Wilhelm Hauff
Novellen
Wilhelm Hauff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6

Von allen seinen früheren reichsfreiherrlichen Rechten war dem alten Thierberg nur die Ernennung, oder wie man es dort nannte, die Präsentation des Schulmeisters übriggeblieben, und er verwünschte auch diesen letzten Rest ehemaliger Größe und Gewalt, als er nachmittags zwei Schulamtskandidaten mit dem Thierberger Prediger ins Schloß treten sah. Er hieß seinen Neffen allein in den Wald vorausgehen und versprach bald zu folgen. Der junge Mann wanderte langsam jenen Weg hinan, welchen ihn Anna zuerst geführt hatte. Oft stand er stille und sah zurück auf diese altertümliche Burg, und gerne verweilte sein Auge auf jenem Turm, in dessen Zimmerchen Anna wohnte. Wie liebte er dieses klare, ruhige, natürliche Wesen, gepaart mit so viel Anstand und mit so feiner Bildung! Er konnte sich auf nichts Ähnliches besinnen. Oft wollten zwar in seiner Erinnerung die Damen der Mark diesem Schwabenkind den Vorrang streitig machen. Es deuchte dem jungen Mann, er habe elegantere Formen gesehen, gewandter, zierlicher sprechen gehört, er rief sich jede einzelne Schönheit, die ihn sonst bezauberte, zurück, aber er bekannte, daß es gerade diese Unbefangenheit, diese Ruhe sei, was ihm so überraschend, so neu, so liebenswürdig erschien. Sie ist zu verständig, zu ruhig, zu klar, um jemals recht lieben zu können, fuhr er in seinen Gedanken fort, aber schätzen wird sie mich, sie wird Interesse an mir finden. Und gerade diese Klarheit, diese Art, über das Leben zu denken, muß ihr andere, bessere Verhältnisse längst wünschenswert gemacht haben. Bequeme, elegante Wohnung, eine geschmackvolle Garderobe, Wagen, Pferde, Bediente, eine ausgesuchte Bibliothek, das sind die Dinge, welche in einem solchen kalten Herzen die Liebe ersetzen; so unbefangen sie ist, so weiß sie doch in ihrer Unbefangenheit die Dame recht wohl zu spielen, und wirklich – es muß ihr als Frau von Rantow allerliebst stehen!

Der junge Mann war unter diesen Träumen einer schönen Zukunft auf einer Höhe angelangt, wo er einen Teil des reizenden Neckartales überschauen konnte. Vorwärts zu seiner Linken gewahrte er eine Waldspitze, die weit vorsprang, und ihm die Aussicht auf den andern Teil des Tales verdeckte. Er verglich sie mit der Lage des Schlosses und fand, es müsse dieselbe Bergspitze sein, von welcher gestern jene süßen Flötenklänge herübertönten. Von dort aus, hatte ihm Anna gesagt, könne man einen weiten, freien Blick über das ganze Tal genießen, und rasch beschloß er, nicht erst den Oheim abzuwarten, sondern im Genuß einer herrlichen Aussicht auf jener Waldecke seinen Gedanken nachzuhängen. Er hatte sich die Richtung gut gemerkt, und nicht lange, so trat er auf diesen reizenden Platz heraus. Das Tal schwenkte sich in einem schönen Bogen an Thierberg vorüber um diese Bergecke. Rechts und bei weitem näher, als Albert gedacht hatte, lag die Burg, durch eine breite Waldschlucht von dieser Stelle getrennt. Man konnte mit einem guten Fernglas deutlich in die Fenster von Thierberg sehen, und der junge Mann ergötzte sich eine Zeitlang an den Zügen des Pastors und seines Oheims, die in eifrigem Gespräch an der Fensterbrüstung standen. Auch Annas Turmfenster war geöffnet, aber statt ihrer holden Züge sah man nur einen kleinen Orangenbaum, den sie an die Sonne gestellt hatte. In der Mitte des Tales zog in kleineren Bogen der Neckar hin, viele freundliche Halbinseln bildend, und in kleiner Entfernung entdeckte das Auge des jungen Mannes ein neues Schloß, in dessen Fenstern sich die Mittagssonne spiegelte. Es war in gefälligem, italienischem Stil aufgebaut, die Säulen und der Balkon, schlank und zierlich, machten einen sonderbaren Kontrast mit den dunkeln schweren Mauern des Thierbergs zu seiner Rechten, und wie diese Burg auf der Nordseite des Gebirges auf einem steilen Waldberg hing, so ruhte jenes schöne Lustschloß auf der Südseite gegenüber an einem sanften Rebhügel, dessen reinlich und nett angelegten Geländer und Spaliere sich bis an den Fluß herabzogen. Albert war in diesen reizenden Anblick versunken, und dachte nach über diesen Gegensatz, welchen die beiden Schlösser, wie Bilder der alten und neuen Zeit, hervorbrachten, als feste Männertritte hinter ihm durch das Gebüsch rauschten, und ihn aus seinen Betrachtungen weckten. Er wandte sich um, und war vielleicht nicht weniger erstaunt, als der Mann, der jetzt durch die letzten Büsche brach und vor ihm stand. – Es war sein Gefährte vom Eilwagen. Er hatte eine Jagdtasche übergeworfen, trug eine Büchse unter dem Arm, und zwei große Windhunde stürzten hinter ihm aus dem Gebüsch.

