Rudolf Hawel
Im Reiche der Homunkuliden
Rudolf Hawel

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Neben dem Arbeitszimmer war ein hübsches Speisezimmer. Der neue Diener, der bisher noch kein Wort gesprochen hatte, begann sofort den Tisch zu decken, was in Lorenz sehr gemischte Empfindungen erweckte. Er gab ihnen nicht Ausdruck, er wollte zuwarten, bis sein Herr sich hier vollständig zurechtgefunden hätte. Dann aber wollte er mit allem Ernst darauf dringen, daß er wieder in alle bei seinem Herrn innegehabten Würden eingesetzt werde. Indessen betrachtete er mit kritischen Blicken die Tätigkeit des dienenden Homunkuliden, mußte sich aber trotz seines Ärgers gestehen, daß dieser Herr mit der fabriksmäßigen Geburt seine Sache so vorzüglich machte, als wenn er jahrzehntelang Kammerdiener irgendeines hoch fürstlichen Herrn gewesen wäre.

Der Herr Professor sprach die sichere Erwartung aus, daß die Herren seiner Begleitung an dem Frühstück teilnehmen würden. Nummer 751 A 1, der Mentor, nahm mit vieler Wärme an, die Nummern 2, 3 sahen erst mit fragender Miene auf Nummer 1. Als diese erklärte: »Wenn es des Herrn Professors Wunsch ist, dürfen wir nichts dagegen haben«, machten sie eine höchst förmliche Verbeugung und nahmen Platz.

Das Service, das der Diener auf den Tisch stellte, war ungemein kostbar, die Teller wieder aus Gold, die Servietten aus einem ungemein weichen, seidenglänzenden Stoffe, die Griffe der Messer und Gabeln aus Gold, die Schneiden aus kristallisiertem Kohlenstoff. Der Diener brachte auf einer Goldtasse mehrere Stücke Fleisch, die eine beträchtliche Ähnlichkeit mit Kalbsfilet hatten. Schon der dem Tablett entströmende Geruch verriet, daß auch die Küche der Homunkuliden auf der Höhe der Zeit stand. Der Diener reichte herum, zuerst dem Professor, dann Lorenz, der, erst errötend, da er die Reihenfolge nicht für angezeigt erachtete, zurückwies. Der Herr Professor fand dieses Benehmen für selbstverständlich und wollte den Diener anweisen, der Nummer 1 früher zu servieren, aber der Herr erklärte mit großer Lebhaftigkeit, daß das nicht anginge. Der Herr Professor und der Diener seien hochgeehrte Gäste des Staates, und so mußte es Lorenz geschehen lassen, daß ihm vor den anderen Herren serviert wurde. Er bekam in diesem Moment vor sich selbst eine unaussprechliche Hochachtung.

Das Filet schmeckte außerordentlich gut. In herzlicher Weise lobte der Professor die Kochkünste der Homunkuliden. Lorenz gestand sich mit Befriedigung, daß er in diesem Lande die Kochkünste der ungetreuen Wetti niemals vermissen werde.

Die Nummer 1 nahm lächelnd mit einer dankenden Verbeugung die begeisterten Lobsprüche entgegen. Als der Diener abgeräumt hatte, brachte er auf einer schön gravierten Platte eine fein geschliffene Flasche mit einer goldgelben Flüssigkeit, die, wie der Professor sofort bemerkte, ein ungemein starkes Lichtbrechungsvermögen entwickelte, denn die Lichtreflexe auf der polierten Platte zeigten alle Farben des Regenbogens.

»Das ist doch nicht Wein!« rief der Professor aus, als der Diener die Tasse in der Mitte des Tisches niederstellte.

»Nein, Herr Professor«, erklärte Nummer 1, »Wein ist das nicht, aber eine Flüssigkeit, die alle die angenehmen Vorzüge des Weines, respektive des Alkohols besitzt, ohne seine Nachteile. Versuchen Sie getrost, Herr Professor, das ist der richtige Göttertrank, er begeistert, ohne zu schaden. Und wenn die Freude und Begeisterung, die er verleiht, verschwunden ist, dann folgt kein häßlicher,... wie hat man denn das zu Ihrer Zeit nur genannt«, – der Mentor rang vergebens nach einem Worte – »die mit Kopfweh, Übligkeiten und so weiter verbundenen Nachwirkungen der Alkoholvergiftung...?«

»Katzenjammer«, warf der hilfsbereite Lorenz ein.

»Sehr richtig«, sagte erfreut der Herr; »ein Katzenjammer folgt nicht, sondern ein Gefühl behaglicher Ruhe. Versuchen Sie nur, Herr Professor!«

Auf einen Wink schenkte der Diener ein. Ein Strahlenbogen roter, gelber, blauer, grüner und violetter Farben umspielte das Glas.

Der Professor tat einen Schluck.

»Das ist ja ausgezeichnet!« rief er aus. »Das schmeckt ähnlich wie die Medizin, die mir beim Erwachen verabreicht wurde!«

»Die enthält diesen Stoff in konzentrierter Form«, erklärte der Mentor.

Lorenz hatte zuerst nur genippt, dann aber sofort einen tüchtigen Schluck gemacht.

»Herrlich, herrlich... das steht über Tokaier und Rheinwein... bei dem bleiben wir, Herr Professor!«

»Ist das Natur- oder Kunstprodukt?« fragte der Professor.

