Es war eine sehr angenehme Fahrt. Die ganze Stadt sah aus, als hätte sie ein Kind aus einer Spielwarenschachtel zusammengestellt. So klein alles. Dann hab' ich unser Haus gesehen und die Gasse und das kleine Wirtshaus an der Ecke, und alle Gäste sind auf der Straße heraußen gestanden und haben zu uns hinaufgeschaut. Und mitten unter ihnen stand Wetti und winkte mit ihrem Sacktuch. Da hab' ich den Kapitän gebeten, das Schiff hinunterzulassen, und er tat es, als aber das Schiff auf der Erde aufplumpste, da wachte ich auf, ich hatte mir in meiner Freude den Kopf am Nachtkästchen angeschlagen.«

»Das ist bös'«, lachte der Professor.

»Und wie ich dann munter war, hab' ich mich angezogen und mir die Pfeife gestopft. Auf einmal kommt ein Homunkulide herein und fragt, was ich befehle, ich hätte ihn gerufen. Da stellte sich heraus, daß ich den Tabakkasten auf einen elektrischen Drücker gestellt hatte. Denken Sie sich nur, Herr Professor, der Homunkulide sagte, er sei mein Diener! Und er hat sich's nicht nehmen lassen, hat mir die Stiefel und den Rock weggenommen, und wenn ich nicht mit ihm raufen wollte, so mußte ich sie ihm lassen. Aber die Stiefel sind gut geputzt, alle Achtung, das hat er heraußen!«

»Ja, Lorenz, Sie sind ein großer Herr geworden.«

»Da mach' ich mir nichts daraus, vorläufig will ich Ihr Diener sein, ich will durch die zweitausend Jahre, die ich mit Ihnen verschlafen habe, nicht um meine Stellung kommen!«

»So bringen mir Euer Hochwohlgeboren mein Frühstück!«

»Sehr wohl, Herr Professor!«

Auf dem Gange traf Lorenz einen Homunkuliden. Er ging mit ihm zur Küche. Dort hantierte ein behäbiger Koch in blütenweißer Leinentracht, das traditionelle weiße Barett auf dem Kopfe.

»Das Frühstück für den Herrn Professor!« rief Lorenz. Im Namen seines Herrn strenge zu befehlen, hatte ihm noch immer Freude gemacht.

»Ist bereits fertig«, sagte der Koch und wies in den Nebenraum.

Auf einer langen Tafel in der Mitte lag ein kostbares Servierbrett. Ein Homunkulide stellte eben die Teekanne darauf. Lorenz musterte gewissenhaft all die Nahrungsmittel, die man für den Professor zusammengestellt hatte. Der Schinken und die Butter waren von unübertrefflicher Qualität. Der Koch kam herein und bot Lorenz Kostproben an. Er versuchte – und die Versuche fielen glänzend aus. Der Tee verbreitete einen entzückenden, belebenden Wohlgeruch. An Stelle des Kognaks stellte der Homunkulide eine feingeschliffene Flasche jener herrlichen Essenz hin, die Lorenz bereits kennen und lieben gelernt hatte. Er war so gerührt, daß er gnädigst erlaubte, daß ein Homunkulide das Teebrett in das Zimmer des Professors trage. Er ging natürlich mit. Der Professor lud Lorenz ein, am Frühstück teilzunehmen.

»Für den Herrn ist bereits auf seinem Zimmer serviert«, sagte der Homunkulide.

»Es ist schrecklich, wie ich in den zweitausend Jahren avanciert bin«, sagte Lorenz, »was ich nur alles erschlafen habe!«

»Wenn Sie Ihr Frühstück zu sich genommen haben, kommen Sie zu mir!«

»Sehr wohl, Herr Professor!« Lorenz ging und gab sich in seinem Zimmer mit vielem Vergnügen den Freuden des reichbesetzten Frühstückstisches hin. Als eben ein Homunkulide den Tisch abräumte, trat ein zweiter herein und überreichte Lorenz die Zeitung.

»Ah, bravo!« sagte Lorenz. »So lob' ich's mir. Das heiß' ich eine Bedienung!«

Er fing sofort an, das Blatt zu durchfliegen. Der Leitartikel und das Feuilleton hatten ihn niemals besonders gefesselt, er suchte sofort den lokalen Teil auf. Er fand einen einzigen Artikel, der ihn interessierte. Er berichtete über den Besuch des Professors Doktor Voraus und seines Kammerdieners im alten Pavillon sehr eingehend.

»Ist das alles, was sie über uns zu sagen haben?« brummte er vor sich hin. Eine Unzahl von Nachrichten über Erdbeben, Meeresstürme aus allen Teilen der Welt, aber nur das nicht, was er so dringend suchte, kein Raubmord, kein Liebesdrama, keine Verhaftungen, keine Hinrichtungen! Die Rubrik Gerichtssaal fehlte gänzlich.

»Ist das Ihre beste Zeitung?« fragte Lorenz den Homunkuliden.

»Zum mindesten unser jüngstes Blatt, wie Sie sehen, sogar die erste Nummer einer neuerscheinenden Zeitung. Die einzige Zeitung, die in deutscher Sprache erscheint«, sagte der Homunkulide, »aber sie enthält so ziemlich alles, was sonst unsere Zeitungen enthalten!«

»Ja, berichten Ihre Zeitungen nicht über Raubmorde, Diebstähle, Schwindeleien und Betrügereien...?« fragte Lorenz.

Der Homunkulide zuckte die Achseln. »Nein, denn das gibt's ja nicht bei uns...«

»Und Liebesdramen!« Da besann sich Lorenz – »Ja, richtig, da gibt's ja auch gar keine Weiber! – Aber Gerichte, die muß es doch geben«, setzte er fort, »man wird doch hierzulande Gerichte haben!«

Der Homunkulide bekannte, von einer solchen Institution niemals etwas gehört zu haben, und behauptete zum größten Erstaunen Lorenz', daß es im ganzen Riesenreiche der Homunkuliden keine Gerichte gebe. Er mutmaßte, daß dies wahrscheinlich mit dem Mangel an Verbrechen zusammenhänge.

