Wilhelm Hauff
Novellen
Wilhelm Hauff

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Man kann sich denken, wie ausschließlich diese Vorfälle die Seele des Medizinalrat Lange beschäftigten. Seine sehr ausgebreitete Praxis war ihm jetzt ebensosehr zur Last, als sie ihm vorher Freude gemacht hatte, denn verhinderten ihn nicht die vielen Krankenbesuche, die er vorher zu machen hatte, die Sängerin am andern Morgen recht bald zu besuchen, und jene Aufschlüsse und Erläuterungen zu vernehmen, denen sein Herz ungeduldig entgegenpochte? Doch zu etwas waren diese Besuche in dreißig bis vierzig Häusern gut, er konnte, wie er zu sagen pflegte, hinhorchen, was man über die Fiametti sage, vielleicht konnte er auch über ihren sonderbaren Liebhaber, den Kapellmeister Boloni, eines oder das andere erfahren.

Über die Sängerin zuckte man die Achseln. Man urteilte um so unfreundlicher über sie, je ärgerlicher man darüber war, daß so lange nichts Offizielles und Sicheres über ihre Geschichte ins Publikum komme. Ihre Neider, und welche ausgezeichnete Sängerin, wenn sie dazu schön und achtzehn alt ist, hat deren nicht genug? ihre Neider gönnten ihr alles, und machten hämische Bemerkungen, die Gemäßigten sagten: »So ist es mit solchem Volke; einer Deutschen wäre dies auch nicht passiert.« Ihre Freunde beklagten sie, und fürchteten für ihren Ruf beinahe noch mehr, als für ihre Gesundheit. Das arme Mädchen! dachte Lange, und beschloß um so eifriger ihr zu dienen.

Vom Kapellmeister wußte man wenig, weder Schlechtes, noch Gutes. Er war vor etwa dreiviertel Jahren nach B. gekommen, hatte sich im »Hotel de Portugal« ein Dachstübchen gemietet und lebte sehr eingezogen und mäßig. Er schien sich von Gesangstunden und musikalischen Kompositionen zu nähren. Alle wollten übrigens etwas Überspanntes, Hochfahrendes an ihm bemerkt haben; die, welche ihn näher kennengelernt hatten, fanden ihn sehr interessant, und schon mancher Musikfreund soll sich ein Couvert an der Abendtafel im Hotel de Portugal bestellt haben, nur um seine herrliche Unterhaltung über die Musik zu genießen. Aber auch diese kamen darin überein, daß es mit Boloni nicht ganz richtig sei, denn er vernachlässige, verachte sogar den weiblichen Gesang, während er mit Entzücken von Männerstimmen, besonders von Männerchören spreche. Er hatte übrigens keine näheren Bekannten, keinen Freund, von seinem Verhältnis zur Sängerin Fiametti schien niemand etwas zu wissen.

Den Kommerzienrat Bolnau fand er noch immer unwohl und im Bette; er schien sehr niedergeschlagen, und sprach mit unsicherer, heiserer Stimme allerlei Unsinn über Dinge, die sonst gänzlich außer seinem Gesichtskreise lagen. Er hatte eine Sammlung berühmter Rechtsfälle um sich her, in welcher er eifrig studierte; die Frau Kommerzienrätin behauptete, er habe die ganze Nacht darin gelesen, und hie und da schrecklich gewinzelt und gejammert. Seine Lektüre betraf besonders die unschuldig Hingerichteten, und er äußerte gegen den Medizinalrat, es liege eigentlich für den Menschenfreund ein großer Trost in der Langsamkeit der deutschen Justiz, denn es lasse sich erwarten, daß wenn ein Prozeß zehn, und mehrere Jahre daure, die Unschuld doch leichter an den Tag komme, als wenn man heute gefangen und morgen gehangen werde.

Die Sängerin Fiametti, für welche der Doktor endlich ein Stündchen erübrigt hatte, war düster und niedergeschlagen, als seie keine Hoffnung mehr für sie auf Erden. Ihr Auge war trübe, sie mußte viel geweint haben, die Wunde war über alle Erwartung gut; aber mit ihrem zunehmenden körperlichen Wohlbefinden schien die Ruhe und Gesundheit ihrer Seele zu schwinden. »Ich habe lange darüber nachgedacht«, sagte sie, »und fand, daß Sie, lieber Doktor, doch auf höchst sonderbare Weise in mein Schicksal verwebt werden. Ich kannte Sie vorher nicht; ich gestehe, ich wußte kaum, daß ein Medizinalrat Lange in B. existiere. Und jetzt, da ich mit einem Schlage so unglücklich geworden bin, sendet mir Gott einen so teilnehmenden, väterlichen Freund zu.«

»Mademoiselle Fiametti«, erwiderte Lange, »der Arzt hat an manchem Bette mehr zu tun, als nur den Puls an der Linken zu fühlen, Wunden zu verbinden und Mixturen zu verschreiben. Glauben Sie mir, wenn man so allein bei einem Kranken sitzt, wenn man den inneren Puls der Seele unruhig pochen hört, wenn man Wunden verbinden möchte, die niemand siehet, da wird auf wunderbare Weise der Arzt zum Freunde, und der geheimnisvolle Zusammenhang zwischen Körper und Seele scheint auch in diesem Verhältnisse auffallend zu wirken.«

»So ist es«, sprach Giuseppa, indem sie zutraulich seine Hand faßte; »so ist es, und auch meine Seele hat einen Arzt gefunden. Sie werden vielleicht viel für mich tun müssen. Es möchte sein, daß Sie sogar vor den Gerichten in meinem Namen handeln müssen. Wenn Sie einem armen Mädchen, das sonst gar keine Stütze hat, dieses große Opfer bringen wollen, so will ich mich Ihnen entdecken.«

»Ich will es tun«, sprach der freundliche Alte, indem er ihre Hand drückte.