»Zur Hälfte das eine, zur Hälfte das andere, wie es, mit Ausnahme des Wassers, alle Ihre Getränke waren«, erwiderte der Herr. »Es ist eine Art Alkohol, eine verwandte chemische Verbindung, die aber weder die Nerven noch die Verdauungsorgane schädigt. Herr Professor werden alles erfahren. Die Herren, die Sie im ersten Saale sehen, sind mit mir vom Staate nur dazu bestimmt, Ihnen als Begleitung zu dienen, Sie in die Gesetze des Staates einzuführen!«

Der Professor stand auf und reichte dem Sprecher dankend die Hand.

»Meine verehrten Herren«, begann er, »ich weiß nicht, wie ich Ihnen meinen Dank, nein, meine innigste Freude ausdrücken soll. Und wenn ich durch Ihre mehr als freundschaftliche Güte bei Ihnen vollständig heimisch geworden bin und Ihrer Hilfe, Ihrer Teilnahme nicht mehr so dringend bedarf als jetzt, da ein kühner Entschluß aus einer weltfernen Vergangenheit mich in eine zaubervolle Gegenwart versetzt hat, dann bitte ich, mir Ihre wertvolle Freundschaft auch für die Zukunft zu bewahren. Sie sind im Reiche der Homunkuliden die ersten gewesen, die mir hilfsbereit entgegentraten. Diese ersten Stunden werden mir unvergeßlich sein, bewahren Sie mir, wenn Sie wieder Ihren gewohnten Geschäften nachgehen werden, Ihre mir in ernstester Stunde bewiesene Aufopferungsfähigkeit!«

»Hochverehrter Herr Professor!« begann Nummer 1. »Es ist geradezu unsere Lebenspflicht, Ihnen treu zu bleiben; denn wir alle verdanken unser Dasein allein dem Umstand, daß vor ungefähr vierhundert Jahren Ihre Schlafstätte entdeckt wurde. Seit vierhundert Jahren bereitet sich der Staat, dem anzugehören wir als unsere größte Ehre empfinden, darauf vor, Sie beim Erwachen Ihrer genialen Heldentat würdig zu empfangen. Sie können uns als Ihre getreue, bis in den Tod ergebene Leibgarde betrachten; wir wurden erzeugt, um Ihnen zu dienen, mit dem Erlöschen Ihres Lebens verschwindet unsere Daseinsberechtigung. Wir wurden so erzogen und gebildet, daß wir uns das vollste Verständnis für Ihre heute wohl längst veraltete Art des Lebens und Denkens erwarben, um Ihnen behilflich zu sein, den Übergang aus einer längst dahingestorbenen Vergangenheit in die Ihnen so fremde Gegenwart zu ermöglichen. Ihrer Art und Sitte folgend, erhebe ich mein Glas, um nach Ihrer Weise den so berühmten Herrn Professor Doktor Voraus zu begrüßen. Mögen lange Jahre eines seinen erleuchteten Geist vollständig befriedigenden Lebens den Lohn für seine unsterbliche Heldentat bilden, die auch in der Erinnerung der Homunkuliden fortleben wird, so lange noch eines dieser Sonnenkinder die alternde Welt bewohnt. Ein Hoch dem berühmten Professor, dem genialen Gelehrten Doktor Voraus!«

Die Nummern 751 A 2, 3 und Lorenz riefen »Hoch!« Lorenz, daß die Fensterscheiben klirrten, die Nummern 2 und 3 mit bedeutendem Stimmaufwand, aber ohne die leiseste Regung in den Mienen, wie Automaten, deren Maschine auf einen bestimmten Federdruck abschnurrt.

Der Herr Professor klopfte mit der Klinge des Messers an sein Glas. Die Hochrufe verstummten.

»Was ich bis jetzt von der Zukunft gesehen habe, überwältigt mich. Meine sogenannte Heldentat wurde überreich belohnt. Ich habe nichts getan, als zweitausend Jahre zu verschlafen. Zu meiner Zeit sind hervorragende Personen oft schneller durch die gleiche Tätigkeit zu Ehrenstellen gekommen!«

Lorenz räusperte sich. Diese Frozzelei dünkte ihm höchst unangebracht. Der Zaubertrank schien doch auf die Nerven des Herrn Professors eine sehr unvorteilhafte Wirkung auszuüben.

»Mein verehrter Führer hat ein Hoch auf mich ausgebracht. Diese Ehrung muß ich nach all dem, was ich heute sah, zurückweisen. Ich schlage Ihnen, meine Herren, ein anderes Hoch vor. Ein Staat, der ein so geringfügiges Verdienst wie das meine schon so außerordentlich belohnt und ehrt, ist sicher das vollkommenste Gemeinwesen, das es gibt. Ich bitte Sie, in alter Weise mit mir auf die neue Zeit anzustoßen! Das Reich der Homunkuliden möge blühen, wachsen und gedeihen bis ans Ende der Zeiten!«

Lorenz und die drei Homunkuliden erhoben sich würdevoll und näherten respektvollst ihre Gläser dem Glase des Herrn Professors. Es klang wie das Läuten von kleinen Silberglocken. Der Diener brachte Zigarren, der Professor und Lorenz nahmen dankend an. Die drei Homunkuliden erklärten, Nichtraucher zu sein. Bei dieser Gelegenheit kam es an den Tag, daß das Vorhandensein von Zigarren eine neue feinsinnige Aufmerksamkeit des Homunkulidenstaates für seine Gäste aus der Vergangenheit sei. Der Mentor erklärte, daß seit ungefähr sechshundertundfünfzig Jahren der Tabakgenuß im Reiche abgeschafft sei und daß es umfangreicher historischer, botanischer und chemischer Studien bedurfte, um den beiden Herren nach ihrem Erwachen den gewohnten Genuß zu verschaffen.