»Ja, zum Kuckuck«, brauste Lorenz auf, »man wird doch hin und wieder die Ehre von jemandem beleidigen.«

Der Homunkulide schüttelte den Kopf.

»Ich habe noch niemals Ähnliches gehört«, sagte er.

»Oder einer bleibt dem anderen etwas schuldig und will es partout nicht bezahlen?« forschte Lorenz weiter.

Der Homunkulide bat Lorenz, sich etwas genauer auszudrücken. Er schien für derartige Verhältnisse nicht das mindeste Verständnis zu haben.

Lorenz versuchte es, dem unverständigen Homunkuliden die Sache begreiflich zu machen.

»Wenn sich einer von einem anderen fünf Kronen ausleiht und gibt sie nicht zurück, wo geht denn der Mann hin, daß er sie wieder kriegt?«

»Das ist nicht möglich, daß sich jemand etwas ausleiht; Geld gibt es nicht, was einer braucht, hat er.«

»Das ist eine lustige Welt!« sagte Lorenz. »Da gibt es keine Richter, keine Advokaten, keine Gerichte und keine Gefängnisse.«

»Und keine Armenhäuser«, sagte der Homunkulide.

Auch dem Herrn Professor war unterdes die Zeitung auf den Tisch gelegt worden. Plato hatte sie selbst gebracht.

»Ah, das ist schön«, sagte der Professor, »eine Zeitung!«

»Und ein ganz neues Blatt dazu, dessen erste Nummer erst heute erschienen ist«, sagte freundlich Plato, »ein Blatt in Ihrer Sprache, einzig für Sie und Ihre Umgebung gedruckt!«

»Nein, nein, das ist zu viel, so kostspielige Rücksichten dürfen Sie nicht üben«, wehrte der Professor ab.

»Die Homunkuliden dürfen sich das erlauben, ihnen stehen ja die Hilfsmittel einer ganzen Welt zu Gebote«, erklärte Plato.

Der Herr Professor hatte sich bereits in das Blatt vertieft und las den ersten Leitartikel, der das große Ereignis des gestrigen Tages, das Erwachen des Professors aus dem zweitausendjährigen Schlafe, würdigte.

Der Professor nickte zustimmend zu seiner Lektüre.

»Sehr schmeichelhaft, das ist zu viel, sehr ehrenvoll.« Er legte das Blatt auf den Tisch. »Die Homunkuliden feiern mich wie einen Halbgott«, sagte er, »das ist viel zu viel Ehre wegen eines solch einfachen Experiments!«

»Dieses Thema behandeln heute sämtliche Blätter unseres Reiches, es ist ja doch seit langen Jahren das größte Ereignis!«

Auch der Herr Professor sprach seine Verwunderung über dieses Erzeugnis der Homunkuliden aus; der Mangel an Inseraten führte zu eingehenden Betrachtungen der sozialen Verhältnisse des Homunkulidenstaates.

»Ihre Kaufleute inserieren gar nicht, ebensowenig Ihre Fabrikanten und Gewerbetreibenden?« fragte erstaunt der Professor.

»Das haben sie nicht notwendig, es gibt ja keinen Privatbetrieb mehr, alles ist in den Betrieb des Staates übergegangen. Zu Ihrer Zeit, Herr Professor, gab es schon verschiedene Staatsmonopole – wenn ich nicht irre, Tabak, Salz und noch anderes. Hat jemals der Staat seine Tabaksorten, seine Zigarren, sein Salz in dem Inseratenteil Ihrer Blätter angepriesen? Nein, weil er keine Konkurrenz zu befürchten hatte! Und des Erwerbes wegen schafft heute niemand, ein Vermögen aufzuspeichern, trägt niemand Verlangen. Für wen sollte er das tun? Der Staat erwirbt für sich, und da die ganze Erde einen Riesenstaat bildet, so hat sich auch der Wettbewerb der Staaten untereinander aufgehört!«

»Es ist alles so ganz anders, als es einst zu meiner Zeit war«, sagte der Professor, »und ich bin sehr neugierig, die Homunkuliden in ihren Behausungen und bei ihren Beschäftigungen kennenzulernen.«

»Wenn Herr Professor wünschen, so können Sie noch heute vormittags Ihre Studien beginnen; wir werden das Zentrum der Stadt aufsuchen und Sie haben Gelegenheit, Wohnhäuser und Werkstätten zu sehen, die Ihnen manche Überraschung bereiten werden!«

Der Professor erklärte sich zu dieser Spazierfahrt bereit. Aber eine andere Merkwürdigkeit, die der Zeitung eigen war, erregte eine lebhafte Auseinandersetzung. Der gleiche Mangel des Journals, der schon bei Lorenz so großes Befremden hervorgerufen hatte, verursachte auch dem Herrn Professor berechtigte Bedenken.

»Über Gerichtsverhandlungen und so weiter zu berichten, ist bei Ihnen nicht üblich, wie ich bemerke; zum mindesten enthält diese Zeitung nicht eine einzige Nachricht darüber?«

»Bei uns gibt es keine Verbrecher«, antwortete Plato. »Es kommen wohl Fälle vor, daß sich bei einem Homunkuliden Störungen zeigen, die man früher als Vergehen oder Verbrechen zur Ahndung den Gerichten angezeigt hätte; derartige Dinge werden jetzt bei uns anders behandelt. Wir übergeben solche Leute nicht der Polizei und den Gerichten, sondern Ärzten und den Spitälern!«

»In manchen Fällen, besonders bei hochgestellten Personen, war das auch schon zu meiner Zeit üblich!« warf der Professor ein.