»Aber bedenken Sie es wohl; die Welt hat meinen Ruf angegriffen, sie klagt mich an, sie richtet, sie verdammt mich. Wenn nun die Menschen auch auf Sie höhnisch deuten, daß Sie der verrufenen Sängerin, der schlechten Italienerin, ach! meiner sich angenommen haben? werden Sie das ertragen können?«

»Ich will es«, rief der Doktor mit Ernst und Heftigkeit. »Erzählen Sie!«

 

»Mein Vater«, erzählte die Sängerin, »war Antonio Fiametti, ein berühmter Violinspieler, der Ihnen aus jüngern Jahren nicht unbekannt sein kann, denn sein Ruf hatte durch die Konzerte, die er an Höfen und in großen Städten gab, sich überall verbreitet. Ich kann mir ihn nur noch aus meiner frühesten Kindheit denken, wie er mir die Skala vorgeigte, die ich schon im dritten Jahre sehr richtig nachsang. Meine Mutter war zu ihrer Zeit eine vorzügliche Sängerin gewesen, und pflegte in den Konzerten des Vaters einige Arien und Kanzonetten vorzutragen. Ich war vier Jahre alt, als mein Vater auf der Reise starb und uns in Armut zurückließ. Meine Mutter mußte sich entschließen, durch Singen uns fortzubringen. Sie heiratete nach einem Jahre einen Musiker, der ihr von Anfang sehr geschmeichelt haben soll, nachher aber zeigte es sich, daß er sie nur geheiratet, um ihre Stimme zu benützen. Er wurde Musikdirektor in W–b–g, einer kleinen deutschen Stadt in Frankreich, und da fing erst unser Leiden recht an.

Meine Mutter bekam noch drei Kinder und verlor ihre Stimme so sehr, daß sie beinahe keinen Ton mehr singen konnte. Dadurch war die größte Geldquelle meines Stiefvaters versiegt, denn seine Konzerte waren nur durch meine Mutter glänzend und zahlreich gewesen. Er plagte sie von jetzt an schrecklich; mir wollte er gar nicht mehr zu essen geben, bis er endlich auf ein Mittel verfiel, mich brauchbar zu machen. Er marterte mich ganze Tage lang, und geigte mir die schwersten Sachen von Mozart, Gluck, Rossini und Spontini ein, die ich dann Sonntag abends mit großem Applaus absang; das arme Schepperl, so hatte man meinen Namen Giuseppa verketzert, wurde eines jener unglücklichen Wunderkinder, denen die Natur ein schönes Talent zu ihrem größten Unglück gegeben hat; der Grausame ließ mich alle Tage singen, er peitschte mich, er gab mir tagelang nichts zu essen, wann ich nicht richtig intoniert hatte; die Mutter aber konnte meine Qualen nicht mehr lange sehen, es war, als ob ihr Leben in ihren stillen Tränen dahinfließe, an einem schönen Frühlingsmorgen fanden wir sie tot. Was soll ich Sie von meinen Marterjahren unterhalten, die jetzt anfingen? Ich war eilf Jahre alt, und sollte die Haushaltung führen, die kleinen Geschwister erziehen, und dabei noch singen lernen für die Konzerte! Oh, es war eine Qual der Hölle!

Um diese Zeit kam oft ein Herr zu uns, der dem Vater immer einen Sack voll Fünffrankenstücke mitbrachte. Ich kann nicht ohne Grauen an ihn denken. Es war ein großer, hagerer Mann von mittlerem Alter; er hatte kleine, blinzende, graue Augen, die ihn durch ihren unangenehmen stechenden Ausdruck vor allen Menschen, die ich je gesehen, auszeichneten. Mich schien er besonders liebgewonnen zu haben. Er lobte, wenn er kam, meine Größe, meinen Anstand, mein Gesicht, meinen Gesang. Er setzte mich auf seine Knie, obgleich mich ein unwillkürliches Grauen von ihm wegdrängte; er küßte mich trotz meines Schreiens, er sagte wohlgefällig: ›Noch zwei – drei Jahr, dann bist du fertig, Schepperl!‹ Und er und mein Stiefvater brachen in ein wildes Lachen bei dieser Prophezeiung aus. An meinem fünfzehnten Geburtsfest sagte mein Stiefvater zu mir: ›Höre, Schepperl: du hast nichts, du bist nichts, ich geb dir nichts, ich will nichts von dir, habe auch hinlänglich genug an meinen drei übrigen Ranken; die Christel (meine Schwester) wird jetzt statt deiner das Wunderkind; was du hast, dein bißchen Gesang, hast du von mir, damit wirst du dich fortbringen; der Oncle in Paris will dich übrigens aus Gnade in sein Haus aufnehmen.‹ ›Der Oncle in Paris?‹ rief ich staunend, denn bisher wußte ich nichts von einem solchen. ›Ja der Oncle in Paris‹, gab er zur Antwort, ›er kann alle Tage kommen.‹