Der Professor war in eine sehr behagliche Stimmung gekommen. Er hatte sich in den Fauteuil zurückgelehnt und sah den feinen blauen Rauchwölkchen nach, die von seiner Zigarre zur Decke hinaufwirbelten.

Die Homunkuliden erhoben sich, damit der Herr Professor sich auf ein Stündchen zur Ruhe begeben könne. Der Herr Professor protestierte dagegen heftig und verlangte dringendst, daß wenigstens die Nummer 1 ihm Gesellschaft leiste. Nummer 1 erklärte sich mit Vergnügen bereit. Lorenz erbat sich die Begünstigung, im Park ein Stündchen spazieren zu dürfen, welche Bitte der Professor gern gewährte. Lorenz und die beiden Homunkuliden verließen das Speisezimmer.

»Die Fülle des Gesehenen und Gehörten erdrückt mich fast«, begann der Professor, »und dennoch brenne ich vor Begierde, recht bald Näheres über diesen seltsamen Staat und seine noch seltsameren Bewohner zu erfahren. Sie erzählten mir, verehrter Herr, daß zehn Herren für meinen Dienst bereit sind.«

»Sehr richtig, Herr Professor, die Nummern siebenhunderteinundfünfzig A eins bis zehn.«

»Diese werden mich stets hier umgeben; ich weiß nicht, wie ich sie ansprechen soll. So viel ich bemerkte, sind Namen bei Ihnen nicht gebräuchlich.«

»Nein«, antwortete der Homunkulide, »da haben der Herr Professor recht geraten, Namen sind bei uns nicht gebräuchlich, die Ziffern und Zeichen auf diesen Täfelchen sagen uns von jedem einzelnen mehr, als einst Ihre Personennamen verkündeten. Das Verhältnis jedes einzelnen zum Staate ist für uns das Wichtigste, was einer für sich selbst ist, ist hier bedeutungslos. Jeder von unseren Mitbrüdern wird aus den Buchstaben und Ziffern, die diese zehn Herren auf den Goldtäfelchen tragen, sofort erkennen, daß es Herren Ihrer Begleitung sind! Ich bin bestimmt, Sie in die Geschichte der zweitausend Jahre einzuweihen, die Sie verschlafen haben, Nummer zwei wird Ihnen die technischen Einrichtungen erklären, Nummer drei wird Sie in das Kunstleben unserer Zeit einführen. Jedem der zehn Herren ist ein besonderes Ressort zugewiesen. Die Nummer eins, zwei und drei werden stets um Sie sein. Wenn es aber zu Ihrer Bequemlichkeit beitragen sollte, so bitten wir Sie, uns nach Ihrem freien Ermessen selbst Namen zu geben!«

Der Professor ging erst nachdenklich eine Weile im Zimmer auf und ab, dann blieb er, wie von einer plötzlichen Eingebung erfaßt, stehen.

»Ja, das werde ich tun«, sagte er lebhaft. »Sie, mein Herr, werden mich über den Staat und über seine Geschichte belehren – Sie erhalten den Namen Plato!« Der neue Plato machte eine äußerst verbindliche Verbeugung. »Die Nummer zwei ist Archimedes und Nummer drei – ja, Donnerwetter – Künstler ist der Herr nicht selbst?«

»Nein, er ist Kritiker und Kunsthistoriker!«

»Das hat's im Altertum noch nicht gegeben. Praxiteles, Phidias, und wie sie alle hießen, das waren Künstler, zu ihrer Zeit war es noch nicht Mode, über die Kunst zu reden und zu streiten, damals brauchte den Leuten noch nicht vorgeschrieben zu werden, was sie für schön zu halten haben... Halt, ich hab's... Nummer drei nennen wir Lessing. Die Taufe der anderen Herren werde ich zu gelegener Zeit schon vornehmen; Sie können versichert sein, daß ich mich nur mit den besten Namen aus der Geschichte der Menschheit umgeben werde.«

Plato bemerkte dazu, daß das ganz im Belieben des Professors stehe.

»Also, mein lieber, verehrter Plato«, hub äußerst vergnügt der Professor an, »erzählen Sie mir einmal, was denn eigentlich in diesen zweitausend Jahren vorgegangen ist und welchem glücklichen Umstände wir es zu danken haben, eine so herrliche Auferstehung zu feiern! Geben Sie mir vorläufig einige flüchtige Umrisse der großen historischen Begebenheiten! Da vorauszusehen ist, daß Sie auch einschlägige Geschichtswerke besitzen, so ist es mir ja leicht möglich, dann die Details in diesen Werken nachzulesen.«

»In Ihrer Privatbibliothek finden Herr Professor alles, was Sie benötigen werden!«

Plato öffnete eine vom Professor bis jetzt völlig unbeachtete Tapetentür und forderte ihn auf, einzutreten.

Des Professors Herz quoll über vor Entzücken. Eine Flucht von hohen taglichten Zimmern eröffnete sich seinem Auge, die Wände bis an die Decke verdeckt mit Schränken, die vollgepfropft waren mit Büchern, deren Einband erwies, daß sie die Werkstatt des Buchbinders noch nicht allzu lange verlassen hatten. In dem hellen Lichte glänzten die Inschriften der Buchrücken und schimmerte ihr farbiges Leder. Inmitten jedes Zimmers standen lange mit grünem Tuch überzogene Tische, bei jedem Fenster hohe Stehpulte. Von der Decke herab hingen elektrische Lüster, jedes Stehpult war mit einer elektrischen Lampe versehen. Acht große, vollständig gleich eingerichtete Räume nahm diese herrliche Bibliothek ein. Der Professor zog aufs Geratewohl einen Band heraus. Als er den Deckel aufschlug, sah er, daß auf der Innenseite ein Ex-libris-Zettel angebracht war, der sein Porträt trug. Der Zettel trug die Nummer 19625!