»Wie! ist es möglich!« rief der Jäger, und blieb verwunderungsvoll stehen; »ich hätte mir noch eher einfallen lassen, hier auf einen Adler, denn auf Sie zu stoßen!«

»Sie sehen, ich benütze Ihren Rat«, erwiderte der junge Mann, »ich durchspüre jeden Winkel Ihres Landes nach schönen Aussichten –«

»Aber wie kommen Sie hieher?« fuhr jener fort, indem er ihn aufmerksamer betrachtete, »und Sie sind auch nicht auf der Reise, wie ich sehe, haben Sie sich in der Nähe eingemietet?«

Albert deutete lächelnd auf die alte Burg hinüber. »Dort – und gestehen Sie«, sagte er, »ich hätte keinen schöneren Punkt wählen können.«

»In Thierberg?« rief der Jäger mit steigendem Erstaunen, indem er auf einen Augenblick leicht errötete; »wie, ist es möglich, in Thierberg? oder sind vielleicht gar Thierbergs die Verwandten, die –«

»Die ich in der Stadt besuchen wollte und hier auf ihrem Landsitz traf. Ich segne übrigens diesen Geschmack meines Oheims«, setzte Albert mit einer Verbeugung hinzu, »da er mich aufs neue in die Nähe meines angenehmen Reisegesellschafters führte.«

»So wären Sie vielleicht ein Rantow aus Preußen?« fragte der Jäger aufs neue.

»Allerdings«, antwortete der Gefragte, »aber wie folgern Sie dies? sind Sie vielleicht mit meinem Oheim bekannt?«

»Ich besuche ihn zuweilen«, sagte jener mit einem langen Seitenblick auf das alte Schloß, »ich bin gerne dort; doch beinahe hätte ich das Glück gehabt, Ihre Bekanntschaft noch früher zu machen; ich reiste vor einem Jahr in Ihre Heimat, und auf den Fall, daß mich meine Straße über Fehrbellin geführt hätte, war ich mit einem Brief an Ihre Eltern versehen, mit einem Brief von Ihrem Oheim selbst. – Aber, habe ich zuviel gesagt, wenn ich von den Reizen unseres Neckartales sprach? Finden Sie nicht alles hier vereinigt, was man immer für das Auge wünschen kann?«

»Ich dachte schon vorhin darüber nach«, versetzte Rantow; »wie verschieden ist der Charakter dieser beiden Berge zur Seite des Tales! Hier dieser dunkle Wald, mit Schluchten und Felsenrissen, durch welche sich Bäche herabgießen, die alte Burg, halb Ruine, auf diese jäh abbrechende Wand hinausgerückt. Jenseits die sanften, wellenförmigen Rebhügel, mit bläulichroter Erde und dem sanften Grün des Weins. Und diese Kontraste durch das lieblichste Tal, durch den Fluß vereinigt, der bald hierhin bald dorthin zu den Bergen sich wendet! Wahrhaftig, es müßte nichts Angenehmeres sein, als auf einer dieser grünen Halbinseln ein einsames Idyllenleben zu führen!«