Sie können sich denken, wie ich mich freute; es ist jetzt drei Jahre her, aber noch heute ist die Erinnerung an jene Stunden so lebhaft in mir, als wäre es gestern gewesen. Das Glück, aus dem Hause meines Vaters zu kommen, das Glück, meinen Oncle zu sehen, der sich meiner erbarme; das Glück, nach Paris zu kommen, wo ich mir den Sitz des Putzes und der Seligkeit dachte, ich war berauscht von so vielem Glück; sooft ein Wagen fuhr, sah ich hinaus, ob nicht der Oncle komme, mich in sein Reich abzuholen. Endlich fuhr eines Abends ein Wagen vor unserem Hause vor. ›Das ist dein Oncle‹, rief der Vater; ich flog hinab, ich breitete meine Arme aus nach meinem Erretter – grausame Täuschung! es war der Mann mit den Fünffrankenstücken.

Ich war beinahe bewußtlos in jenen Augenblicken, aber dennoch vergesse ich die teuflische Freude nie, die aus seinen grauen Augen blitzte, als er mich hoch aufgewachsen fand; noch immer klingt mir seine krächzende Stimme in den Ohren: Jetzt bist du recht, mein Täubchen, jetzt will ich dich einführen in die große Welt.' Er faßte mich mit der Hand, mit der andern warf er einen Geldsack auf den Tisch; der Sack fuhr auf, ein glänzender Regen von Silber- und Goldstücken rollte auf den Boden; meine drei kleine Geschwister und der Vater jubelten, rutschten auf dem Boden umher, und lasen die Stücke auf – es war – mein Kaufpreis.

Schon den folgenden Tag ging es nach Paris. Der hagere Mann, ich vermochte es nicht, ihn Oncle zu nennen, predigte mir beständig vor, welch glänzende Rolle ich in seinem Salon spielen werde. Ich konnte mich nicht freuen, eine Angst, eine unerklärliche Bangigkeit waren an die Stelle meiner Freude, meines Glückes getreten. Vor einem großen erleuchteten Hause hielt der Wagen; wir waren in Paris. Zehn bis zwölf schöne, allerliebste Mädchen hüpften die breiten Treppen herab uns entgegen. Sie herzten und küßten mich, und nannten mich ›Schwester Giuseppa‹; ich fragte den Hagern, ›sind dies Ihre Töchter mein Herr?‹ ›Oui, mes bonnes enfantes‹, rief er lachend und die Mädchen und die zahlreiche Dienerschaft stimmten ein mit einem rohen, schallenden Gelächter.

Schöne Kleider, prachtvolle Zimmer zerstreuten mich. Ich wurde am folgenden Abend herrlich gekleidet; man führte mich in den Salon. Die zwölf Mädchen saßen im schönsten Putz an Spieltischen, auf Kanapees, am Flügel. Sie unterhielten sich mit jungen und älteren Herren sehr lebhaft. Als ich eintrat, brachen alle auf, gingen mir entgegen und betrachteten mich. Der Herr des Hauses führte mich zum Flügel, ich mußte singen; allgemeiner Beifall wurde mir zuteil; man zog mich ins Gespräch, meine ungebildeten, halb italienischen Ausdrücke galten für Naivetät; man bewunderte mich, ich erröte heute noch, mit welchen Worten mir man dieses sagte. So ging es mehrere Tage herrlich und in Freuden. Ich lebte ungeniert, ich hätte zufrieden leben können, wenn ich mich nicht höchst unbehaglich, beinahe bänglich in diesem Hause, in dieser Gesellschaft gefühlt hätte, in meiner naiven Unschuld glaubte ich, so sei nun einmal die große Welt und man müsse sich in ihre Sitten fügen. Eines fiel mir jedoch auf, als ich an einem Abende zufällig an der Treppe vorbeiging, sah ich, daß die Herren, die uns besuchten, dem Portier Geld gaben, dafür blaue oder rote Karten bekamen und solche einem Bedienten vor dem Salon wieder übergaben. Ein junger Stutzer, der an mir vorüberkam, wies mir mit zärtlichen Blicken eine dieser roten Karten; ich weiß heute noch nicht, warum ich darüber errötete. Aber hören Sie weiter, was sich bald zutrug.

Sehen Sie lieber Doktor, hier habe ich ein kleines unscheinbares Papier. Diesem bin ich meine Rettung schuldig. Ich fand es eines Morgens unter den Brötchen meines Frühstücks; ich weiß nicht, von welcher gütigen Hand es kam, aber möge der Himmel das Herz belohnen, das sich meiner erbarmte! Es lautet:

›Mademoiselle!

Das Haus, welches Sie bewohnen, ist ein Freudenhaus; die Damen, die Sie um sich sehen, sind Freudenmädchen; sollten wir uns in Giuseppa geirrt haben? Wird sie einen kurzen Schimmer von Glück mit langer Reue erkaufen wollen?‹

Es war ein schreckliches Licht, es drohte mich völlig zu erblinden, denn es zerriß beinahe zu plötzlich meinen unschuldigen Kindersinn und den Traum von einer unbesorgten, glücklichen Lage. Was war zu tun? Ich hatte in meinem Leben noch nicht gelernt, Entschlüsse zu fassen. Der Mann, dem dieses Haus gehörte, war mir wie ein fürchterlicher Zauberer, der jeden meiner Gedanken lesen könne, der jetzt schon darum wissen müsse, was ich erfahren. Und dennoch wollte ich lieber sterben, als noch einen Augenblick hier verweilen. – Ich hatte ein Mädchen gerade über von unserer Wohnung, zuweilen italienisch sprechen hören; ich kannte sie nicht – aber kannte ich denn sonst jemand m dieser ungeheuren Stadt? diese vaterländischen Klänge erweckten Zutrauen in mir; zu ihr wollte ich flüchten, ich wollte sie auf den Knieen anflehen, mich zu retten.

