Wilhelm Hauff
Novellen
Wilhelm Hauff

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3

Überrascht stand der junge Mann stille, als sie aus dem dichten Holz durch eine Wendung des Weges auf einmal dem Schloß gegenüberstanden. Die Bewohner des südlichen Deutschlands sind von Jugend auf an Anblicke dieser Art gewöhnt. Man trifft in Franken und Schwaben selten ein Tal von der Länge einiger Stunden, in welches nicht eine Burg oder zum mindesten »ein gebrochener Turm und ein halbes Tor« herabschauten. Die natürliche Beschaffenheit des Landes, die vielen Berge und kleinen Flüsse, überdies die eigentümliche Verfassung des zahlreichen Landadels begünstigten oder nötigten in früherer Zeit zu diesen befestigten Wohnungen. Aber der Norden unseres Vaterlandes trägt weniger Spuren dieser alten Zeit; die weiten Ebenen boten keine so natürliche Befestigung, wie die Felsen und Gebirgsausläufer des Süden, und hatte auch hier und dort eine solche Feste im platten Land gestanden, so war sie nur desto schneller dem Verfall und der Zerstörung preisgegeben. Die Nachbarn teilten sich brüderlich in die teuren Steine, und ihr Gedächtnis verwehte der Wind, der über die Ebene hinstrich. Darum war es dem jungen Mann aus der Mark ein so überraschender Anblick, sich in solcher Nähe einer dieser altertümlichen Burgen gegenüberzusehen, um so überraschender, da er durch diese düsteren, tiefen Tore als Gast einziehen, in jenem altertümlichen Gemäuer wohnen sollte. Doch bald erfüllte kein anderer Gedanke mehr als der malerische Anblick, der sich ihm darbot, seine Seele. Der alte schwärzlich graue Wartturm war auf der Mittagsseite von oben bis in den Graben hinab mit einem Mantel von Efeu umhängt. Aus den Ritzen der Mauer sproßten Zweige und grüne Ranken, und um das Tor zog sich ein breites Rebengeländer, dessen zarte Blätter und Fasern sich mit sanfter Gewalt um die rostigen Angeln und Ketten der Zugbrücke geschlungen hatten. Zur rechten Seite des Schlosses hinderte der dunkle Wald die Aussicht, aber links, an den hohen Mauern vorüber tauchte das Auge hinab in die Tiefe des schönen fruchtbaren Neckartals, schweifte hinauf, den Fluß entlang, zu Dörfern und Weilern und weit über die Weinberge hin nach fernen, blauen Gebirgen.

»Das ist unser Thierberg«, sagte das Fräulein; »es scheint, die Gegend habe einigen Reiz für Sie, Vetter, und ich möchte Ihnen wahrlich raten, recht oft aus dem Fenster zu sehen, um vor unserer Einsamkeit und diesem häßlichen alten Gemäuer nicht zu erschrecken!«

»Ein häßliches Gemäuer nennen Sie diese alte Burg?« rief der Gast; »kann man etwas Romantischeres sehen, als diese Türme mit Efeu bewachsen, diesen Torweg mit den alten Wappen, diese Zugbrücke, diese Wälle und Graben? Glaubt man nicht das Schloß von Bradwardine oder irgendein anderes aus Scottischen Romanen zu sehen? Erwartet man nicht, ein Sickingen, ein Götz werde uns jetzt eben aus dem Tor entgegentreten –«

»Für diesmal höchstens ein Thierberg«, erwiderte das Fräulein lachend, »und auch von diesen spukt nur noch einer in den fatalen Mauern. Dergleichen Türme und Zinnen liebe ich ungemein in einem Roman oder in Kupfer gestochen, aber zwischen diesen Mauern zu wohnen, so einsam, und winters, wenn der Wind um diese Türme heult und das Auge nichts Grünes mehr sieht, als jenen Eppich dort am Turm – Vetter! mich friert schon jetzt wieder, wenn ich nur daran denke. Doch kommt, Herr Ritter, das Burgfräulein will Euch selbst einführen.«