»Ja«, entgegnete der Jäger lächelnd, »wenn der Fluß nicht in jedem Frühjahre austräte, und Dämon, die Hütte und – seine Daphne zu entführen drohte! Aber waren Sie schon unten im Tal?«

»Noch nicht, und wenn etwa Ihr Weg hinabführt, werde ich Sie gerne begleiten.«

Der Jäger lockte seine Hunde und schlug dann einen Seitenpfad ein, der in die Tiefe führte. Rantow, der hinter ihm ging, bewunderte den schlanken Bau, den kräftigen Schritt und die gewandten Bewegungen des jungen Mannes. Er war einigemal versucht zu fragen, wer er sei, wo er wohne; aber es lag etwas so Bestimmtes, Überwiegendes in seinem ganzen Wesen, daß er diese Frage immer wieder auf eine bequemere Zeit verschob. Im Tal wandte sich der Jäger stromabwärts; Kinder und Alte, die ihnen begegneten, grüßten ihn überall freundlich und zutraulich; manche blieben wohl auch stehen und schauten ihm nach. Oft stand er stille und machte den Fremden auf jeden schönen Punkt aufmerksam, erzählte ihm von der Lebensart der Leute, von ihren Sitten und ländlichen Festen.

Der Weg bog jetzt um den Berg und plötzlich standen sie dem neuen Schloß gegenüber, das Albert von der Höhe herab gesehen hatte. »Welch herrliches Gebäude!« rief er, »wie malerisch liegt es in diesen Weinbergen! Wem gehört dieses Schloß?«

»Meinem Vater«, erwiderte der Jäger freundlich. »Ich denke, Sie setzen mit mir über und versuchen den Wein, der auf diesen Hügeln wächst?«

Gerne folgte der junge Mann dieser einfachen Einladung; sie gingen ans Ufer, wo der Jäger einen Kahn losband; er ließ seinen Gast einsteigen und ruderte ihn leicht und kräftig über den Fluß. Auf reinlichen, mit feinem Kies bestreuten Wegen, durch hohe Spaliere von Wein gingen sie dem Schloß zu, dessen einfach schöne Formen in der Nähe noch deutlicher und angenehmer hervortraten, als aus der Ferne betrachtet. Unter dem schattigen Portal, das vier Säulen bildeten, saß ein Mann, der aufmerksam in einem Buche las. Als die jungen Männer näher kamen, stand er auf und ging ihnen einige Schritte entgegen. Er war groß, aufrecht und hager, und etwa zwischen fünfzig und sechszig Jahre alt. Ein schwarzes, blitzendes Auge, eine kühn gebogene Nase, die dunkelbraune Gesichtsfarbe und eine hohe, gebietende Stirne, wie seine ganze Haltung, gaben ihm etwas Auffallendes, Überraschendes. Er trug einen einfachen militärischen Oberrock, ein rotes Band im Knopfloch, und noch ehe er ihm vorgestellt wurde, wußte der junge Rantow aus diesem allem, daß es der General Willi sei, vor welchem er stand. Ihn selbst stellte der junge Willi als Vetter der Thierbergs und als seinen Reisegefährten vor.

Der General hatte eine tiefe, aber angenehme Stimme; er antwortete: »Mein Sohn hat mir von Ihnen gesagt; Ihre Mutter kenne ich wohl, habe sie früher in der Residenz gesehen. Als wir nach Schlesien marschierten, wurde ich nach Berlin geschickt; ich blieb vier Wochen bei der Feldpost dort, und ritt während dieser Zeit mehreremal nach Fehrbellin hinüber, Ihre Eltern zu besuchen.«

»Wahrhaftig!« rief der junge Mann; »ich erinnere mich, mehrere französische und deutsche Offiziere damals in unserem Haus gesehen zu haben; es müßte mich alles täuschen, Herr General, oder ich kann mich noch Ihrer erinnern. Ihre Uniform war grün und schwarz und einen großen grünen Busch trugen Sie auf dem Hut. Sie ritten einen großen Rappen.«

