Wilhelm Hauff
Novellen
Wilhelm Hauff

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4. Ein Singtee

Der größte Teil der Gesellschaft hatte sich schon versammelt, als die jungen Männer eintraten. Des Stallmeisters scharfes Auge durchirrte den Damenkreis, der an den Wänden hin sich ausbreitete; er fand endlich Elisen an einem fernen Fenster im Gespräch mit seiner Tante; aber ihr schönes Gesicht hatte nicht den Ausdruck von Heiterkeit und Laune, die er sonst so gerne sah, sie lächelte nicht, sie schien verstimmt. Es kostete ihn einige künstlich angeknüpfte Gespräche, einige Neuigkeiten vom Hofe, im Vorübergehen erzählt, um sich an jenes Fenster durchzuwinden.

Die Tante sprach so eifrig, Elise hörte so aufmerksam zu, daß er endlich die herabhängende Hand der Tante erfassen und ehrerbietig küssen mußte, um sich bemerklich zu machen. Elisens Wangen glühten, als sie ihn erblickte, und die Tante rief staunend: »Wie gerufen, Julius! ich sprach soeben mit dem Fräulein von dir, kannst dir etwas darauf einbilden, so gut wird es dir nicht alle Tage.«

»Und was war der Inhalt Ihres Gespräches, wenn man fragen darf?«

»Deine Klagen von letzthin«, erwiderte die Tante lachend. »Dein Kummer, daß dich das Fräulein mitten in der Rede stehengelassen habe, um mit irgendeinem eminenten Dichter zu verkehren. Doch am besten machst du dies mit Fräulein Elise selbst aus«, setzte sie hinzu und ging weiter.

Elise schien sich wirklich einer kleinen Schuld bewußt, denn sie schlug die Augen nieder und zögerte zu sprechen; als aber Rempen bei seinem unmutigen Schweigen verharrte, sagte sie halb lächelnd, halb verlegen: »Ich gestehe, es war nicht artig, und sicher würde ich es mir gegen einen Fremden nicht erlaubt haben; aber daß Sie mir dergleichen übelnehmen, da Sie meine Weise doch kennen –«

»So stünde ich Ihnen denn näher, als jene gelehrten und berühmten Herren?« erwiderte er, freudig bewegt. »Darf es sogar als ein Zeichen Ihres Zutrauens nehmen, wenn Sie mich so plötzlich verlassen um zu jenen zu sprechen?«

»Sie sind zu schnell, Herr Stallmeister!« sagte sie. »Ich meinte nur, weil Sie meine Eltern kennen, und ich viel zu Ihrer Tante komme, müsse man die Konvenienz nicht so genau berechnen. Und muß man denn im Leben alles so ängstlich berechnen?«

Sie bemerkte dies halb zerstreut, und es entging Rempen nicht, daß ihr Auge eine andere Richtung genommen habe, als zu ihrer Rede passe; er verfolgte diesen Blick und traf auf Palvi, der mit einem ältlichen Herrn sprach, und zugleich seine Blicke brennend und düster auf Elisen heftete. Ein tiefer Atemzug stahl sich aus ihrer Brust, als sie ihre Augen, die weder zärtlich noch freudig glänzten, von ihm abwandte. Sie errötete, als sie bemerkte, wie ihr Nachbar die Richtung ihrer Blicke bemerkt habe, und halb verlegen, halb zerstreut flüsterte sie: »Wie kömmt doch er hieher zu Ihrem Oncle?«

Der Stallmeister war so boshaft sie zu fragen, wen sie denn meine.

»Den Referendär Palvi«, antwortete sie leichthin, als wollte sie ihre vorige Frage verbessern, »er ist vielleicht mit Ihrem Hause bekannt?«

»Ich kenn ihn nicht«, erwiderte der Stallmeister etwas ernst; »doch warum sollte er nicht hier sein? Kennen Sie ihn vielleicht? man sagt, es sei ein Mann von schönen Talenten, der –«

»Wie freut es mich, dich wieder gesund zu sehen, Chlotilde!« rief seine Nachbarin und hüpfte auf ein Mädchen zu, das sechs Schritte von ihr entfernt stand; verblüfft, als hätte er einen dummen Streich begangen, stand der Stallmeister und sah ihr nach.