»Ein solches Individuum kommt zumeist in die Fabrik zurück, aus der es hervorgegangen ist. Dort wird es genau untersucht, besonders werden sein Gehirn und sein ganzes Nervensystem genauestens studiert. Zum Zwecke der Untersuchung wird das Exemplar in den magnetischen Schlaf versenkt. Ist der entdeckte Konstruktionsfehler reparabel, so wird er in kürzester Zeit behoben – wir kurieren wohl unsere Verbrecher, aber wir bestrafen sie nicht!«

»Wenn aber der Fehler sich als irreparabel erweist?« fragte der Professor.

»Dann wird das Exemplar vernichtet«, sagte ganz ruhig Plato.

»Also hingerichtet!«

»Nein! Ein solches Exemplar liegt während der Untersuchung im tiefsten Schlafe; es fühlt nicht einen einzigen Handgriff des untersuchenden Arztes. Stellt es sich heraus, daß der Fehler seines Organismus nicht behoben werden kann, dann wird das Exemplar nicht mehr wieder aus dem Schlaf erweckt. Durch ein sehr einfaches Mittel, das man dem Kranken einflößt, wird sein Schlafzustand, für ihn unfühlbar und unbewußt, in den Zustand des Todes hinübergeleitet!«

»Und kommen derartige Fälle häufig vor?« fragte der Professor.

»Jetzt nicht mehr. Die Herstellung der Homunkuliden hat sich derart vervollkommnet, daß höchst selten ein fehlerhaftes Exemplar die Fabrik verläßt!«

Der Herr Professor erinnerte sich, daß man schon zu seiner Zeit bestrebt war, für jedes Verbrechen eine pathologische Ursache zu finden. Nur wurde damals die Sache etwas einseitig betrieben; wenn ein armer Teufel aus Hunger einen Laib Brot stahl, nahm man meistens Verderbtheit des Charakters als Grund an, wenn Gräfinnen in Modewarenhäusern, ohne die Verkäufer aufmerksam zu machen, teure Seidenbänder und Spitzen einsteckten, so nahm man das für eine Folge eines psychischen Defekts, der Kleptomanie genannt wurde. Der Herr Professor überlegte, wie viele solche Kranke seinerzeit ungerecht in den Gefängnissen schmachteten und wie viele Verbrechen verhindert worden wären, wenn man den Verbrechern rechtzeitig den Magen gefüllt hätte.

»Auch sogenannte politische Artikel fehlen gänzlich«, sagte er dann.

»Aus dem sehr einfachen Grunde, weil der Stoff dazu gänzlich mangelt. Es gibt keine verschiedenen Völker, es gibt nur Homunkuliden.«

»Und haben die Homunkuliden auch gar nichts von dem, was man zu unserer Zeit Religion hieß?«

Plato sah dem Professor erst lange ins Gesicht.

»Was zu Ihrer Zeit, Herr Professor, Religion hieß, das haben wir längst nicht mehr«, sagte er dann.

»Sagen Sie mir, Freund Plato, wie wirkt der Gedanke an den Tod auf die Homunkuliden?« fragte der Professor. »Denn je schrecklicher einem das Ende des Seins, das Sterben erscheint, desto inbrünstiger klammert man sich an das Ewige...«

»Für die Homunkuliden hat der Tod seine Schauer verloren. Wir kennen keine schmerzhaften, qualvollen Krankheiten. Wie ich Ihnen schon erzählte, werden jene Individuen, die irreparable Fehler aufweisen, auf einfache Weise vernichtet, sie können dem Staate nichts nützen und ihr Leben wird ihnen selbst nur zur Qual. Bei uns ist es verboten, jemanden mit unnützen Operationen in den Tod hinüberzuquälen. Wir Homunkuliden sind in der Weise menschlicher, als die Menschen es waren. Und an dem Sterbebette eines Homunkuliden trauert keine Gattin, weinen keine unversorgten Kinder...«

»Auch keine Freunde?« warf der Professor ein.

Plato zuckte die Achseln.

»Freunde in Ihrem Sinne, Herr Professor, auch nicht. Wir sind in mancher Beziehung reicher, vielleicht in manch anderer wieder ärmer geworden... Auch der Gedanke an das Leben nach dem Tode bewegt nicht unsere Seele. Wir begnügen uns mit der Erkenntnis, daß die Kräfte, die in unserem Körper tätig und lebendig waren, daß die Stoffe, aus denen er aufgebaut ist, ewig sind.«

»Sie sind Pantheisten?« fragte der Professor.

»Ja, man kann es beinahe so nennen. Unser Gott ist die Natur. Hat doch die Erforschung des Wesens dieser Gottheit der Menschheit so unendlichen Segen gebracht! – Doch, Herr Professor, wäre es Ihnen nicht angenehm, die Fahrt in die Stadt zu unternehmen? Wir könnten einige Behausungen der Homunkuliden besuchen, die Ihnen manches aufklären werden!«

Auch Lorenz ward zu dieser Spazierfahrt eingeladen. Als er, nach den Befehlen seines Herrn sich erkundigend, das Zimmer betrat, zeigte er ein höchst vergnügtes Gesicht. Er hatte seinem Homunkuliden einen Vortrag über die Zeitungen seiner Zeit gehalten und ihm erzählt, was die Blätter damals alles enthalten hatten. Dieser Vortrag hatte das größte Erstaunen dieses »Automaten«, wie Lorenz konsequent die Bewohner dieses Reiches nannte, hervorgerufen.

»Sie sind aber gut gelaunt, Lorenz«, begrüßte ihn der Professor, »Sie scheinen sich hier sehr wohl zu befinden!«

»Es geht an«, erwiderte Lorenz, »man muß sich aber in diese Leute hineingewöhnen, mein Automat...«

Da traf ihn ein strafender Blick des Professors.

»Lorenz!«

»Sehr wohl, Herr Professor, aber...«

»Machen Sie sich bereit! Wir unternehmen einen Ausflug in die Stadt«, schnitt der Professor die Erwiderung des Dieners ab.

Eine Viertelstunde später bestiegen die Herren wieder den großen Kraftwagen, den sie schon gestern benützt hatten. Diesmal fuhr der Wagen in die entgegengesetzte Richtung und bog nach kurzer Fahrt in eine breite, prächtige Straße ein.