»Ach ja, die alte Leda!« sagte der General; »sie hat treu ausgehalten bis an die Beresina; dort liegt sie zwanzig Schritte von der Brücke im Sumpf. Es war ein gutes Tier, und in der Garde nannte man sie le diable noir. – Grüne Büsche sagen Sie? – richtig, ich diente damals unter den Schwarzen Jägern von Württemberg. Ein braves Korps, bei Gott! Wie haben sich diese Leute bei Linz geschlagen!«

»War es damals«, bemerkte Rantow, »als Marschall Vandamme, den Gott verdamme, äußerte: Ces bougres là se battent comme nous!?«

»Sie haben da eine sonderbare Übersetzung des Namens Vandamme, doch – ach! Sie sind ein Preuße, gut! ich gebe zu, der General Vandamme war verhaßt, besonders in der süddeutschen Armee; er wußte es auch recht gut, aber seine Bewunderung über die Bravour jener Soldaten hätte er vielleicht artiger, aber nie mit mehr Wahrheit ausdrücken können.«

Sie waren unter diesen Worten bis unter das Portal des Hauses getreten; ein Buch lag dort aufgeschlagen, der junge Willi sah es lächelnd an und sagte: »Zum sechstenmal, mein Vater?«

»Zum sechstenmal«, erwiderte jener, indem auch durch seine ernsten Züge ein leichtes Lächeln ging. »Sie sehen, Herr von Rantow, man zieht oft die Kinder nur dazu auf, daß sie ihre Eltern nachher wieder aufziehen. So kann er es nicht recht leiden, daß ich gewisse Bücher oft lese; und doch ist es ein guter Grundsatz, nicht vielerlei Bücher, aber wenige gute öfter zu lesen.«

»Sie haben recht«, erwiderte Rantow, »und darf ich wissen, welches Buch Sie zum sechstenmal lesen?« Der General bot es ihm schweigend.

»Ah! die schöne Fabel von 1812«, rief Albert, »der Feldzug des Grafen Segur? Nun, ein Gedicht wie dieses darf man immer wieder lesen, besonders wenn man wie Sie den Gegenstand kennengelernt hat.«

»Sie nennen es Gedicht?« fragte der General. »Da Sie nicht aus Erfahrung sprechen können, ist wohl General Gourgaud Ihr Gewährsmann. Aber ich kann Sie versichern, in diesem Buch ist so furchtbare Wahrheit, so traurige Gewißheit, daß man das wenige, was Dichtung ist, darüber vergessen kann. Die Figuren in diesem Gemälde leben, man sieht ihren schwankenden Marsch über die Eisfelder, man sieht brave Kameraden im Schnee verscheiden, man sieht ein Riesenwerk, jene große, kampfgeübte Armee durch die Ungunst des Schicksals in viele tausend traurige Trümmer zerschlagen. Aber ich liebe es, unter diesen Trümmern zu wandeln, ich liebe es an jene traurigen, über das Eis hinschwankenden Männer mich anzuschließen, denn ich habe ihr Glück und – ihr Unglück geteilt.«

»Ich bewundere nur deine Geduld, Vater«, erwiderte der Sohn; »du kannst diese französische Tiraden, die, wenn man sie in nüchternes Deutsch auflöst, beinahe lächerlich erscheinen, lesen und immer wieder lesen! Ich erinnere mich aus diesem berühmten Buch einer solchen Stelle, die im Augenblick das Gefühl besticht, nachher, mich wenigstens, lächeln machte. Die Armee hat sich in größter Unordnung hinter Wilna zurückgezogen. Die Russen sind auf den Fersen. Eine Zeitlang imponiert ihnen noch die Nachhut des Heeres, aber bald löst sich auch diese auf, und die ersten der Russen, indem sie einen Hohlweg heraufdringen, mischen sich schon mit den letzten der Franzosen. Segur schließt seine Periode mit den Worten: ›Ach! es gibt keine französische Armee mehr! – Doch es gibt noch eine‹, fährt er fort: ›Ney lebt noch; er reißt dem nächsten das Gewehr aus der Hand‹ usw. Kurz, der edle Marschall tut in übertriebenem Eifer noch einige Schüsse auf den Feind und repräsentiert gleichsam in sich selbst die halbe Million Soldaten, die Napoleon gegen Rußland ins Feld führte. Ist dies nicht mehr als dichterisch, ist dies nicht lächerlich überstiegen?«