Man hatte indessen um Ruhe und Stille gebeten; ein Fräulein von kleiner Gestalt, aber gewaltiger Stimme wollte sich hören lassen und stellte sich zu diesem Zweck auf ein gepolstertes Fußbänkchen hinter ein elegantes Notenpult. Die Männer setzten sich Stühle hinter die Frauen, die Frauen machten erwartungsvolle Mienen und es war so tiefe Stille in dem großen Zimmer, daß man nur die Bedienten hin und wieder: »Ist's gefällig« brummen hörte, wenn sie Tee anboten. Beim ersten Takt, den man zur Begleitung des kleinen Fräuleins auf dem Flügel anschlug, entwich der junge Rempen in ein Nebenzimmer, um ungestört seinen Gedanken nachzuhängen; er zog weiter, wandelte ein paarmal im Salon auf und ab, bog dann in die nächste Türe, dem Ende der Enfilade zu. Im letzten Zimmer saß ein Mann in einem Sofa, der die Stirne in die Hand gelegt hatte. Bei Rempens Nähertreten wendete er den Kopf, und den Stallmeister hatte seine schnelle Ahnung nicht betrogen, es war Palvi.

»Auch Sie scheinen die Musik nicht in der Nähe zu lieben«, sagte Julius, indem er sich zu ihm auf das Ruhebett setzte; »kaum bis hierher dringen die zarteren Töne.«

»Es geht mir damit wie mit dem Geruch starkduftender Blumen«, erwiderte Palvi mit angenehmer Stimme. »Mit diesen Düften in einem verschlossenen Zimmer zu sein, macht mich krank und traurig, aber im Freien, so aus der Ferne atme ich ihren Balsam mit Wollust ein, ich unterscheide und errate dann jede einzelne Nuance, ich möchte sagen, jede Schattierung, jeden Ton, jeden Übergang des Geruches.«

»Sie haben recht, jede Musik gewinnt durch Entfernung«, bemerkte Rempen; »aber das Jammervollste ist mir, jemand singen sehen zu müssen. Besonders ängstigt mich die kleine Person, die jetzt eben etwas vorträgt. Sie ist nett, beinahe zierlich gebaut, aber alle Gliederchen en miniature. Nun stellt man sie immer auf ein Fußbänkchen, damit sie gesehen wird. Hinter ihr steht der Musikdirektor mit der Violine. Von Anfang macht es sich ganz gut. Der Direktor spielt Piano und verzieht höchstens den Mund links und rechts nach dem Strich seines Fiedelbogens, nach und nach kömmt er ins Feuer, ›Forte, piu forte‹, flüstert er und wackelt mit dem Kopf; jetzt fängt auch die Kleine an sich zu heben; anfänglich wiegt sie sich auf den Zehen und bewegt die Ellbogen, als nähme sie einen kleinen Anlauf zum Fliegen; doch crescendo mit des Musikers Perpendikularbewegungen schreiten ihre Gebärden vor, sie weht und rudert mit den Armen, sie hebt und senkt sich, bis sie im höchsten Ton auf den Zehenspitzen aushält und – wie leicht kann da die Fußbank umschlagen!«

Der Referendär lächelte flüchtig; »Beinahe noch verschiedener als beim Lachen gebärden sich die Menschen, wenn sie singen«, sagte er. »Haben Sie nie in einer evangelischen Kirche die Mienen der Weiber unter dem Gesang betrachtet? betrachten Sie ein zartes, schwärmerisches Kind von 16 Jahren, das mit rundgewölbten Lippen, Frieden und Andacht in den Zügen, die zarten Wimpern über die feuchten Augen herabgesenkt, ihren Schöpfer lobt. Sie können aus den vielen Hunderten ihre Stimme nicht herausfinden, und doch sind Sie überzeugt, sie müsse weich, leise, melodisch sein. Setzen Sie neben das Kind zwei ältliche Frauen, die eine wohlbeleibt, mit gutgenährten Wangen und Doppelkinn, die Augen gerade vor sich hin starrend, die andere etwas vergelbt, mit runzlichen, dürren Zügen und spitzigem Kinn, auf die gebogene Nase eine Brille geklemmt – und Sie werden erraten können, daß die Dicke einen hübschen Baßton murmelnd singt, die andere in die höchsten Nasentöne und Triller hinaufsteigt.«