Es war sieben Uhr frühe; ich war meiner ländlichen Gewohnheit treu geblieben, stand immer frühe auf, und pflegte gleich nachher zu frühstücken, und dies rettete mich. Um diese Zeit schliefen noch alle, sogar ein großer Teil der Domestiken. Nur der Portier war zu fürchten. Doch konnte er denken, daß jemand aus diesem Tempel der Herrlichkeit entfliehen werde? Ich wagte es; ich warf mein schwarzes unscheinbares Mäntelchen um mich, eilte die Treppe hinab, meine Knie schwankten, als ich an der Loge des Portiers vorbeiging; er bemerkte mich nicht, drei Schritte, und ich war frei.

Rechts über die Straße hinüber wohnte das italienische Mädchen. Ich sprang über die breite Straße, ich pochte am Haus, ein Diener öffnete. Ich fragte nach der Signora mit dem schwarzen Lockenköpfchen, die italienisch spreche. Der Diener lachte, und sagte, ich meine wohl die kleine Exzellenza Seraphine; ›Dieselbe, dieselbe‹, antwortete ich, ›führen Sie mich geschwind zu ihr.‹ Er schien anfangs Bedenken zu tragen, weil es noch so frühe am Tag sei, doch meine Bitten überredeten ihn. Er führte mich in dem zweiten Stock in ein Zimmer, hieß mich warten und rief dann eine Zofe, der Exzellenza mich zu melden. Ich hatte mir gedacht, das hübsche italienische Mädchen werde meines Standes sein; ich schämte mich, einer Höhern mich zu entdecken, aber man ließ mir keine Zeit, mich zu besinnen; die Zofe erschien, mich vor das Bett ihrer Gebieterin zu führen. Ja, sie war es, es war die schöne junge Dame, die ich hatte italienisch sprechen hören. Ich stürzte vor ihr nieder, und flehte sie um ihren Schutz an; ich mußte ihr meine ganze Geschichte erzählen. Sie schien gerührt und versprach mich zu retten. Sie ließ den Diener, der mich heraufgeführt hat, kommen und legte ihm das strengste Stillschweigen auf; dann wies sie mir ein kleines Stübchen an, dessen Fenster in den Hof gingen, gab mir zu arbeiten und zu essen, und so lebte ich mehrere Tage in Freude über meine Rettung, in Angst über meine Zukunft.

Es war das Haus des Gesandten eines kleinen deutschen Hofes, in welches ich aufgenommen war. Die Exzellenza war seine Nichte, eine geborne Italienerin, die bei ihm in Paris erzogen worden war. Sie war ein gütiges, liebenswürdiges Geschöpf, dessen Wohltaten ich nie vergessen werde. Sie kam alle Tage zu mir und tröstete mich; sie sagte mir, daß der Gesandte durch seine Bedienten in dem Hause des argen Mannes nachgeforscht habe. Man seie sehr in Bestürzung, suche es aber zu verbergen. Die Diener drüben flüstern geheimnisvoll, es habe sich eine Mamsell aus einem Fenster des zweiten Stocks in den Kanal der Seine gestürzt. Sonderbare Fügung! Mein Zimmer war ein Eckzimmer und sah mit der einen Seite nach der Straße, die andere ging schroff hinab in einen Kanal. Ich erinnerte mich, an jenem Morgen ein Fenster dieser Seite geöffnet zu haben; wahrscheinlich war es offen geblieben, und so mochte man sich mein Verschwinden erklären. Signora Seraphina sollte um diese Zeit nach Italien zurückkehren, sie war so gütig, mich mitzunehmen. Ja, sie tat noch mehr für mich; sie bewog ihre Eltern in Piacenza, daß sie mich wie ihr Kind in ihr Haus aufnahmen; sie ließ mein Talent ausbilden, ihr habe ich Freiheit, Leben, Kunst, oh! vielleicht mehr, als ich weiß, zu danken. In Piacenza lernte ich den Kapellmeister Boloni, der übrigens kein Italiener ist, kennen; er schien mich zu lieben, aber er sagte es mir nicht. Ich nahm bald nachher den Ruf an das hiesige Theater an. Man schätzte mich hier, man hat mir sonst wohlgewollt, mein Leben und mein Ruf war unsträflich, ach, ich habe in dieser langen Zeit nie einen Mann bei mir gesehen, als – ich kann Ihnen dieses schöne Verhältnis ohne Erröten gestehen – als Boloni, der mir bald hieher nachgereist war. Sie haben mein Leben jetzt gehört, sagen Sie mir, habe ich etwas getan, um so bittere Strafe zu verdienen? Habe ich so Entsetzliches verschuldet?«

 