»Das ist meine Bibliothek?« rief er mit höchstem Erstaunen aus. »Neunzehntausendsechshundertfünfundzwanzig – ja, wie viele Bände hat denn diese Sammlung?«

»Im ganzen zweiunddreißigtausendachthundertvierzehn. Sie werden in dieser Bibliothek alles finden, was Sie über die Zeit, die Sie verschlafen haben, zu wissen wünschen. Hier ist der vollständige Katalog dieser Sammlung!« Plato wies dabei auf einen umfänglichen Kasten. »Und hier in diesem Raume finden Sie die beiden Herren, deren Sorge die Instandhaltung Ihrer Bibliothek sein wird, die Ihnen die gewünschten Bücher herausgeben und die gebrauchten Bände wieder an Ort und Stelle zurückbringen werden.«

Er öffnete eine Tür, die in einen hübschen, hellen Raum führte. An dem hohen Fenster saßen zwei Homunkuliden in Dieneruniform. Sie standen ehrerbietig auf und verbeugten sich, als Plato und der Professor eintraten.

»Also, die Herren sind meine Bibliotheksbeamten?« fragte der Professor und reichte ihnen freundlich die Hand. Die Bibliotheksbeamten verbeugten sich nochmals wortlos, die beiden Herren verließen das Zimmer und kehrten in das Arbeitszimmer zurück.

»Ich bin einfach überwältigt, lieber Plato, von allem, was ich da gesehen und gehört habe«, sagte der Professor, indem er in seinem Fauteuil versank. »Bitte, erzählen Sie mir von jenen großen Ereignissen, die sich nach meiner Einschläferung zutrugen. Ich muß es als ein Wunder betrachten, daß unser Schlafgemach trotz des gewiß oft stürmischen Wandels der Zeiten unversehrt blieb und daß wir lebend das Licht der Zukunft erblickten.«

»Sie haben recht«, begann Plato, »Großes und Gewaltiges ist in den Jahren geschehen, die Sie ruhig und sorglos mit Ihrem Diener im Pavillon schlummerten. Das alte Europa werden Sie auf unseren Karten nicht mehr erkennen, es gibt kein Österreich, kein Deutschland, kein Frankreich, kein Rußland mehr; alle diese Staaten sind aufgegangen im Reiche der Homunkuliden, das sich über die ganze Erde erstreckt. Nur hoch im Norden, auf Island, auf Spitzbergen, auf Grönland und im äußersten Norden Kanadas leben noch Weibgeborene. Diese letzten Reste der ehemaligen Menschheit schützt unser Gesetz; aber es ist ihnen verwehrt, das Reich der Homunkuliden zu betreten, nach dem sie übrigens nicht die geringste Sehnsucht haben. Es sind Überreste von Deutschen, Skandinaviern und Engländern, die sich erbittert gegen die neue Ordnung der Dinge auflehnten und nun dort oben dem vollständigen Aussterben entgegengehen. Sie konnten sich den Anforderungen der neuen Zeit nicht anbequemen und führen nun ein einsames, entbehrungsreiches Leben. Kummer, Sorgen und Schmerzen sind ihr Erbe. Wir Homunkuliden wissen von solchen Bedrängnissen nichts mehr. Die Einsamen im äußersten Norden wollten es so, wir ließen ihnen ihren Willen, und ihr Dasein ist uns fast zur Sage geworden!«

»Also die Völker Europas haben aufgehört zu existieren?« fragte mit maßlosem Erstaunen der Professor.

»Sehr richtig«, antwortete Plato; »es ist übrigens nicht besonders schade um sie. Schon zu Ihrer Zeit begannen, wenn ich nicht irre, die großen Kämpfe mit den Völkern Asiens. Engländer, Franzosen und Deutsche eröffneten den Reigen der großen Kriege. Zuerst, namentlich im Kampfe mit China, blieb der Westen Sieger, bis Japans Kriegstüchtigkeit und seine die ganze Welt überraschenden Siege den Europäern die Augen öffneten und ihnen den Glauben benahmen, daß sie zu Beherrschern des Weltalls berufen seien. Und wie einst, anderthalb Jahrtausende noch vor Ihnen, Asiens wilde Scharen nach Europa zogen, um eine uralte Kultur zu zertreten, so kamen im Jahre zweitausendeinhundertzweiundvierzig nach Ihrer Zeitrechnung die asiatischen Gäste wieder, aber nicht als wilde Barbaren, sondern ausgerüstet mit dem Rüstzeug westlicher Kultur, die unterdessen im Fernen Osten zu grandioser Höhe emporgediehen war. Was Asiens Völker von Europa empfingen, hatten sie selbständig fortentwickelt und so kamen sie nicht als gleichwertige, sondern als überlegene Gegner in die alten Kulturländer des Westens. Unzählig, wie einst die Züge der Nomaden im vierten Jahrhundert, zogen die Scharen heran, das Rote Meer, der Kanal von Suez, das Mittelmeer, der Atlantische Ozean, die Meere an den West- und Nordküsten Europas bedeckten sich mit den gepanzerten Ungeheuern der japanischen und chinesischen Flotten. Längst war das asiatische Rußland in den Besitz der Asiaten übergegangen und so zogen auch von Osten her die gewaltigen Heere der mongolischen Rasse. Ein ungeheures Ringen entstand, in dem der Osten Sieger blieb. Im Jahre zweitausenddreihundertachtzehn waren die Asiaten Herren dieses Erdteiles, die alten Reiche waren zertrümmert; es entstand dieses Riesenreich, das nach kaum einem halben Jahrtausend, im Jahre zweitausendsiebenhundertachtzig, schon Europa, Asien und Afrika umfaßte. Aber es zeigte sich wieder das alte Spiel von einst. Wie einst das deutsche Volk nach der Niederwerfung des Römischen Reiches von dem Besiegten seine Kultur empfing und in vielem Art und Weise der Untergebenen annahm, ich erinnere Sie, Herr Professor, nur an das römische Recht – die römische Sprache wurde die Sprache der Wissenschaft, an ihrer Erkenntnis entwickelte sich erst die Sprache des Siegers –, so geschah es auch hier. Allmählich verschwanden die asiatischen Eigentümlichkeiten, im Kampfe der Geister erwies sich der Besiegte als der Stärkere. Europäisches Wesen drang sieghaft durch, wenige Jahrhunderte dauerte es, und die Gegensätze der Völker erschienen fast vollständig ausgeglichen. Der mächtige nationale Gedanke, der einst Ströme von Blut gekostet, hatte seine Wirksamkeit verloren, an seine Stelle trat echte, allumfassende Menschlichkeit.«