»Ich werde Herrn Professor vor allem ein Wohnhaus der Homunkuliden zeigen«, sagte Plato, »und Sie zu einigen Kollegen führen. Leider wird sich die Unterhaltung sehr schwierig gestalten, da die Herren der deutschen Sprache nicht mächtig sind, ich werde als Dolmetsch fungieren!«

»Ich habe aber bis jetzt nur Deutsch gehört«, sagte der Professor. »Sie selbst, Freund Plato, Archimedes, die Herren, die uns bedienen, selbst der Wagenlenker, sprechen Deutsch – und gerade meine Kollegen...«

»Ja, verehrter Herr Professor, die Sache ist die, daß wir alle um Ihretwillen Deutsch lernten, damit Sie gleich beim Erwachen Leute finden, mit denen Sie sich verständigen können.«

»Die Rücksicht, die Ihre Regierung gegen mich übt, ist so großartig, daß mir die Worte fehlen, um Ihnen darüber meine Freude auszudrücken. Ich werde mich revanchieren und hoffe, mit Ihnen binnen weniger Monate in Ihrer Sprache verkehren zu können.«

Plato teilte während der Fahrt mit, daß die Hauptelemente aus der Homunkulidensprache japanischen Ursprunges seien und die beiden Herren ihre Sprache weit leichter und schneller erlernen dürften, als Plato, Archimedes und die anderen Homunkuliden, die man ihnen zuteilte, seinerzeit die deutsche Sprache erlernten. Die Grammatik der Homunkulidensprache sei das Einfachste, was es überhaupt auf diesem Gebiet gebe, und werde in ihrer Schlichtheit überhaupt nur von der Orthographie der Homunkuliden übertroffen, deren Grundprinzip darin bestehe, in einem geschriebenen Worte ja um keinen Buchstaben mehr oder weniger anzubringen, als das gesprochene Wort Laute habe. Der Professor sprach sein Bedauern darüber aus, seine Jugend nicht unter den Homunkuliden verlebt zu haben. Wie viele Stunden der Jugendzeit habe er opfern müssen, um seine Sprache genau so zu schreiben, wie es seinerzeit verlangt wurde!

Der Wagen hielt vor einem großen Hause. Die Herren stiegen aus, Plato übernahm die Führung.

»Dies ist die Wohnung mehrerer Gelehrten, wie Sie die Herren zu Ihrer Zeit genannt hätten.«

»Auf diese Art von Automaten bin ich sehr neugierig«, bemerkte Lorenz.

»Seien Sie doch ruhig!« wies ihn der Professor zurecht. Durch einen langen und sehr breiten, mit Marmortäfelungen versehenen Flur kam man in einen großen, einem Wintergarten ähnlichen Raum, in dessen Mitte aus einem Marmorbassin ein Springbrunnen seinen glitzernden Strahl zur Höhe sendete. Das Glasdach war zurückgeschlagen, der helle Sonnenschein erglänzte auf den Fenstern des zweiten Stockwerkes, an den Marmortischen in dem zweiten Raum saßen einzelne Herren mit außerordentlich dicken, großen Köpfen, die unablässig, ohne die Eintretenden zu beachten, an ihren Manuskripten arbeiteten, bald in einem der Foliobände nachsahen, die sie auf Sesseln, auf ihrem Tische aufgestapelt hatten.

»Wer sind die Herren?« fragte flüsternd der Professor.

»Gelehrte, und zwar Mathematiker«, antwortete Plato.

»Was die für dicke Köpfe haben!« sagte bewundernd Lorenz.

Der Professor mußte trotz seines Ärgers über den unpassenden Ausdruck seines Dieners lächeln. Die Schädelhöhle all dieser Herren war übermäßig entwickelt, sodaß unter der ungeheuren, weit vorspringenden Stirn Nase, Augen und Mund fast verkümmert aussahen.

»Das sind nette Scheusäler!« sagte Lorenz.

»Lorenz, wenn Sie nicht bald den Mund halten, so schicke ich Sie nach Hause«, verwies erzürnt der Professor.

»Sehr wohl, Herr Professor!«

Aber Plato hatte schon gehört, was Lorenz sagte. Er zeigte sich gar nicht indigniert.

»Diese Individuen haben ihr Aussehen, das Ihnen so mißfällt, dem Umstande zu verdanken, daß ihnen während ihres Embryonalzustandes mehr Gehirnsubstanz solcher Art zugeführt wurde, die eben die Befähigung zum mathematischen Denken hervorruft. Sie haben auch nur Sinn für die Lösung mathematischer Aufgaben. Herr Professor werden staunen, welche Probleme diese Individuen lösen, die in einem Alter von zwölf bis vierzehn Jahren die Integral- und Diffenteriallehre in einer Weise handhaben, wie Ihre Altersgenossen zu Ihrer Zeit nicht einmal das Einmaleins!«

Plato führte den Professor zu einem solchen dickköpfigen Herrn hin und stellte ihn vor. Mühsam erhob sich der mathematische Homunkulide von seinem Stuhl. Nun konnte der Professor erkennen, wie schwach der Körper dieses Homunkuliden entwickelt war. Fast kein Bauch, die Brust so schmäl, die dünnen, o-förmigen Beinchen sahen aus, als ob sie jetzt und jetzt von der Last des übergroßen Kopfes zusammengedrückt werden müßten.

Zerstreut hörte der Großkopf die Vorstellung an. Ohne aber den interessanten Gast aus dem fernen Nebellande der Vergangenheit gebührend zu begrüßen, fing er sofort wieder an, seine neugefundenen Weisheiten auszukramen.

»Ich bin fertig. Der Beweis ist vollkommen geschlossen. Die Atome einfacher Körper und die der Verbindungen bewegen sich umeinander nach denselben Gesetzen wie die Gestirne!«

»Sehr hübsch«, sagte Lorenz.