Als die Sängerin geendet hatte, ergriff der Medizinalrat lebhaft ihre Hand. »Ich wünsche mir Glück«, sagte er, »den wenigen Menschen, die Sie auf Ihrem Lebensweg gefunden haben, beitreten zu können. Meine Kräfte sind zwar zu schwach, um für Sie tun zu können, was die treffliche kleine Exzellenza für Sie tat, aber ich will suchen, Ihr trauriges Geschick entwirren zu helfen, ich will den Brausewind, Ihren Freund, zu versöhnen suchen. Aber sagen Sie mir nur, was ist denn Herr Boloni eigentlich für ein Landsmann?« »Da fragen Sie mich zuviel«, erwiderte sie ausweichend; »ich weiß nur, daß er ein Deutscher von Geburt ist, und wenn ich nicht irre, wegen Familienverhältnissen vor mehreren Jahren sein Vaterland verließ. Er hielt sich in England und Italien auf, und kam vor etwa drei Vierteljahren hieher.«

»So, so? aber warum haben Sie ihm das, was Sie mir erzählen, nicht schon früher selbst gesagt?«

Giuseppa errötete bei dieser Frage; sie schlug die Augen nieder, und antwortete: »Sie sind mein Arzt, mein väterlicher Freund, es ist mir, wenn ich zu Ihnen spreche, als spräche ein Kind zu seinem Vater. – Aber konnte ich denn dem jungen Mann von diesen Dingen erzählen? Und ich kenne ja seine schreckliche Eifersucht, seinen leicht gereizten Argwohn, ich konnte es nie über mich vermögen, ihm zu sagen, welchen Schlingen ich entflohen war.«

»Ich ehre, ich bewundere Ihr Gefühl; Sie sind ein gutes Kind; glauben Sie mir, es tut einem alten Mann wohl, auf solche dezente Gefühle aus der alten Zeit zu stoßen; denn heutzutag gilt es für guten Ton, sich über dergleichen wegzusetzen. Aber noch haben Sie mir nicht alles erzählt; der Abend auf der Redoute, jene schreckliche Nacht? –«

»Es ist wahr, ich muß Ihnen noch weiter sagen. Ich habe, sooft ich im stillen über meine Rettung nachdachte, die Vorsehung gepriesen, daß man in jenem Hause glaubte, ich habe mich selbst getötet; denn es war mir nur zu gewiß, daß, wenn jener Schreckliche nur die entfernte Ahnung von meinem Leben habe, er kommen werde, sein Opfer zurückzuholen oder es zu verderben; denn er mochte manches Fünffrankenstück für mich bezahlt haben. Deswegen habe ich, solange ich in Piacenza war, manches schöne Anerbieten fürs Theater abgelehnt, weil ich mich scheute, öffentlich aufzutreten. Als ich aber etwa anderthalb Jahre dort war, brachte mir eines Morgens Seraphina ein Pariser Zeitungsblatt, worin der Tod des Chevalier de Planto angezeigt war.«

»Chevalier de Planto?« unterbrach sie der Arzt; »hieß so jener Mann, der Sie aus dem Hause Ihres Stiefvaters führte?«

»So hieß er; ich war voll Freude, meine letzte Furcht war verschwunden, und es stand nichts mehr im Wege, meinen Wohltätern nicht mehr beschwerlich zu fallen. Schon einige Wochen nachher kam ich nach B. Ich ging vorgestern abend auf die Redoute, und ich will Ihnen nur gestehen, daß ich recht freudig gestimmt war. Boloni durfte nicht wissen, in welchem Kostüm ich erscheinen würde, ich wollte ihn necken und dann überraschen. Auf einmal, wie ich allein durch den Saal gehe, flüstert eine Stimme in mein Ohr: ›Schepperl! was macht dein Oncle?‹ Ich war wie niedergedonnert; diesen Namen hatte ich nicht mehr gehört, seit ich den Händen jenes Fürchterlichen entgangen war; mein Oncle! ich hatte ja keinen, und nur einer hatte gelebt, der sich vor der Welt dafür ausgab, der Chevalier de Planto. Ich hatte kaum so viel Fassung zu erwidern: ›Du irrst dich, Maske!‹ ich wollte hinwegeilen, mich unter dem Gewühl der Menge verbergen, aber die Maske schob ihren Arm in den meinigen und hielt mich fest. ›Schepperl!‹ sprach der Unbekannte, ›ich rate dir, ruhig neben mir herzugehen, sonst werde ich den Leuten erzählen, in welcher Gesellschaft du dich früher umhergetrieben.‹ Ich war vernichtet, es wurde Nacht in meiner Seele, nur ein Gedanke war in mir lebhaft, die Furcht vor der Schande. Was konnte ich armes, hilfloses Mädchen machen, wenn dieser Mensch, wer er auch sein mochte, solche Dinge von mir aussagte? die Welt würde ihm geglaubt haben, und Carlo! ach, Carlo wäre nicht der letzte gewesen, der mich verdammt hätte. Ich folgte dem Mann an meiner Seite willenlos. Er flüsterte mir die schrecklichsten Dinge zu; meinen Oncle, wie er den Chevalier nannte, habe ich unglücklich gemacht, meinen Vater, meine Familie ins Verderben gestürzt. Ich konnte es nicht mehr aushalten, ich riß mich los und rief nach meinem Wagen. Als ich mich aber auf der Treppe umsah, war diese schreckliche Gestalt mir gefolgt. ›Ich fahre mit dir nach Hause, Schepperl‹, sprach er mit schrecklichem Lachen; ›ich habe noch ein paar Worte mit dir zu reden.‹ Die Sinne vergingen mir, ich fühlte, daß ich ohnmächtig werde, ich wachte erst wieder im Wagen auf, die Maske saß neben mir. Ich stieg aus und ging auf mein Zimmer, er folgte; er fing sogleich wieder an zu reden, in der Todesangst, ich möchte verraten werden, schickte ich Babette hinaus.