»Und Amerika – wie verhielt es sich in dieser Zeit einer ungeheuren Revolution?« fragte der Professor.

»Es trat zweihundert Jahre später, zweitausendneunhundertachtzig, diesem Staatenbunde bei. Die Grenzen, die einst die Menschheit nach Staaten, nach Nationen schieden, hatten in jenen Jahren zu bestehen aufgehört und damit waren die Ursachen zu all jenen unsäglichen Greueln, die in der Vorzeit die Menschheit schändeten, verschwunden. Die Zeit war gekommen, wo niemand fragte, ob der oder jener Christ oder Jude, Türke oder Heide, Deutscher oder Franzose sei, wo jeder in dem Nächsten nur seinen Mitmenschen sah, und zwar seinen gleichwertigen und vollständig gleichberechtigten Mitmenschen. Es war dies keine neue Idee, Herr Professor, denn fast zweitausend Jahre vor Ihnen war schon einer erschienen, der dies gepredigt hat. Der war aber viel zu früh gekommen, für seine Lehre fand er nicht die rechten Schüler, er fand Juden und Römer vor, aber keine Menschen. Und so hat auch die Verbreitung dieser Lehre Ströme von Blut gekostet, und der Haß der Menschen untereinander verdarb diese Heilslehre und würdigte sie meist zu einem häßlichen Götzendienst herab.«

Plato hatte sich in Eifer geredet, das sonst so marmorkalte Antlitz überzog ein heller Schimmer der Begeisterung.

»Und was ist dann geschehen, als das Riesenwerk der Einigung zustande gekommen war?« fragte sinnend der Professor. »Hat diese Zeit ewiger Friedensruhe die Völker nicht zu einem entnervenden Wohlleben geführt?«

»Nein, Herr Professor, diese Zeit brachte den vollgültigen Beweis, daß zur Entwicklung der Menschheit Kriege nicht ein unbedingt notwendiges Mittel seien. Wie niemals noch begannen Kunst und Wissenschaft zu blühen. Früher galt es, die Gegensätze der Völker auszugleichen, es war ein latenter Kriegszustand, in dem sich die Menschheit immer befunden hatte; jetzt kam man endlich dazu, die Gegensätze unter den Menschen auszugleichen, jene Gegensätze, die noch zu Ihrer Zeit, Herr Professor, trotz ihrer uns heute so unbegreiflichen Lächerlichkeit eine so gewaltige Rolle spielten.«

»Und ist es ihnen gelungen, alle diese Gegensätze auszugleichen?« fragte mit begreiflichem Erstaunen der Professor.

»Es ist gelungen. Zuerst verschwand der bevorrechtete Adel, was keine besonderen Kämpfe verursachte; denn in einer Zeit, wo nur Arbeit, sei es geistige oder physische, persönlichen Wert verleiht, mußten eingebildete, aus der Abstammung hergeleitete Vorrechte nur zu bald ihre Geltung verlieren. Die wahrhaft freiheitliche Ausgestaltung unseres Parlamentes trug wohl das meiste dazu bei, daß der Adel vollständig an Bedeutung verlor. Ich glaube, noch zu Ihrer Zeit bestanden in manchen Staaten zweierlei Parlamente, ein Haus des Volkes und ein Haus der Herren, das heißt von solchen Männern, die durch Geburt oder unermeßlichen Reichtum ein Anrecht auf einen Sitz in diesem Nebenparlament hatten. Schon im Jahre tausendneunhundertvierundfünfzig verschwanden überall diese Nebenparlamente, und damit hatte der Adel ausgespielt. Er verschwand allmählich aus den Staatsämtern; früher war es den hochgeborenen Herren leicht möglich gewesen, zu den bedeutendsten Stellen emporzusteigen, ihr Adelsbrief allein verbürgte ihnen das rascheste Avancement; aber auch dieser letzte Rest geheimer Adelsherrschaft versank. Als die Aristokraten kein anderes Mittel, um emporzukommen, besaßen als Fleiß und Tüchtigkeit, versagten sie gänzlich. Und mit dem Adel verschwand das Königtum; im Jahre zweitausendsechsundneunzig starb der letzte irdische Herrscher!«

»Die republikanische Staatsform wurde allgemein eingeführt«, sagte der Professor, »das erscheint mir als nichts Außerordentliches. Aber wie glich man die sozialen Gegensätze aus – das heißt, ich weiß ja gar nicht, ob Ihnen das schwierigste aller Probleme gelungen ist!«

»Es ist gelungen. Wir haben so manches, das Sie und Ihre Zeit kaum zu träumen wagten, in die Wirklichkeit umgesetzt!«

»Diese Aktion wird wohl die furchtbarsten Stürme, die grauenhaftesten Bürgerkriege hervorgerufen haben!« warf der Professor ein.