»Ich erinnere mich noch recht wohl jenes Moments, und so grausam unser Schicksal, so gedrängt unser Rückzug war, so ließ er uns doch einige Augenblicke frei, diesem Krieger und seiner wahrhaft antiken Größe unsere Bewunderung zu zollen. Wenn du bedenkst, wie es von großer Wichtigkeit war, daß er mit wenigen Tapfern jenes Defilee eine Zeitlang gegen den Feind behauptete, daß er und die Seinen allerdings in diesem Augenblick noch die einzigen wirklichen Kombattanten waren, die den Russen die Spitze boten, so wird dich jener Ausdruck weniger befremden; ich wenigstens danke es Segur, daß er auch jenem erhabenen Moment einen Denkstein setzte.«

»Also ist jene Szene wahr?« fragte Rantow.

»Gewiß! und eine schöne, großartige Idee liegt darin, daß man weiß, wer von der großen Armee zuletzt gegen die Russen schlug, daß es Ney war, welchen jener hohe Ruhm, der ihm sogar aus diesem Rückzug sproßte, die Handgriffe des gemeinen Soldaten nicht vergessen ließ. Er war, wie Hannibal, der letzte beim Rückzug.«

»Was sagen Sie aber über jenen, welcher der Erste in der Armee und der erste beim Rückzug war?« bemerkte Rantow. »Ich glaube, zwanzig Jahre früher hätte er jeden Schritt mit seinen Garden verteidigt –«

»Und zwanzig Jahre später vielleicht auch«, fiel ihm der General ins Wort, »und wäre vielleicht als Greis eines schönen Todes mit seinen Garden gestorben. Anno 13, werden Sie aber wohl wissen, war er Kaiser eines Landes, von welchem er, ohne Nachricht, ohne Hülfe, auf so viele hundert Meilen getrennt war. Was hielt ihn bei der Armee, nachdem unser Unglück entschieden war? Glauben Sie nicht, daß er etwas Ähnliches, wie den Abfall Ihres York, geahnt hat! Mußte er nicht in Frankreich frische Mannschaft holen?«

»Warum zog er gegen Asien zu Feld, der neue Alexander«, sagte Rantow spöttisch lächelnd, »wenn er ahnte, daß das Preußenvolk in seinem Rücken nur darauf laure, ihm den Todesstreich zu geben? War dies die gerühmte Klugheit des ersten Mannes des Jahrhunderts?«

»Glauben Sie, junger Mann«, erwiderte der General, »der Kaiser war erhaben über einen solchen Verdacht. Er wußte, daß Ihr König ein Mann von Ehre sei, der ihn im Rücken nicht überfallen werde; er wußte auch, daß Preußen zu klug sei, um à la Don Quijote die große Armee allein anzugreifen.«

»Preußen war ihm nichts schuldig«, rief der junge Mann errötend; »man weiß, wie Buonaparte selbst seine Friedensbündnisse gehalten hat; man war nicht schuldig, zu warten, bis es dem großen Mann gefällig sei, die Kriegserklärung anzunehmen. Der Gefesselte hat das Recht, in jedem günstigen Augenblicke seine Fesseln zu zerreißen, und sollte er auch den damit zertrümmern müssen, der sie ihm anlegte.«

»Nun, Vater«, setzte der junge Willi hinzu, »das ist es ja, was ich schon lange sagte, wenn ich den Aufstand des ganzen Deutschlands in Schutz nahm. Wer gab den Franzosen das Recht, uns in Ketten und Bande zu schlagen? Unsere Torheit und ihre Macht! Wer gab uns das Recht, ihnen das Schwert zu entwinden und die Spitze gegen sie selbst zu wenden? Ihre Torheit und unsere Macht