Der düstere, schattenreiche Hof, in welchen sie traten, kühlte etwas die warme Begeisterung des Gastes. Er sah sich flüchtig um, als sie durchhin gingen, und bemerkte, daß der Platz für ein Turnier denn doch nicht groß genug gewesen sein müsse, erschrak vor einem halb zerstörten Turm, dessen Rudera drohend über die Mauer hereinhingen, erstaunte über den scharfen Zahn der Zeit, der in die dicke Mauer mächtige Risse genagt und dem Auge eine freie Aussicht in das Tal hinab geöffnet hatte, und gab in seinem Herzen schon auf den ausgetretenen Stufen der Wendeltreppe, wo ein heftiger Zugwind durch schlecht verwahrte Fenster blies, der Bemerkung seiner Cousine über die Wohnlichkeit des Hauses vollkommen Beifall. Sechs bis acht Hunde begrüßten in einer großen, mit Backsteinen gepflasterten Halle das Fräulein mit freundlichem Klaffen und Wedeln und ein gefesselter Raubvogel, der in einer Ecke auf der Stange saß, stieß ein unangenehmes Geschrei aus und schwenkte die Flügel. »Das ist nun unsere Antichambre, unser Hofgesinde«, sagte Anna, indem sie lächelnd auf die Tiere zeigte; »verwünschte Prinzen und Prinzessinnen, die Sie entzaubern können. Doch lassen Sie uns jetzt eintreten«, setzte sie nach einer Weile ernster hinzu, »in diesem Zimmer ist der Vater.«

Sie öffnete eine hohe, schwere Flügeltüre und durch das altfränkisch ausstaffierte Gemach fiel der Blick des Jünglings auf einen alten Mann, der in einer tiefen Fensterwölbung saß, wie es schien, in ein Zeitungsblatt vertieft. Bei dem Gruß seiner Tochter sah er sich um, und als er den Fremden erblickte und Anna seinen Namen nannte, stand er auf und ging ihm langsam, aber festen Schrittes entgegen. Mit Bewunderung sah sein Neffe die hohe, gebietende Gestalt, die ihn unwillkürlich an jenen Wartturm dieser Burg erinnerte, den so viele Jahre nicht einzustürzen vermochten, und dessen Alter nur der Efeu anzeigte, der sich an ihm emporgeschlungen hatte. Zwar hatte die Zeit in diese fünfundsechzigjährige Stirne Furchen gegraben, um die Schläfe fielen dünne graue Haare und der Bart und die Augenbraunen waren silberweiß geworden, aber das Auge leuchtete noch ungetrübt, und der Nacken trug den Kopf noch so aufrecht, wie in jugendlicher Kraft, und die Hand gab einen beinahe kräftigeren Druck, als der Neffe zu erwidern vermochte.

»Bist willkommen in Schwaben«, sagte er mit tiefer, kräftiger Stimme; »'s war ein vernünftiger Einfall meiner Frau Schwester, daß sie dich herausschickte; mach dir's bequem; setz dich zu mir ans Fenster, und du, Anna, bringe Wein.«

So war der Empfang auf Thierberg; so herzlich und offen er aber auch sein mochte, so konnte doch der junge Mann mehrere Stunden lang ein gewisses unbehagliches Gefühl nicht verdrängen. Er hatte sich den Oheim ganz anders gedacht; er glaubte nach der Beschreibung, die ihm sein Vater gemacht hatte, einen rauhen, aber fröhlichen alten Landjunker zu finden, der seine Hasen hetzt, mit Laune die Händel seiner Bauern schlichtet, von seinen Kleppern gerne erzählt und zuweilen mit seinen Freunden und Nachbarn ein Glas über Durst trinkt; er bedachte nicht, wie fünfundzwanzig Jahre und eine so verhängnisvolle Zeit, wie die, welche dazwischen lag, auf diesen Mann gewirkt haben konnten. Das ruhige, ernste Auge des Oheims, das prüfend auf seinen Zügen zu ruhen schien, die ungesuchten aber gründlichen Fragen, womit er den Neffen über sein bisheriges Leben und Treiben ins Gebet nahm, das ironische Lächeln, das hie und da bei einer Äußerung des jungen Mannes um seinen Mund blitzte, dies alles, und das ganze gewichtige Wesen des Alten, imponierten ihm auf eine Weise, die ihm höchst unbequem war; er konnte sich kein Herz fassen, den Oheim ebenso traulich zu behandeln, wie jener ihn, er kam sich vor wie ein angehender Staatsdiener, dem ein Minister Audienz gibt, und es war dies zu seinem nicht geringen Verdruß das zweite Mal, daß er sich über die »Landjunker in Schwaben« getäuscht sah.