›Was willst du hier, Elender‹, rief ich voll Wut, mich so beleidigt zu sehen. ›Was kannst du von mir Schlechtes sagen? Ohne meinen Willen kam ich in jenes Haus; ich verließ es, als ich sah, was dort meiner warte.‹

›Schepperl, mache keine Umstände, es gibt nur zwei Wege, dich zu retten. Entweder zahlst du auf der Stelle zehntausend Franken, sei es in Juwelen oder Gold, oder du folgst mir nach Paris; sonst weiß morgen die ganze Stadt mehr von dir, als dir lieb ist.‹ Ich war außer mir; ›Wer gibt dir dieses Recht, mir solche Zumutungen zu machen?‹ rief ich; ›wohlan! sage der Stadt, was du willst; aber auf der Stelle verlasse dieses Haus! ich rufe die Nachbarn.‹

Ich hatte einige Schritte gegen das Fenster getan, er lief mir nach, packte meinen Arm; ›Wer mir das Recht gibt?‹ sprach er, ›dein Vater, Täubchen, dein Vater‹; ein teuflisches Lachen tönte aus seinem Mund, der Schein der Kerze fiel auf ein Paar graue, stechende Augen, die mir nur zu bekannt waren. In demselben Moment war mir klar, wen ich vor mir hatte; ich wußte jetzt, daß sein Tod nur ein Blendwerk war, das er zu irgendeinem Zweck erfunden hatte; die Verzweiflung gab mir übernatürliche Kraft; ich rang mich los, ich wollte ihm seine Maske abreißen. ›Ich kenne Euch, Chevalier de Planto‹, rief ich, ›aber Ihr sollt den Gerichten Rechenschaft über mich geben müssen.‹ ›So weit sind wir noch nicht, Täubchen‹, sagte er, und in demselben Augenblick fühlte ich sein Eisen in meiner Brust, ich glaubte zu sterben.« –

Der Doktor schauderte; es war heller Tag und doch graute ihm, wie wenn man im Dunkeln von Gespenstern spricht. Er glaubte das heisere Lachen dieses Teufels zu hören, er glaubte hinter den Gardinen des Bettes die grauen, stechenden Augen dieses Ungeheuers glänzen zu sehen. »Sie glauben also«, sagte er nach einer Weile, »daß der Chevalier nicht tot ist, daß es derselbe ist, der Sie ermorden wollte?«

»Seine Stimme, sein Auge überzeugten mich; das Tuch, das ich Ihnen gestern gab, machte es mir zur Gewißheit. Die Anfangslettern seines Namens sind dort eingezeichnet.«

»Und geben Sie mir Vollmacht, für Sie zu handeln? darf ich alles, was Sie mir sagten, selbst vor Gericht angeben?«

»Ich habe keine Wahl, alles! Aber nicht wahr, Doktor, Sie gehen zu Boloni und sagen ihm, was ich Ihnen sagte? Er wird Ihnen glauben, er kannte ja auch Seraphine.«

»Und darf ich nicht auch wissen«, fuhr der Medizinalrat fort, »wie der Gesandte hieß, in dessen Haus Sie sich verbargen?«

»Warum nicht? es war ein Baron Martinow.«

»Wie?« rief Lange in freudiger Bewegung, »der Baron Martinow? ist er nicht in . . . . schen Diensten?«

»Ja, kennen Sie ihn? er war Gesandter des . . . . schen Hofes in Paris und nachher in Petersburg.«

»O dann ist es gut, sehr gut«, sagte der Medizinalrat und rieb sich freudig die Hände. »Ich kenne ihn, er ist seit gestern hier; er hat mich rufen lassen; er wohnt im Hotel de Portugal.«

Eine Träne blinkte in dem Auge der Sängerin und von frommen Empfindungen schien ihr Herz bewegt. »So mußte ein Mann«, sagte sie, »den ich viele hundert Meilen entfernt glaubte, hieher kommen, um die Wahrheit meiner Erzählung zu bekräftigen! Gehen Sie zu ihm; ach, daß auch Carlo zuhören könnte, wenn er Ihnen versichert, daß ich die Wahrheit sprach!«

»Er soll es, er soll mit mir, ich will es schon machen. Adieu, gutes Kind; sein Sie recht ruhig, es muß Ihnen noch gut gehen auf Erden, und nehmen Sie die Mixtur recht fleißig, alle Stunden zwei Löffel voll!« So sprach der Doktor und ging. Die Sängerin aber dankte ihm durch ihre freundlichen Blicke. Sie war ruhiger und heiter; es war, als habe sie eine große Last mit ihrem Geheimnis hinweggewälzt; sie sah vertrauungsvoller in die Zukunft, denn ein gütiges Geschick schien sich des armen Mädchens zu erbarmen.