»Ich gebe zu«, antwortete der General mit Ruhe, »daß man im Volk, vielleicht auch unter Politikern, also spricht und sprechen darf. Niemals aber darf der Soldat diese Sprache führen, um eine schlechte Tat zu beschönigen. Es gibt manche glänzende Verrätereien in der Geschichte; die Zeiten, wo sie begangen wurden, waren vielleicht mit der Gegenwart so sehr beschäftigt, daß man die Verräter gepriesen hat; aber die Nachwelt, welche die Gegenstände in hellerem Lichte sieht, hat immer gerecht gerichtet, und manchen glänzenden Namen ins schwarze Register geschrieben. Auch die Sache des Kaisers wird die Nachwelt führen. So viel ist aber gewiß, daß zu allen Zeiten, wo es Soldaten gibt, einer, der seine Fahne verläßt, immer für einen Schurken gelten wird.«

»Ich gebe dies zu«, erwiderte Rantow, »nur sehe ich nicht ein, wie dies den übereilten Zug nach Rußland entschuldigen könnte.«

»Meinen Sie denn, der Zustand Preußens sei uns so unbekannt gewesen?« fragte der General; »man wußte so ziemlich, wie es dort aussah. Ich war von Mainz bis Smolensk im Gefolge des Kaisers und namentlich in deutschen Provinzen oft an seiner Seite, weil ich die Gegenden kannte, und manchmal in seinem Namen Fragen an die Einwohner tun mußte. In den preußischen Stammprovinzen fiel ihm und uns allen die Haltung und das Ansehen der jungen Leute auf. Das ganze Land schien von Beurlaubten angefüllt, und doch waren es immer nur die jungen Männer, die hier geboren und erzogen waren. Die Haare waren ihnen militärisch verschnitten, ihre Haltung war aufgerichtet, geregelt; sie standen selten wie faule, müßige Gaffer da, wenn der Kaiser und sein Gefolge vorüberzog. Nein, sie machten Front, wenn sie ihn sahen, die Füße standen eingewurzelt, der linke Arm straff angezogen und an die Seite gedrückt, das Auge hatte die regelrechte Richtung und die rechte Hand machte ihren Soldatengruß. Es waren dies keine Bauerbursche mehr, sondern Soldaten, und der Kaiser wußte wenigstens, daß nicht die ganze preußische Armee mit ihm ziehe.«

»Er ließ einen gefährlichen, beleidigten Feind in seinem Rücken«, bemerkte Rantow.

»Ein gefährlicher Feind, Herr von Rantow, ist etwa eine beleidigte Schlange, aber nicht eine Armee, nicht Männer von Ehrgefühl. Das preußische Heer hatte sich mit der großen Armee vereinigt, und sobald dies geschehen war, stand sie unter dem Oberbefehl des ersten Kriegers dieser Armee; in dieser Eigenschaft hatten wir weder von ihnen noch von den Zurückgebliebenen etwas zu fürchten; die Untergebenen band ihr Eid an ihre Fahnen, und die Generale, die Repräsentanten dieser Fahnen, band ihre Ehre. Wenn Sie die Sache aus diesem natürlichen Gesichtspunkt betrachten wollen, so werden Sie am Betragen des Kaisers bei Beginn jenes unglücklichen Feldzuges nichts Übereiltes oder Unkluges finden.«

»Das preußische Heer, das gezwungen mit ausrückte«, erwiderte der junge Mann, »gehörte nicht diesem Kaiser der Franzosen, sondern seinem rechtmäßigen König, und in demselben Augenblick, als dieser sie ihrer Pflichten gegen jenen ersten Krieger entband –«

»Konnten sie gegen uns selbst die Waffen richten«, fiel der General ein; »da haben Sie vollkommen recht; sie konnten ihre Karrees bilden, uns den Gehorsam weigern, und, im Fall des Zwanges, Feuer auf unsere Kolonnen geben, sie konnten sich im Angesicht der Armee mit den Russen vereinigen, sie durften dies alles tun –«