Auch seine Base erschien ihm ganz anders, als er sie gedacht hatte. Er fand zwar alle jene liebenswürdige Natürlichkeit, jenes unbefangene, ungesuchte Wesen, was man ihm an den Töchtern dieses Landes gerühmt hatte, aber diese Unbefangenheit schien nicht aus Unwissenheit, sondern aus einem feinen, sichern Takt hervorzugehen, und was sie sprach, zeugte von einem so trefflich gebildeten Geist, daß ihre Natürlichkeit nur darin zu bestehen schien, daß sie alles Geistreiche, sei es witzig oder erhaben, wie etwas Natürliches, Angeborenes vorbrachte, daß es nie als etwas Erlerntes, als etwas Gesuchtes erschien. Am ärgerlichsten war es ihm, daß sie ihn schon nach den ersten Stunden zu durchschauen schien; die ausgesuchten Artigkeiten, die er ihr sagte, zog sie ins Komische, den feineren Komplimenten wich sie auf unbegreifliche Art aus, wollte er ihr nur den zarten, in Berlin gebildeten jungen Mann zeigen, so nannte sie ihn gewiß immer Herrn von Rantow. Und dennoch mußte er sich gestehen, daß er nie so viel Harmonie der Bewegung, der Miene, der Gestalt und der Stimme gesehen habe; ihr ganzes Wesen erschien ihm wie das Hauskleid, das sie jetzt eben trug. Es war einfach und von bescheidenen Farben, und dennoch kleidete es ihre feine, schlanke Gestalt mit jener geschmackvollen Eleganz, die auch dem anspruchlosesten Gewand einen geheimnisvollen Zauber verleiht; ein Toilettengeheimnis, worüber, soviel der junge Mann sich erinnerte, noch nie ein Modejournal Aufschluß gab und das ihm mehr das Zeichen und Symbol einer harmonischen Seele, als die Folge einer sorgfältigen Erziehung zu sein schien.

Dieselbe Übereinstimmung glaubte er zwischen dem alten Herrn und dem Gemach zu finden, in welches er zuerst geführt worden war. Es war der verblichene Glanz eines früheren Jahrhunderts, was ihm von den Wänden und Hausgeräten entgegenblickte. Die schweren gewirkten Tapeten, mit Leisten befestigt, die einst vergoldet waren und deren Farbe jetzt ins Dunkelbraune spielte; die breiten Armstühle mit ausgeschweiften, zierlich geschnitzten Beinen, die Polster, mit grellen Farben künstlich ausgenäht, mit Papageien, Blumentöpfen und den Bildern längst begrabener Schoßhündchen geziert. Wie manchen Wintertag mochten seine Ahnfrauen über dieser mühsamen Arbeit gesessen sein, die ihnen vielleicht einst für das Vollendetste galt, was der menschliche Geschmack je ersonnen, und die jetzt ihrem Urenkel geschmacklos, schwerfällig, und hätten sich nicht so ehrwürdige Erinnerungen daran geknüpft, beinahe lächerlich erschien. Und doch kam ihm dies alles, der ehrwürdigen Gestalt seines Oheims gegenüber, wie durch Altertum und langjährige Gewohnheit geheiligt vor. Er sah, man sei in Thierberg erhaben über den Wechsel der Mode, und wenn er hinzufügte, was ihm sein Vater über die mancherlei Unglücksfälle und die mißlichen Umstände, worin sich der Oheim befand, gesagt hatte, so fühlte er sich beschämt, daß er diese Umgebungen nur einen Augenblick habe grotesk und sonderbar finden können; er fühlte, daß er unverschuldeter Armut, wenn sie sich in so ernstem und würdigem Gewände zeige, seine Achtung nicht versagen könne, ja, vor diesen Wänden, diesem Geräte, und vor dem unscheinbaren, groben Hausrock des Oheims erschien er sich selbst, wenn er einen Blick auf seine modische und höchst unbequeme Tracht warf, wie ein Tor, beherrscht von einem Phantom, das ein Weiser lächelnd an sich vorübergleiten läßt.

Dies waren die Eindrücke, welche der erste Abend in Thierberg auf die Seele des jungen Rantow machte. So ernst sie aber am Ende auch sein mochten, so konnte er doch ein Lächeln nicht unterdrücken, als mit dem Schlage acht Uhr, den die alte Schloßuhr zögernd und zitternd angab, eine Flügeltüre am Ende des Zimmers aufsprang, ein kleiner Kerl in einem verschossenen, bortierten Rock, der ihm weit um den Leib hing, hereintrat, sich dreimal verbeugte und dann feierlich sprach: »Le souper est servi.«

»S'il vous plait«, sagte der Alte mit ernsthaftem Gesicht und einer Verbeugung zu seinem Neffen, reichte seinen Arm der schönen Anna und ging langsamen Schrittes dem Speisezimmer zu.


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