»Sie scheinen genau zu beobachten«, antwortete lachend der Stallmeister. »Es fehlt nur noch, daß Sie die dicke Frau mit dem murmelnden Baßton für die Mutter der Kleinen, die spitzige aber für ihre ledige Tante ausgeben, eine alte Jungfer, die nicht sowohl von unserem Herrgott als von den Nachbarinnen gehört sein will. Was sagen Sie aber zu der sonderbaren Gewohnheit der Primadonna unserer Oper? In den tiefen Tönen ist ihr hübsches Gesicht ernsthaft, beinahe melancholisch, wenn sie aber aufsteigt, klärt es sich auf, und hat sie nur erst die oberen doppelt gestrichenen hinter sich, so schließt sie die Augen wie zu einem seligen Traum, sie lächelt freundlich und hold, und lächelt, bis sie wieder abwärts geht. Gleichgültig ist ihr dabei, was sie für Worte singt. Sie könnte in den tiefsten Tönen: ›Ich liebe dich, meines Herzens Wonne‹ singen, und ungemein ernsthaft dabei aussehen, und könnte ebenso leicht ›Ich sterbe, Verräter!‹ in den höchsten Rouladen schreien, und ganz hold und anmutig dazu lächeln. Wie erklären Sie dies?«

»Es ist nicht schwer zu erklären«, entgegnete Palvi nach einigem Nachsinnen, »die tiefen Töne fallen ihr etwas schwer; sie muß drücken, etwa wie man einen großen Bissen hinabwürgt, und unmöglich kann sie das mit heiterem Gesicht; mit den hohen Tönen geht es aber wohl folgendermaßen zu: als sie noch jung war und die höheren Töne sich erst in ihrer echten Kraft bildeten, mochte sie einen Lehrmeister haben, der ihr unerbittlich alle Tage die Skala bis oben hinauf vorgeigte. Für einen klaren höchsten Ton bekam sie wohl ein Stück Kuchen, ein Tuch oder sonst dergleichen etwas; je höher sie es nun brachte, desto freudiger strahlte ihr Gesicht vor Vergnügen über ihre eigenen Töne, und so mochte sie sich angewöhnt haben, mit der freundlichsten Miene zu singen ›Ich verzweifle.‹«

In diesem Augenblick ertönte eine reine, volle Frauenstimme in so schmelzenden, süßen Tönen, daß die beiden Männer unwillkürlich ihre Rede unterbrachen und lauschten. Eine leichte Röte flog über Rempens Gesicht, denn er erkannte diese Stimme. Sein Auge begegnete dem dunkeln Auge Palvis, das wohl eine Weile prüfend auf seinen Zügen verweilt haben mochte.

»Kennen Sie die Stimme?« fragte Rempen, etwas befangen.

»Ich kenne sie«, erwiderte jener und stand auf.

»Und wollen Sie sich den Genuß vermindern und näher treten?«

»Ich möchte wohl auch die Worte des Textes hören«, entschuldigte sich jener nicht ohne Verlegenheit.

Der Stallmeister folgte ihm; Palvi schwebte schnellen, aber leisen Schrittes über den Boden hin, und setzte sich unweit des Zimmers wieder, wo Elise sang, auf ein Banquett, indem er Rempen durch einen stummen Wink einlud, sich neben ihn zu setzen. Sie lauschten; es war die bekannte Melodie einer jener alten französischen Romanzen, die, indem sie durch ihren ungekünstelten Wohllaut dem Ohre schmeicheln, in mutigen Tönen das Herz erheben; aber ein deutscher Text war untergelegt, Worte, von welchen die Sängerin selbst wunderbar ergriffen schien, denn sie trug sie mit einem Feuer vor, das ihre Zuhörer mit erfaßte.

Der junge Rempen fühlte sein Herz von Liebe zu der Sängerin, wie von dem hohen Schwung ihres Gesanges mächtiger gehoben; aber mit Verwunderung und Neugierde sah er die tiefe Bewegung, die sich auf den Zügen seines Nachbars ausdrückte. Seine Augen strahlten, sein Haupt hatte sich mutig und stolz aufgerichtet, und um Wangen und Stirne wogte ein dunkle Röte auf und ab, jene Röte, die ein erfülltes, von irgendeiner mächtigen Freude überraschtes Herz verrät.

Mit gekrümmtem Rücken auf den Zehenspitzen schlich jetzt der Oheim Rempen heran. Schon von weitem drückte er seinem Neffen durch beredtes Mienenspiel seinen Beifall über den herrlichen Gesang aus, und als er nahe genug war, flüsterte er: »Heute singt sie wieder wie die Pasta, voll Glut, voll Glut; und der schöne Text, den sie untergelegt hat! – er ist aus einem neuen Roman, ›Die letzten Ritter von Marienburg‹.«

Der junge Mann winkte seinem Oheim ungeduldig, stille zu sein; der Alte schlich weiter zu einer andern Gruppe, und die beiden lauschten wieder ungestört, bis der Gesang geendet war.


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