»Nun ja – das war es ja eben, was ich meinte –«

»Nein, Herr! das war es nicht«, fuhr jener eifrig fort. »Nur erst, verstehn Sie wohl, nur dann erst wann ihr König sie ihres Eides entband, konnten sie den Gehorsam verweigern, sie mußten es sogar, auch auf die Gefahr hin, zugrunde zu gehen. Solange dies nicht der Fall war, handelten sie, wenn sie feindlich auftraten, als Verräter an ihrer Ehre und sogar an ihrem König; denn die Ehre des Königs, der die Befehlshaber gewählt hatte, bürgte gleichsam für ihr Betragen.«

»Nun – wenn ich auch dies von den Befehlshabern zugebe«, erwiderte Rantow, »so hat wenigstens die Armee immerhin ihre Pflicht getan.«

»In diesem Fall nimmermehr!« rief der General; »wenn der Chef keinen Befehl seines Herrn vorweisen kann, um seine Schritte zu entschuldigen, und dennoch seine Schuldigkeit nicht tut, oder sogar zum Verräter wird, und zum Verräter, nicht für sich allein, sondern mit einem ganzen Korps, so hat jeder Offizier, jeder Soldat hat das Recht ihn vor der Front vom Pferd zu schießen!«

»Ei, Vater! –« rief der junge Willi.

»Mein Gott, dies denn doch nicht«, rief zugleich der Fremde; »einen General en chef vom Pferd zu schießen!«

»Und wenn man es unterlassen hat«, fuhr jener mit blitzenden Augen fort, »so hat man seine Pflicht versäumt. Aber ich kenne noch recht wohl jene schändliche Zeit und die Motive, die damals die Handlungen der Menschen lenkten; Wölfe und Tiger waren sie geworden, die menschliche Natur hatte man ausgezogen, Treue, Ehre, Glauben, alles verloren, und für Heroismus galt damals, was sonst für eine Schandtat gegolten hätte!«

»Nun, etwas Herrliches und Erhabenes, was sich damals offenbarte, werden Sie doch nicht leugnen können«, sprach der Märker, »der allgemeine Enthusiasmus, womit das ganze Volk aufstand, war doch wirklich erhaben, ergreifend!«

»Das ganze Volk? – aufstand?« rief der General bitter lachend, »da müßte Deutschland erst auferstehen, ehe die Deutschen aufstünden. Es war bei manchem ein schöner, aber unkluger Eifer, bei einigen Haß, bei vielen Übermut, bei den meisten war es Sache der Mode; und Sie vergessen, daß Östreich, Bayern, Württemberg, daß Schwaben und Franken nicht, was Sie sagen, aufstanden, und denn doch auch zu Deutschland gehörten. Und Ihre Enthusiasten selbst, vor diesen wären wir gewiß nie aus Sachsen gewichen!«

»Wenn es ihnen auch an jenen gerühmten Eigenschaften eines alten, gedienten Soldaten gebrach, wahrhaftig, ihr Wille war schön, ihre Taten groß, und ihre Einheit, ihre Aufopferung ersetzte vieles –«

»Einheit? Aufopferung? Wir nahmen, es war schon auf französischem Boden, einmal ein solches Individuum gefangen. Es war ein junger, schön geputzter Mann. Der Kaiser hatte von diesen Volontärs sprechen gehört, man hatte ihm ihre Kleidung, ihre Haltung überaus komisch beschrieben; er ließ daher den Gefangenen vortreten. Als dieser den Kaiser erblickte, geriet er in augenscheinliche Verwirrung, dachte nicht mehr daran, daß er selbst Soldat geworden sei, und gegen den größten Krieger zu Feld ziehe, sondern er nahm seinen Tschako am Schild, riß ihn nach gewöhnlicher, bürgerlicher Weise vom Kopf, daß der schöne Federbusch elendiglich in den Kot hing, und kratzte mit dem Fuß hinten aus. Der Kaiser ließ ihn durch mich fragen, ob er unter den deutschen Freiwilligen diene? Jener aber verbeugte sich noch einmal und sagte: ›Ich bin vom Frankfurter Korps der Rache.‹ Der Kaiser konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, und als er weiterritt, wandte er sich noch einmal um. Der Sohn der Rache stand noch immer ganz verblüfft unter einem Haufen von Franzosen, und jetzt erst schien er aus einem Traum zu erwachen, er mochte sich auf die schöne Zeile zurückwünschen. Der arme Teufel sah aus, als wäre er ein Volontaire malgré lui, als hätte er nur seinem Schatz zu Gefallen sich in dem Korps der Rache einschreiben lassen. Und dieser Rächer kehrte nicht mehr hinter den Ladentisch seines Vaters heim. Ich sah ihn sechs Tage nachher, ohne Beine, sterbend wieder, seine eigenen Landsleute hatten ihn in unsern Reihen getötet. Und von solchen Menschen verlangen Sie Einheit – Aufopferung?«