»Es war nicht so arg. Auch auf diesem Gebiete haben wir eigentlich nur ausgebaut, wozu Ihre Zeit den Grund legte. Schon damals war ja der Staat Eigentümer vieler Eisenbahnen, der Staat besorgte, wenn auch in etwas unzulänglicher Weise, den Unterricht, eine der größten Einrichtungen des Staates war die Post, vieles schon war zu Ihrer Zeit der Privattätigkeit gänzlich entzogen. Man ging auf diesem Wege weiter, man verstaatlichte nach und nach alles, und heute können wir es uns kaum vorstellen, wie es einst möglich war, daß ein Privatmann irgendeinen Zweig der Industrie mit Nutzen für sich und zum Nutzen seiner Mitmenschen betreiben konnte. Manches erscheint uns heute unbegreiflich und deshalb unglaublich. Denken Sie nur an das Ärztewesen Ihrer Zeit! Eigentlich konnte nur der bemittelte Kranke darauf rechnen, von den Ärzten mit Sorgfalt behandelt zu werden. Der Arzt hatte nur eine ideale Ursache, Reiche und Arme mit gleicher Hingabe zu behandeln. Die Rücksicht auf sein eigenes Ich, auf sein Fortkommen und auf die Sicherung seines Alters mußte ihn bestimmen, sich mit ganz besonderem Eifer der Behandlung bemittelter Kranker zu widmen. Daß dies oft nur auf Kosten der Minderbemittelten geschehen konnte, ist einleuchtend. Es war ein barbarischer, unmenschlicher Zustand, ein Schandfleck Ihrer Zeit! Die größte Lächerlichkeit war aber Ihr sogenanntes Apothekerwesen, der Handel mit den Arzneimitteln. Das muß geradezu als eine Grausamkeit bezeichnet werden. Ihre Apotheker waren die unmenschlichsten Wucherer, die die Zeit gekannt hat. An den Leiden der Menschheit bereicherten sich diese Leute unter dem Schutze gewissenloser Regierungen!«

»Sie haben nicht so unrecht«, warf der Professor errötend ein. »Wir waren das so gewohnt, wir fühlten es gar nicht, welche Grausamkeiten wir begingen.«

»Im Jahre zweitausendfünf Ihrer Zeitrechnung wurde die gesamte ›Medizin‹ verstaatlicht, die Ärzte sowie die Apotheker. Die Doktoren schrien Zeter und Mordio, die Apotheker bezeichneten die Regierung als ein Kollegium von gewissenlosen Räubern, alles nur aus dem Grunde, weil die Regierung ihrem Handwerk ein Ende bereitet hatte. Ein neuer Beamtenstatus, mit einem Minister an der Spitze, wurde kreiert: Das Ministerium des Heilwesens. Die jungen Doktoren wurden sofort als Assistenten mit vollständig zureichendem Gehalt angestellt. Für den Staat zu arbeiten und zu hungern, hatte damals schon aufgehört. Die Fähigsten unter ihnen rückten nach Maßgabe ihrer Befähigung und ihrer Dienstzeit vor. Die Heilmittel, die sie verschrieben, wurden unentgeltlich in den Apotheken verabfolgt. Das Rezept galt als Anweisung. In kaum dreißig Jahren hatten sich sogar die Ärzte und Apotheker an diese neue Ordnung der Dinge gewöhnt, und eine Unsumme von Elend, Leid, Sorgen und Kummer war mit der Neuordnung dieser Dinge aus der Welt verschwunden.«

»Sie haben recht«, warf der Professor ein, »zu meiner Zeit ist es niemandem eingefallen, sich darüber zu wundern, daß der Volksschulunterricht ganz in den Händen des Staates liegt. Für den Elementarunterricht der Kinder etwas bezahlen zu müssen, wäre den Staatsbürgern meiner Zeit als eine Ungeheuerlichkeit erschienen; und jetzt erschiene es ebenso ungeheuerlich, wenn jemand für die Heilung seiner Krankheit etwas ausgeben müßte; ja, ja, das ist ganz leicht einzusehen.«

»Die größte Aktion der neuen Zeit war die Verstaatlichung der Land- und Forstwirtschaft«, setzte Plato seine Erläuterungen fort.