 

Der Baron Martinow, dem Lange früher einmal einen wichtigen Dienst zu leisten Gelegenheit gehabt hatte, nahm ihn freundlich auf, und gab ihm über die Sängerin Fiametti die genügendsten Aufschlüsse. Er bestätigte nicht nur beinahe wörtlich ihre Erzählung, sondern er brach auch in die lautesten Lobeserhebungen ihres Charakters aus; ja er versprach, wohin er in dieser Stadt kommen würde, überall zu ihren Gunsten zu sprechen, und die Gerüchte zu widerlegen, die über sie im Umlauf waren. Er hat auch Wort gehalten, denn hauptsächlich seinem Ansehen und der edelmütigen Art, womit er sich der Italienerin annahm, schrieben es ihre Freunde zu, daß die Gesinnungen des Publikums über sie in wenigen Tagen wie durch einen Zauberschlag sich änderten. Der Medizinalrat Lange aber stieg an jenem Tage, als er vom Gesandten kam, aus der Beletage des Hotel de Portugal noch einige Treppen höher, in die Mansarden; in Nro. 54 sollte der Kapellmeister wohnen. Er stand vor der Türe still, um Atem zu schöpfen, denn die steilen Treppen hatten ihn angegriffen. Sonderbare Töne drangen aus dieser Türe in sein Ohr. Es schien ein Schwerkranker darin zu sein, denn er vernahm ein tiefes Stöhnen und Seufzen, das aus der tiefsten Brust aufzusteigen schien. Dann klangen wieder schreckliche französische und italienische Flüche dazwischen, wie wenn Ungeduld dem Jammer Luft machen will, und ein heiseres Lachen der Verzweiflung bildete wieder den Übergang zu jenen tiefen Seufzern. Der Medizinalrat schauderte. Habe ich doch schon neulich etwas weniges Wahnsinn an dem Maestro verspürt, dachte er, sollte er vollends übergeschnappt sein, oder ist er krank geworden aus Schmerz? Er hatte schon den Finger gekrümmt um anzuklopfen, als sein Blick noch einmal auf die Nummer der Türe fiel; es war 53. Wie hatte er sich doch so täuschen können; fast wäre er zu einem ganz fremden Menschen eingetreten. Unwillig über sich selbst ging er eine Türe weiter; hier war 54; hier lautete es auch ganz anders. Eine tiefe schöne Männerstimme sang ein Lied, begleitet von dem Pianoforte; der Medizinalrat trat ein, es war jener junge Mann, den er gestern bei der Sängerin gesehen.

Im Zimmer lagen Notenblätter, Gitarre, Violinen, Saiten und anderer Musikbedarf umher, und mitten unter diesen Trümmern stand der Kapellmeister in einem weiten, schwarzen Schlafrock, eine rote Mütze auf dem Kopf und eine Notenrolle in der Hand; der Doktor hat nachher gestanden, es sei ihm bei seinem Anblick Marius auf den Trümmern von Karthago eingefallen.

Der junge Mann schien sich seiner von gestern zu erinnern und empfing ihn beinahe finster; doch war er so artig, einen Stoß Notenblätter mit einem Ruck von einem Sessel auf den Boden zu werfen, um seinem Besuch Platz anzubieten; er selbst stieg mit großen Schritten im Zimmer umher und sein fliegender Schlafrock nahm geschickt den Staub von Tischen und Büchern.

Er ließ den Medizinalrat nicht zum Wort gelangen, er überschrie ihn. »Sie kommen von ihr?« rief er. »Schämen sich Ihre grauen Haare nicht, der Kuppler eines solchen Weibes zu werden? Ich will nichts mehr hören; ich habe mein Glück zu Grabe getragen, Sie sehen, ich traure um meine Seligkeit; ich habe meinen schwarzen Schlafrock an, schon dies sollte Ihnen, wenn Sie sich entfernt auf Psychologie verstehen, ein Zeichen sein, daß ich jene Person für mich als gestorben ansehe. O Giuseppa, Giuseppa!«

»Wertester Herr Kapellmeister«, unterbrach ihn der Doktor, »so hören Sie mich nur an –«

»Hören? was wissen Sie von Hören? Lauschen Sie, wenn Sie von Hören sprechen; ich will prüfen, ob du Gehör hast, Alter! Siehe, das ist das Weib«, fuhr er fort, indem er den Flügel aufriß und einiges spielte, das übrigens dem Doktor, der kein großer Musikkenner war, vorkam wie andere Musik auch; »hören Sie dieses Weiche, Schmelzende, Anschmiegende? Aber bemerken Sie nicht in diesen Übergängen das unzuverlässige, flüchtige, charakterlose Wesen dieser Geschöpfe? Aber hören Sie weiter«, sprach er mit erhobener Stimme und glänzendem Auge, indem er die weiten Ärmel des Trauerschlafrockes zurückschüttelte; »wo Männer wirken, ist Kraft und Wahrheit; hier kann nichts Unreines aufkommen, es sind heilige, göttliche Laute!« Er hämmerte mit großer Macht auf den Tasten umher, aber dem Doktor wollte es wieder bedünken, als seie dies nur ganz gewöhnliche Musik.