Der Preuße hatte dem General unmutig zugehört, es kam ihm vor, als liege in den Zügen dieses Mannes Spott und Verachtung einer Sache, die er immer als etwas Ungeheures, Welthistorisches, Großartiges zu betrachten gewöhnt gewesen war. Der junge Willi sah diese unangenehmen Gefühle, die mit der Ehrfurcht vor dem General in Rantows Brust zu kämpfen schienen. Er nahm daher schnell das Wort und sagte: »Du warst damals auf feindlicher Partei, lieber Vater, du sahst alles in einem andern Lichte, und ich zweifle, ob nicht eure jungen Konskribierten sich auf ähnliche Weise benommen hätten. Aber wahr bleibt es immer, und jedem unbefangenen Auge noch jetzt sichtbar, daß damals ein erhabener, ungewöhnlicher Geist unter dem Volke, hauptsächlich im Norden wehte; die Mittelstände vorzüglich haben gezeigt, daß sie einer bewunderungswürdigen Kraftäußerung fähig seien, und darauf, so schlecht auch die Zeiten sind, kann man noch immer einige Hoffnung gründen.«

Rantow sah den jungen Mann bei den letzten Worten befremdet an, als wüßte er sich diesen Satz nicht zu erklären; doch erfreut, seine eigenen Gesinnungen wiederholt zu hören, wandte er sich wieder an den General. »Er hat recht«, sagte er, »auf feindlicher Seite konnten Sie das rührende Bild dieser Aufopferung nicht so genau kennen lernen. Aber die großen Worte unserer Redner, die feurigen, aufrufenden Lieder unserer Sänger, die begeisternde Aufopferung unserer Frauen, sie gaben verbunden mit dem Mut, der frommen Kraft und der gottgeweihten Hingebung unserer Jünglinge und Männer, Szenen, die ebenso erhaben als unvergeßlich sind.«

»Und wofür denn dieses alles?« fragte der alte Soldat, »wozu so große Aufopferungen? was hat man damit erreicht und errungen? ließ sich dies alles nicht voraussehen?«

»Und was haben denn Sie, Herr General, auf jener Seite erreicht und errungen? Das ist einmal das Schicksal alles menschlichen Lebens und Treibens, daß man kämpft, sich hingibt, aufopfert, um am Ende nichts, oder wenig zu erreichen. Zwanzig Jahre haben Sie jenem Mann geweiht, jenem Eigensüchtigen, der nur sich und immer nur sich bedachte? Jetzt liegt er auf einem öden Felsen, seine Genossen sind zerstreut aufgerieben – was, was haben denn Sie gewonnen?«

»Ein Endchen rotes Band und die Erinnerung«, antwortete er lächelnd, indem er mit einer Träne im Auge auf seine Brust herabsah. Es lag etwas so Ergreifendes, Erhabenes in dem Wesen des Mannes, als er diese Worte sprach, daß Rantow, errötend, als hätte er eine Torheit gesagt, seine Augen von ihm abwandte und betreten den Sohn ansah. Doch dieser schien nicht auf das Gespräch zu merken, er blickte unverwandt und eifrig auf ein kleines Gebüsch am Fluß, von welchem man eben das Plätschern eines Ruders vernahm; jetzt teilten sich die Zweige der Weiden, und ein schöner Mädchenkopf bog sich lächelnd daraus hervor.


 << zurück weiter >>