»Und hat diese Aktion nicht die fürchterlichsten Bauernkriege hervorgerufen?«

»Keineswegs. Es erfolgte ein ruhiger Ausgleich, dem alle Forst- und Landwirte freudigst zustimmten. Der Bergbau war längst verstaatlicht, denn auf diesem Gebiete lag die empörendste soziale Ungerechtigkeit geradezu offen zutage; die Besitzer der Bergwerke führten ein sorgloses Wohlleben, ihre Arbeiter, die in den abgrundtiefen Schächten für kargen Taglohn täglich ihr Leben aufs Spiel setzten, erwarben in harter Arbeit kaum so viel, daß sie kümmerlich sich und die Familien ernähren konnten. Diesem Zustand ward binnen wenigen Jahren ein Ende gemacht. Die Klagen der Bergwerksbesitzer wurden so wenig angehört und berücksichtigt, als die Bergwerksbesitzer einst die Klagen ihrer Arbeiter angehört und berücksichtigt hatten. Das Los der Arbeiter wurde ein menschenwürdiges, denn der Staat, der kein Interesse daran hatte, Geld zu verdienen, hatte es nicht nötig, die Arbeiter auszunützen. Mit der Land- und Forstwirtschaft ging es ähnlich. Mit dem Adel, der den größten Grundbesitz zu Ihrer Zeit hatte, ging es infolge der geänderten Lebensverhältnisse stetig abwärts. Er verdarb immer mehr. Sein Besitz war der erste, der vom Staate eingezogen wurde. Nach kaum einem Jahrhundert war sämtlicher Boden wieder Besitz des Staates geworden und wurde vom Staate verwaltet. Wohl verschwand der Bauernstand, an seine Stelle traten Staatsangestellte, Arbeiter und Beamte, die ein weit sorgenloseres Leben führten als vormals der Bauer, dem nur zu oft die Unbill des Wetters die Arbeit eines Jahres vernichtete. Unendlich müheloser gestaltete sich das Leben dieser Staatsangestellten als das des Bauern, sinnreich konstruierte Maschinen nahmen ihnen den größten und schwersten Teil der Arbeit ab und ermöglichten es ihnen, den größten Teil des Tages ihrer Erholung und Erheiterung zu widmen, denn nun dienten die Maschinen nicht als Mittel zur Ersparung von Arbeitskräften, sondern als Mittel zur Gewinnung von Zeit, welcher Gewinst eben den Arbeitern zugute kommt. Und wenn einmal der Hagel irgendwo die Feldfrucht zerschlug, was macht das aus? Die Kornkammern des Staates, der fast die gesamte Welt umfaßte, wurden deshalb nicht leerer, der Überfluß von anderen Gebietsteilen glich den Minderertrag des geschädigten Teiles wieder aus. Die Zerstörung der Feldfrucht irgendeiner Dorfmark verursachte keinen Kummer, keine Träne; solches Leid und solche Sorge kennt unsere Zeit nicht mehr, wo ungezählte Millionen für den einzelnen wirken und der einzelne nicht mehr für sich, für seine Familie, eine Gemeinde oder einen engumgrenzten Staat, sondern für die ganze Menschheit lebt und schafft.«

Staunend hatte der Professor zugehört.

»Ich bin sehr begierig, Ihre Einrichtungen kennenzulernen. Sie haben einen Glückszustand der Menschheit erreicht, von dem wir kaum zu träumen wagten. Wie aber kam es, daß an Stelle der Menschen die Homunkuliden traten, daß es unter ihnen keine Weiber und keine Weibgeborenen mehr gibt?«

»Im Jahre zweitausendeinhundertvierzehn ist es unseren Chemikern gelungen, künstliches Eiweiß darzustellen. Schon zu Ihrer Zeit war es bekannt, daß es eine Unzahl von Eiweißarten gibt, durch deren Zusammenwirken das organische Leben entsteht. Ihre Ahnungen vom Wesen des Lebens wurden durch die Forschungen des französischen Chemikers Legrand teilweise bestätigt, teilweise berichtigt. Ihm gelang es im Jahre zweitausendeinhunderteinundzwanzig, durch Einwirkung verschiedener Eiweißarten das erste Lebewesen zu erzeugen, eine Alge, die nicht nur befähigt war zu leben, sondern auch sich fortzupflanzen. Nun warf sich die Wissenschaft mit ungeheurem Eifer auf diesen Zweig der Forschung, und schon zweitausendeinhundertzweiunddreißig konnte der deutsche Gelehrte Walther das erste Tier, eine Qualle, darstellen. Durch großartige Untersuchungen der Eier der verschiedensten Tierarten gelang es unseren Chemikern sehr bald, auch höhere Tierordnungen künstlich darzustellen. Dennoch vergingen mehr als achthundert Jahre, ehe es die Chemiker dahin brachten, ein Wesen künstlich zu erzeugen, das eine, wenn auch nur entfernte Ähnlichkeit mit dem höchsten Lebewesen, dem Menschen, hatte. Der dies zustande brachte, war der japanische Gelehrte Katako. Nach weiteren einhundertfünfzig Jahren hatte man das Verfahren so vervollkommnet, daß die Homunkuliden sich durch nichts mehr von den Menschen unterschieden. Diese Homunkuliden wurden zuerst zu niederen Staatsdiensten verwendet, aber schon dreitausendsechzig gestand man ihnen die volle Gleichberechtigung mit den Menschen zu.«

»Und ließen sich die Menschen das ruhig gefallen?« fragte gereizt der Professor.

»Gewiß, denn auf keinen Fall waren die Homunkuliden in irgendeiner Beziehung minderwertig. Die Darstellung der Homunkuliden hatte eine derartige Vervollkommnung erreicht, daß nur zu bald die künstlichen Menschen die natürlichen körperlich wie geistig weit überragten. Denn nur vollkommen gelungene Exemplare der Homunkuliden verließen lebend die Retorte, mißlungene wurden, noch ehe sie das Bewußtsein erhalten hatten, zerstört. Und bei der Darstellung der Homunkuliden fehlten alle störenden Einflüsse, die so schädlich auf die Menschen einwirken, kein Homunkulide hatte durch die Laster und Krankheiten seiner Erzeuger zu leiden wie so viele Menschen, die in ihrem Leben ungerechterweise die Sünden ihrer Väter büßen mußten.«

»Aber mir fehlt noch immer die Erklärung, wieso es gekommen ist, daß die natürlichen Menschen den künstlich erzeugten weichen mußten?« fiel erregt der Professor ein.