»Je komplizierter eine Verbindung, desto komplizierter sind die Bahnen ihrer Atome. Heute habe ich die Atombahn der fünfzigsten chemischen Verbindung berechnet. Morgen werde ich damit beginnen, die Atombahnen der Eiweißverbindungen aufzusuchen. Man kann die Atome des Kohlenstoffes gewissermaßen mit Sonnen vergleichen...«

»Zu Ihrer Zeit, mein Herr, hat einer zuerst auf diese Analogie in seiner kleinen Schrift ›über Sternenbahnen und Kurven mit mehreren Brennpunkten‹ hingewiesen – es ist ein gewisser Doktor Malina, ein Deutscher, der seinerzeit diese Entdeckung machte – hier ist diese Schrift...«

Er legte ein dünnes Heft vor dem Professor auf den Tisch; es war mit Antiquaschrift gedruckt, aber in fremder Sprache.

»Die Schrift, die zu unserer Zeit üblich war, hat man doch beibehalten«, sagte erfreut der Professor.

»Die ist jetzt auf der ganzen Welt in Gebrauch und hat die anderen Schriftsysteme alle verdrängt. Von den Völkern des Orients waren es wieder die Japaner, die zuerst auf ihre ungeschickte nationale Schrift verzichteten.«

Unterdes hatte der Homunkulide schon wieder mit seinen Studien begonnen. Unbekümmert um die Anwesenden blätterte er in seinen Folianten und schrieb geheimnisvolle mathematische Zeichen auf die Papierblätter auf dem Tisch. Er schien für nichts anderes Sinn zu haben als für seine Forschungen. Wenn er nicht eben seine tiefen Kenntnisse über das Leben der Atome zum besten gegeben hätte, würde ihn vielleicht der Professor für einen kindischen Idioten gehalten haben.

Die anderen Herren an den Tischen ringsum waren in ihrer äußeren Erscheinung dem häßlichen Gelehrten vollkommen gleich und bezeigten denselben unstillbaren Eifer für ihre Wissenschaft.

»Befinden sich auch die Wohnungen der Herren in diesem Gebäude?« fragte der Professor.

»Jawohl«, antwortete Plato, »ich bitte, mir zu folgen!«

Der Professor grüßte die ruhelosen Gelehrten, aber keiner von ihnen sah auf, keiner erwiderte den Gruß.

»Also das sind lebendige Rechenmaschinen«, sagte Lorenz, »und zu was anderem sind die nicht zu gebrauchen. Wenn einer von den Herren Kopfweh hat, das muß ausgeben!« setzte er noch bewundernd hinzu.

Die Wohnungen der Herren waren mit einfacher Eleganz eingerichtet. Jede bestand aus zwei großen Zimmern, einem Schlaf- und einem Arbeitszimmer, und zeigte alle jene hervorragenden Bequemlichkeiten, die Homunkulidenwohnungen eigen sind. Nirgends fehlte der Sauerstoffapparat und die Deckenbeleuchtung.

»Die Wohnungen sind in ihrer Einfachheit die richtigen Gelehrtenstuben.«

»Herr Professor, jeder Homunkulide wohnt so.« Das ganze riesige Gebäude glich einem Kloster mit vollständig gleichmäßig eingerichteten Wohnräumen. Alle Gelasse waren hell und luftig, und von den Fenstern konnte man teils in schöne Gärten, teils auf die Straße hinaussehen. In manchem Arbeitszimmer saß der großköpfige Insasse am Schreibtisch. Dann entschuldigte sich Plato, zerstreut hörte der Homunkulide die höflichen Worte an und schien immer sichtlich erfreut zu sein, wenn sich die Kommission wieder entfernte.

»Hier versammeln sich die Herren bei schlechter Witterung und im Winter in ihren arbeitsfreien Stunden«, sagte Plato und führte die Kommission in einen großen Saal. Dieselbe einfache, schöne und elegante Einrichtung, längs der Wände mit grünem Leder überzogene Bänke, schöne Sessel und Fauteuils, in der Mitte ein riesiger Schrank, in dessen Fächern Bücher und Zeitungen in Masse aufgestapelt waren. »Hier ist gewissermaßen der Unterhaltungsraum, hier versammeln sich die Herren, um miteinander zu plaudern, zu spielen und die Zeitungen zu lesen«, erklärte Plato.

»Na, das gefällt mir wieder«, sagte Lorenz, »ich hab' schon geglaubt, die Automaten leben alle wie die Murmeltiere und vergraben sich in ihren Büchern und Schriften.«

Dann ward auch der große Speisesaal besichtigt, wo die Homunkuliden zu den Mahlzeiten zusammenzukommen pflegten.

»Die Herren speisen gemeinsam«, erklärte Plato, »aber die Unterhaltung während der Mahlzeiten ist gewöhnlich in diesem Saale eine sehr mäßige, da die gelehrten Herren sogar während des Mittagmahles den großen Problemen ihrer Wissenschaft nachhängen, und der Speisemeister muß leider zu oft die Herren erinnern, ihren leiblichen Pflichten zu genügen.«

»Welcher Art ist das Bedienungspersonal in diesem Gebäude?« fragte der Professor.

»Da sind vor allem Leute, deren Aufgabe es ist, die Wohnungen in Ordnung zu halten. Jeden Morgen wird mit Hilfe sinnreich erdachter Staubsaugemaschinen jeder Raum von dem für Organismen so verderblichen Staube befreit. Denn es ist immer unser angelegentlichstes Bestreben, jede Art von Arbeit von allen schädlichen Einflüssen auf den Organismus der Arbeiter zu befreien. Zu Ihrer Zeit, Herr Professor«, sagte Plato, »war kein Salon, auch nicht der des reichsten Mannes, so hygienisch eingerichtet, wie es bei uns jede Werkstätte ist. Denn den größten Schatz des Staates bilden die, die ihn bewohnen, deren gemeinsames Zusammenwirken ihn aufgebaut hat und erhält. Diesen Schatz sorgsam zu hüten und zu pflegen, muß die wichtigste Aufgabe des Staates sein. Zu Ihrer Zeit bauten den Staat nicht Menschen auf, nein, Völker, Stände, Parteien, und wie Sie das alles geheißen haben, und nur zu oft kam der Staat in die unangenehme Lage, statt, wie es seine natürlichste Aufgabe gewesen wäre, für die Menschen, aus denen er besteht, zu sorgen, für das besondere Wohl und Wehe einzelner Parteien und Völker, einzelner Stände einzutreten. Das war ein ungesunder Zustand, der erst weichen konnte, als alle diese Unterschiede im Staate verschwanden!«

Plato erkundigte sich, ob die Herren nicht geneigt wären, ein kleines Frühstück einzunehmen.