»Sie haben da eine sonderbare Charakteristik der Menschen«, sagte er, »da wir doch einmal so weit sind, dürfte ich Sie nicht bitten, Verehrter! daß Sie mir doch einmal einen Medizinalrat auf dem Klavier vorstellten?«

Der Musiker sah ihn verächtlich an; »Wie magst du nur mit einem schlechten, quiekenden Cis hereinfahren, Erdenwurm, wenn ich den herrlichen, strahlenwerfenden Akkord anschlage!«

Die Antwort des Doktors wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen; eine kleine verwachsene Figur trat herein, machte eine Reverenz und sprach: »Der kranke Herr auf Nro. 53 läßt den Herrn Kapellmeister höflichst ersuchen, doch nicht so gar erschrecklich zu hantieren und zu haselieren, was maßen derselbe von gar schwacher Konstitution und dem zeitlichen Hinscheiden nahe ist.«

»Ich lasse dem Herrn meinen gehorsamsten Respekt vermelden«, erwiderte der junge Mann, »und meinetwegen könne er abfahren, wann es ihm gefällig. Es graut mir ohnedies alle Nacht vor seinem Jammern und Stöhnen, und das Greulichste sind mir seine gottlosen Flüche und sein tolles Lachen. Meint vielleicht der Franzose, er seie allein Herr im Hotel de Portugal? Geniert er mich, so geniere ich ihn wieder.«

»Aber verzeihen Euer Hochedelgeboren«, sagte der verwachsene Mensch, »er treibt's nicht mehr lange, wollen Sie ihm nicht die letzten Augenblicke –«

»Ist er so gar krank, der Herr?« fragte der Medizinalrat teilnehmend, »was fehlt ihm, wer behandelt ihn? wer ist er?«

»Wer er ist, weiß ich gerade nicht; ich bin der Lohnlakai; ich denke, er nennt sich Lorier und ist aus Frankreich; vorgestern war er noch wohlauf aber etwas melancholisch, denn er ging gar nicht aus, hatte auch keine Lust die Merkwürdigkeiten dieser Stadt zu sehen, aber am andern Morgen fand ich ihn schwerkrank im Bette; es scheint, er hat in der Nacht einen Schlaganfall bekommen. Aber um alle Welt will er keinen Arzt. Er flucht gräßlich, wenn ich frage, ob ich keinen zu ihm führen solle. Er pflegt und verbindet sich selbst; ich glaube, er hat auch eine alte Schußwunde aus dem Krieg, die jetzt wieder aufgegangen ist.«

Man hörte in diesem Augenblicke den Kranken nebenan mit heiserer Stimme rufen und einige Verwünschungen ausstoßen. Der Lohnlakai schlug drei Kreuze und flog hinüber.

Der Doktor versuchte noch einmal, ob seine Reden bei dem verstockten Liebhaber keinen Eingang fänden, und wirklich schien es diesmal zu gelingen. Er hatte eine Partitur in die Hand genommen, aus welcher er mit leiser Stimme vor sich hinsang; der Doktor benützte diese ruhigere Stimmung und fing an ihm das Leben der Sängerin zu erzählen. Anfangs schien der Kapellmeister nicht darauf zu achten; er las emsig in seiner Partitur und tat, als sei außer ihm niemand im Zimmer; nach und nach aber wurde er aufmerksamer, er hörte auf zu singen; bald hob sich zuweilen sein Auge über die Partitur und streifte glühend über des Doktors Gesicht, dann ließ er das Notenheft senken, und sah den Erzähler fest an, sein Interesse schien mehr und mehr zu wachsen, seine Augen glänzten, er rückte näher, er faßte den Arm des Mediziners, und als dieser seine Erzählung schloß, sprang er in großer Bewegung auf, und rannte im Zimmer auf und nieder. »Ja«, rief er, »es liegt Wahrheit darin, ein Schein von Wahrheit, eine Wahrscheinlichkeit; es ist möglich, es könnte etwa so gewesen sein; Teufel! könnte es nicht auch eine Lüge sein?«

»Das heißt man glaube ich decrescendo in Ihrer werten Kunst, Herr Kapellmeister; aber warum denn bei dieser Sache so von der Wahrheit bis zur Lüge herabsteigen? Wenn ich Ihnen nun einen Bürgen für die Wahrheit stellte? Maestro, wie dann?«

Boloni blieb sinnend vor ihm stehen: »Ha! wer dieses könnte, Medizinalrat, in Gold wollte ich dich fassen, schon dieser Gedanke verdient groß und königlich belohnt zu werden. Ja! wer mir Bürge wäre! – Es ist alles so finster – verworrene Labyrinthe – kein Ausgang – kein leitendes Gestirn!«

»Wertgeschätzter Freund«, unterbrach ihn der Doktor; »ich ertappe Sie hier auf einer Reminiszenz aus Schillers ›Räubern‹, so in der Cottaschen Taschenausgabe stehet, wenn ich mich recht erinnere. Demungeachtet weiß ich einen solchen Bürgen, ein solches leitendes Gestirn.«

»Ha! wer mir einen solchen gäbe!« rief jener; »er sei mein Freund, mein Engel, mein Gott – ich will ihn anbeten!«

»Es ist zwar in der angeführten Stelle von einem Schwert die Rede, womit man der Otternbrut eine brennende Wunde versetzen will; nichtsdestoweniger aber will ich Sie überzeugen; jener Gesandte, der die arme Giuseppa in seinem Hause aufnahm, logiert zufällig hier im Hause auf Nr. 6; belieben Sie einen Frack anzuziehen und ein Halstuch umzuknüpfen, so werde ich Sie zu ihm führen; er hat mir versprochen, Sie zu überzeugen.«

Der junge Mann drückte gerührt die Hand des Arztes, doch auch jetzt noch konnte er ein gewisses erhabenes Pathos nicht verbergen. »Ihr wart mein guter Engel«, sagte er; »wie vielen Dank bin ich für diesen Wink Euch schuldig; ich fahre nur geschwind in meinen Frack, und sogleich folg ich Euch zu dem Gesandten.«

 


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