»Das hatte einen ganz eigenartigen Grund. Einst, in der grauesten Vorzeit war das Weib nicht mehr als eine Sklavin des Mannes, eine Ware, die man verkaufen oder verschenken konnte wie ein Stück Vieh. Allmählich brach sich die Anschauung Raum, daß das Weib dem Manne vollkommen gleichberechtigt sei. Zu Ihrer Zeit, Herr Professor, begann der Kampf zwischen den Geschlechtern, nach kaum fünfzig Jahren war die Frau in jeder, auch in politischer Beziehung dem Manne gleichgestellt. Aber der vollkommensten Gleichberechtigung hatte die Natur selbst eine Schranke gezogen!«

»Welche Schranke meinen Sie?« fragte verwundert der Professor.

»Die Natur hat dem Weibe eine schwere Pflicht auferlegt, die Pflicht Mutter zu werden. Eine Unsumme von Schmerzen und Leiden brachte diese Pflicht dem Weibe, und wir dürfen uns nicht darüber wundern, daß schließlich die Frauen sich gegen ein solches Übermaß von Pflichten auflehnten. Dazu kam noch ein schwerwiegender Umstand. Dadurch, daß sich die Frauen immer mehr und mehr wirtschaftliche Gebiete für ihre Tätigkeit eroberten, die bisher den Männern vorbehalten waren, entfremdeten sie sich ihren natürlichen Pflichten. Sie waren als Lehrerinnen, Ärztinnen, als Gelehrte, als Beamte und Leiter großer industrieller Unternehmungen nicht mehr in der Lage, sich der Erziehung der Kinder zu widmen. Schon die Geburt eines Kindes verursachte schwer zu verwindende Berufsstörungen, und es ist ganz selbstverständlich, daß die Frauen alle Mittel anwendeten, ihre Mutterschaft zu verhindern. Die Zahl der Geburten verringerte sich mit jedem Jahr

»Und schritt da der Staat nicht ein?« fragte empört der Professor.

»Nein, er hatte auch keine Handhabe dazu.«

Nach einer Pause fuhr Plato fort:

»Welche Fülle von zerstörenden Leidenschaften brachte das Verhältnis des Mannes zum Weibe! Ihre sogenannte ›schöne Literatur‹ beschäftigt sich mit nichts anderem, als wenn es wirklich sonst nichts Hohes und Großes in der Welt geben würde. Ihre dichterischen Werke erzählen von diesen Kämpfen, sie erzählen, wie viel Elend, Verzweiflung, Kummer und Sorgen dieses Verhältnis der Menschheit gebracht hat. Die sogenannte ›Liebe‹ hat heftiger unter den Menschen gewütet als der Hunger und das Leben ungezählter Tausender verdorben. Die Homunkuliden werden geschlechtslos geboren. Wie ruhig, leidenschaftslos, gleitet ihr Leben dahin! Ihre Herzen werden von keinem trügerischen Glück und von keiner Sehnsucht bewegt, deren Erfüllung in Täuschungen besteht. Allmählich verschwanden die Weibgeborenen – im Jahre dreitausendeinhundertvierundsiebzig, am fünfzehnten Jänner, starb die letzte Frau, eine Matrone im Alter von hundertvierzehn Jahren, und seither ist aus unserem Leben das Weib in allen seinen Erscheinungsformen verschwunden; es gibt keine Mädchen, keine Jungfrauen, keine Gattinnen, keine Mütter, Tanten oder Schwiegermütter mehr. Sie werden einsehen lernen, daß die Welt dadurch um vieles besser, das Leben weit ruhiger und angenehmer wurde, als es zu Ihrer Zeit war!«

Plato schwieg und auch der Professor sah lange sinnend vor sich hin.

»Was Sie mir erzählt haben, Freund Plato«, begann er endlich, »ist so überraschend, ja so verwirrend, daß mir noch immer zumute ist, als hätte ein schwerer phantastischer Traum alle meine Sinne gefangen. Ich möchte gern aus diesem Traume erwachen!«

»Herr Professor sind müde geworden«, sagte Plato, »ich würde Ihnen ebenfalls einen Spaziergang durch den Park empfehlen, und wenn es Ihnen angenehm ist, begleiten wir Sie nachmittags zu dem Pavillon, in dem Sie zweitausend Jahre verschlafen haben!«

»Ja, besteht denn der noch?« fragte freudig überrascht der Professor.

»Jawohl, es müssen ausgezeichnete Baumeister gewesen sein, die diesen Bau geschaffen haben. Ihre Kunst und die Bewunderung, die die Völker Ihrer wissenschaftlichen Heldentat zollten, haben den Bau fast unversehrt in der Flucht zweier Jahrtausende erhalten!«

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür; auf das »Herein!« des Professors betrat Lorenz die Stube; durch die geöffnete Tür konnte man den Diener draußen im Vorzimmer stehen sehen.

»Na, Lorenz, wie gefällt es Ihnen hier?« fragte lächelnd sein Herr.

»Gut, Herr Professor, ich bin so weit ganz zufrieden, ich kann Ihnen nur empfehlen, sich diesen Park anzusehen; es ist eine Pracht, Schönbrunn war nichts dagegen. Aber Dinge erlebt man da, Dinge, bei denen man sich an den Kopf greift, so unglaublich sind sie!«

»So? Na, ich werde mir diesen herrlichen Park ansehen, Freund Plato. Wollen Sie uns begleiten?«

»Selbstverständlich, Herr Professor, ich erfülle damit eine sehr angenehme Pflicht!«

»So gehen wir! Der Kopf ist mir heiß geworden von dem Erzählten.«


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