»Das Essen hat mir da noch immer am besten gefallen«, sagte Lorenz, »das ist noch die menschlichste Einrichtung in diesem Lande.«

Plato führte sie in den Garten hinaus. Unter einer mächtigen Linde nahmen die Herren an einem Marmortisch Platz. In wenigen Minuten war der Tisch gedeckt und zwei Homunkuliden servierten, daß es die hellste Bewunderung Lorenz' erweckte. Die Speisen waren vortrefflich, Lorenz zeigte einen Appetit, der deutlich bewies, daß seine Magennerven durch den Ärger über manche Einrichtungen der Homunkuliden noch keinerlei Schädigungen erfahren hatten. Besonders erfreut war er, als der Homunkulide wieder die Karaffe mit dem herrlichen Zaubertrank auf den Tisch stellte.

»Das Rezept von dem Schnaps möcht' ich kennen«, sagte er vergnügt, als er das erste Glas hinter die Binde gegossen hatte. »Herr Professor haben nie einen so guten Kognak gehabt wie dieser Nußbranntwein!«

»Und er hat vor Ihrem Kognak noch einen besonderen Vorteil voraus«, sagte Plato, »er enthält keine Spur von Alkohol, er wirkt daher weder für die Leber noch für den Magen oder das Gehirn schädlich.«

»Das ist viel wert«, sagte Lorenz, »denn wenn er so wirken möcht', so müßten Sie sich doch eine Polizei und einen Arrest anschaffen. Ich erinnere mich noch ganz gut, wie sie mich – zu meiner Zeit natürlich – wegen einer Keilerei in einem Wirtshaus achtundvierzig Stunden einsperrten.«

»Das war ganz gut«, sagte der Professor, »denn wenn man da nicht streng genug vorgegangen wäre, Mord und Totschlag wären sonst an der Tagesordnung gewesen!«

»Und es war doch nicht gut«, sagte sanft der Homunkulide, »nein, es war ungerecht, kindisch-boshaft von Ihrem Staate. Er bezog ungeheure Revenuen aus dem Verkauf dieses Giftes und strafte dann die, die durch den Genuß erkrankten.«

»Sagen Sie mir nur noch eines, verehrter Freund Plato«, begann der Professor, »beziehen die Herren hier Gehälter, die sie nach ihrem Gutdünken verwenden können, werden sie auf Staatskosten erhalten, wie einst verdiente Bürger Griechenlands im Prytaneion?«

»Das alles nicht, verehrter Herr Professor«, erwiderte Plato, »bei uns gibt es keine Gehälter, kein Prytaneion, überhaupt keinerlei Entlohnung für die geleistete Arbeit. Jeder arbeitet, weil er sich als Diener des Staates fühlt.«

»Das ist ja der reine Bienen- oder Ameisenstaat«, rief erregt der Professor aus.

»In mancher Beziehung haben Sie ja recht«, sagte Plato. »Vielleicht hat uns die Natur in dem Zusammenleben dieser Tiere die beste Form des Staates vorgezeichnet. Halb unbewußt haben wir schließlich am Ende einer jahrtausendelangen Entwicklung erreicht, was instinktiv diesen Tieren vielleicht vor Beginn der Entwicklung des Menschengeschlechtes schon zu eigen war!«

»Verehrter Freund Plato«, setzte der Professor fort, »Sie haben mir noch immer nicht gesagt, wie alle diese Männer hier ihren Lebensunterhalt bestreiten. Wer sorgt für ihre Mahlzeiten, für Ihre Bekleidung, wer bezahlt die Dienerschaft, die so hilfsbereit für ihre Bequemlichkeit sorgt?«

»Diese Frage in Ihrem Sinne zu beantworten, fällt mir schwer, weil uns der Begriff des kaufmännischen Verkehres so gänzlich fehlt. Was die Herren hier an Nahrungsmitteln brauchen, liefern in ausreichend genügendem Maße die Magazine des Staates. Alltäglich fährt ein Wagen, vollbeladen mit Lebensmitteln, vor dem Wirtschaftsgebäude vor. Dieser Wagen enthält bis ins kleinste Detail alles, was an einem Tage in diesem Hause von seinen Bewohnern verzehrt werden kann. Derselbe Vorgang wiederholt sich in der gleichen Weise bei allen Wohnhäusern des Reiches. Ob der Tisch in zureichender Weise gedeckt sei, darüber braucht sich kein Homunkulide den Kopf zerbrechen. Das ist Pflicht des Staates, dessen unerschöpfliche Hilfsmittel jedem Staatsbürger in gleichem Maße zugute kommen!«

»Das ist recht hübsch, aber da geht es den Faulenzern bei Ihnen gerade so gut wie den Fleißigen. Für die Gleichheit tät' ich mich bedanken«, sagte Lorenz.

»Herr Lorenz, Sie werden erkennen lernen, daß es in unserem Staate keinen Faulenzer gibt. Jeder Automat, wie Sie uns zu benennen lieben, erfüllt hier automatisch seine Pflicht, und keinem fällt es bei, etwas Großes getan zu haben, wenn er nach dem ihm angepaßten Maße seine Pflicht erfüllt hat!« erwiderte Plato.

»Und wenn er vierzig Jahre aus den Kleidern den Staub ausgesaugt hat, bekommt er da nicht eine Medaille oder sonst was zum Anhängen, was ihn vor den anderen Homunkuliden auszeichnet?« fragte Lorenz unerschütterlich weiter.

»Nein, die Erfüllung seiner Pflicht verdient nach unserem Denken keinen besonderen Dank.«

»Und wieviel Arbeitsstunden täglich hat ein Homunkulide?« fragte der Professor.

»Sechs Tage zu je vier Arbeitsstunden, der siebente Tag ist frei!« antwortete Plato.

»Und ist es möglich, bei dieser geringen Arbeitszeit alle Arbeiten im Staat durchzuführen, entsteht nicht in verschiedenen Betrieben öfter eine Stockung?« erkundigte sich der Professor weiter. »Mir ahnt, daß alle Tätigkeit in Ihrem Staat der Arbeit eines Uhrwerks gleicht, und ich hege die Befürchtung, daß, wenn nur ein Rädchen stockt, das ganze Werk in Gefahr kommt, stillzustehen!«

»Unsere Maschinen und die Macht, uns Arbeitskräfte ganz nach Bedarf zu schaffen, schützen uns vor jeder solchen Zufälligkeit. Mit Ihrem Vergleich, unser Staat sei ein höchst komplizierter Mechanismus, haben Sie so ziemlich das Richtige getroffen. In Übereinstimmung damit steht auch der Umstand, daß die Bevölkerungsziffer des Staates Jahr für Jahr konstant bleibt. Aus unseren Etablissements gehen jährlich nur so viele Homunkuliden hervor, als notwendig sind, den Abgang zu decken. Eine Überbevölkerung des Staates und die damit verbundenen schrecklichen Folgen sind ausgeschlossen!«

»Das hat es bei uns auch schon gegeben«, sagte Lorenz erfreut, »die reichen Leute haben es sich immer so eingeteilt, daß sie nicht zu viel Kinder bekamen. Nur die armen Leute haben immer zu viel Kinder bekommen, was für sie und die Kinder ein großes Unglück war!«

Plato lächelte. »So ganz dasselbe ist es doch nicht. Heute ist die Korrektur der Bevölkerungsziffer nicht mehr die Sache des einzelnen, sondern eine Angelegenheit des Staates.«

»Und wie steht es mit der Altersversorgung in Ihrem Staate?« fragte hierauf der Professor.

»Da muß ich Ihnen erst den Lebenslauf eines Homunkuliden schildern«, sagte Plato.

Die Herren setzten sich erwartungsvoll zurecht.

»Mit acht Jahren, also acht Jahre, nachdem der kleine Homunkulide die Retorte verlassen hat, in der er seine Entwicklung durchgemacht hat, kommt er in die Schule. Dort bereitet er sich zwölf Jahre lang auf den ihm schon vor seiner Entstehung zugewiesenen Beruf vor!«

»Also schon während des Embryonalzustandes wird ihm der Beruf zugewiesen? Ja, wie ist das möglich?« fragte erregt der Professor.

»Daß Ihnen das unmöglich erscheint, Herr Professor, wundert mich sehr, auch zu Ihrer Zeit ist ja Derartiges vorgekommen!«

»Das will ich meinen«, sagte Lorenz, »so gescheit wie die Homunkuliden waren wir auch schon. Ich erinnere mich noch ganz gut, wie es in der Zeitung gestanden ist, daß unsere Königin heut oder morgen entbinden wird, und als dann hunderteinmal mit den Kanonen geschossen wurde, so wußten wir, daß unsere Königin einen Kronprinzen zur Welt gebracht hat. Und so war dem Embryo schon bestimmt, was es werden muß, und das ist ja ganz so wie bei den Homunkuliden. Die fabrizieren sich so viel Schneider, Schuster, Tischler, Maurer oder Schmiede, Beamte, Lehrer, Soldaten, und was man halt alles in so einem Staate hat, als sie eben brauchen. Die werden schon sorgen, daß aus der Retorte, wo die Könige herauskommen sollen, keine Hausknechte herauskommen!«

»Sie haben eine höchst populäre Art der Darstellung«, sagte lachend der Professor.

»So meinte ich es gerade nicht«, sagte Plato, »es gibt ja doch Berufe, die große körperliche Kraft und Ausdauer erfordern, andere, die ein scharfes Denken, wieder andere, die sehr geschärfte Sinne bedingen. Wir nehmen bei der Entwicklung der Individuen darauf Bedacht, daß jene besonderen Fähigkeiten schon im Embryo vorbereitet werden.«

»Sie schaffen also künstlich die Veranlagung dazu?« sagte hocherfreut der Professor.

»Sehr richtig, Herr Professor«, antwortete Plato, »wir erleichtern unseren Pädagogen sehr ihr Lebenswerk. Bei uns kommt es nie vor, daß ein junges Menschenleben dadurch verdorben wird, daß man den Knaben durchaus zum Professor prügeln will, obwohl der Unglückliche nicht einmal genügend geistige Fähigkeiten zum Berufe eines Straßenkehrers hat. Manch kostbares Talent wurde zu Ihrer Zeit gehemmt und oft verdorben! In unseren Schulen erhält jeder Homunkulide außer jenem Maß von allgemeiner Bildung, das bei uns jedes Mitglied des Staates besitzen muß, auch noch in den besonderen Fachklassen jene spezielle Bildung, die ihn für seinen Beruf fähig macht, in den er mit seinem zwanzigsten Lebensjahr eingeführt wird. Das erste Drittel seines Lebens dient also der Vorbereitung für seinen Beruf, das zweite Drittel dem Berufe selbst. Mit vierzig Jahren kann er den Beruf verlassen und den Rest seines Lebens in arbeitsloser Ruhe verbringen. Die meisten Homunkuliden setzen aber noch einige Jahre ihre Berufsarbeit fort. Mit fünfundvierzig Jahren muß aber jeder austreten.«

»Und sie werden dann pensioniert?« fragte Lorenz gespannt. Dieses Kapitel interessierte ihn ganz besonders.

»Das nicht. Der Staat sorgt für sie in der gleichen Weise wie früher. Unsere Veteranen der Arbeit haben das Recht, sich frei im ganzen Lande zu bewegen, und da das Reisen bei uns nichts kostet, so benützen diese Herren ihre freie Zeit, die ganze Welt sich anzusehen. Andere haben sich irgendein Steckenpferd gewählt, dem sie sich nun ganz widmen können. Diese Herren bleiben ihrem Berufe treu. Sie lösen bis an ihr Lebensende mathematische Probleme auf und würden sich wahrscheinlich gar nicht glücklich fühlen, wenn man ihnen das verwehren würde!«

»Sagen Sie mir, Freund Plato, dürfen die Veteranen dann dieselben Wohnungen weiter behalten, die sie benützten während der Zeit, da sie ihren Beruf ausübten?«

»Nein, Herr Professor! Im allgemeinen kann sich der Homunkulide wohl dann seine Wohnung, sein eigenes Heim aufschlagen, wo er will; aber in der Nähe der großen industriellen Zentren wohnen nur jene, die noch im Beruf tätig sind, und dies schon aus dem Grunde, damit ihnen die Erreichung ihres Berufsortes nicht allzu schwierig ist. Diese großen Zentralstätten befinden sich zumeist in den Ebenen des Reiches. Die Gebirgsgegenden, überhaupt jene Stätten, die die Natur mit großen landschaftlichen Reizen geschmückt hat, werden gern von den Veteranen aufgesucht, und dort sind auch ausgedehnte Ansiedlungen entstanden. Die Täler der Alpen, Italiens Gefilde, die Ufer der berühmten Seen und so weiter, das sind so ungefähr die Stätten, an denen unsere Veteranen den sorgen- und arbeitslosen Rest ihrer Tage verbringen.«

»Herr Plato, seien Sie mir nicht böse, wenn ich mir wieder eine dumme Frage erlaube!« begann etwas schüchtern Lorenz.

»Fragen Sie nur zu, Herr Lorenz!« munterte ihn Plato auf.

»Kann jeder Homunkulide so eine Villa am Gardasee oder in der Schweiz oder in Oberösterreich aufsuchen?«

»Jeder...«

»Auch – die – die –« Lorenz stockte verlegen; »wie soll ich nur sagen – zum Beispiel die, die den dickköpfigen Herren den Staub aus den Kleidern aussaugen müssen, und mein Automat, der mir heute das Frühstück gebracht hat? Darf der auch in einer Villa in Neapel wohnen und im Winter, wenn er Husten hat, nach Ägypten reisen?«

»Selbstverständlich! Ich wüßte wirklich keinen Grund, warum er es nicht dürfte!«

»Wenn aber dort lauter hohe Herren wohnen, Hofräte, Statthalter, Feldmarschalleutnants und so weiter? Die werden schön dreinschauen, wenn so ein Staubaussauger auch in das Wirtshaus geht, wo die sitzen!«

Plato mußte unwillkürlich lächeln.

»Das ist ungeheuer schmeichelhaft«, sagte Lorenz, »für die Leute, die einmal nur Portiers oder Kammerdiener waren, einstmals mit ihren Herren eine Villa am Gardasee zu bewohnen. Ich freue mich schon sehr darauf – ich bin heute, die zweitausend Jahre, die ich verschlafen habe, abgerechnet, achtunddreißig Jahre alt, und komme in zwei Jahren in Pension. Mir gefällt's hier immer besser!«

»Sie haben unseren Staat sehr zutreffend einen Ameisenstaat genannt. Da leben auch Tausende von Individuen zusammen, die getreu ihre Pflicht, die sie dem großen Gemeinwesen gegenüber haben, erfüllen. Für die Erfüllung ihrer Pflichten entlohnt sie der Staat dadurch, daß er jedem die Mittel zum Leben gewährt, und ich glaube kaum, daß sich im Ameisenstaat Münz- oder Bankgebäude befinden, übrigens hat schon zu Ihrer Zeit der Gebrauch des Geldes immer mehr abgenommen!«

»Wieso?« fragte erstaunt der Professor.

»Ist denn nicht schon zu Ihrer Zeit an Stelle des wirklichen Geldes der sogenannte Scheck getreten? Diese Art des Verkehrs hat sich in einer Weise entwickelt, daß der Umlauf des wirklichen Geldes, von Münzen und Papiergeld, sich stetig verminderte. Mit der Verstaatlichung sämtlicher Geldinstitute hörte schließlich der sogenannte Geldverkehr auf. Sein totales Ende wurde ihm bereitet, als es gelungen war, alle Völker der Erde unter einem einzigen allumfassenden Staatswesen zu vereinigen!«

»Wie macht das einer, wenn er zum Beispiel eine Reise unternehmen will? Da muß er doch eine Masse Kleingeld mitnehmen, schon wegen der Trinkgelder«, fragte der unerschütterliche Lorenz.

»Ich wüßte nicht, wozu er das Trinkgeld brauchte«, sagte Plato, »die Fahrt auf dem Aeronauten oder auf der Eisenbahn kostet ihn nichts...«

»Wenn er aber erster Klasse fahren will?« fragte Lorenz weiter.

»Sie haben doch schon gehört, daß es keine Klassenunterschiede mehr gibt«, meinte indigniert der Professor. »Können Sie sich denn gar nicht ein wenig in diese neue Ordnung der Dinge hineingewöhnen?«

»Ich kann mir das gar nicht vorstellen, wie man ohne Geld leben soll.«

»Mein lieber Lorenz, diese Verhältnisse sind uns beiden so fremd, daß die zwei Tage, die wir hier verleben, nicht genügen, uns in sie hineinzufinden, ich glaube, da werden wohl mehr als zwei Jahre vergehen«, sagte der Professor.

Lorenz war so verwirrt von all dem Gesehenen, daß er bei der Rückfahrt beinahe vor seinem Herrn den Wagen bestiegen hätte.


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