Wilhelm Hauff
Novellen
Wilhelm Hauff

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5. Die letzten Ritter von Marienburg

Rauschender Beifall füllte nun das Gemach, man drängte sich um die Sängerin, und auch Rempen folgte seinem Herzen, das ihn zu Elisen zog. Aber schon war sie von einem halben Dutzend jener Literatoren umlagert, die ihn immer verdrängten. »Welch herrliches Lied!« hörte er den Doktor Zundler sagen, »welche Kraft, welche Fülle von Mut, und wie zart gehalten!« Doch dem Stallmeister entging nicht, daß der Hofrat, der ebenfalls bei der Gruppe stand, den jungen Doktor durch einen freundschaftlichen Rippenstoß aufmerksam darauf zu machen schien, daß er etwas Ungeschicktes gesagt habe. Er erschrak, errötete, und fragte in befangener Verlegenheit, woher das Fräulein das schöne Lied habe?

»Es ist aus den ›Letzten Rittern von Marienburg‹, von Hüon.« Ein Gemurmel des Staunens und Beifalls lief durch die dichten Massen, als man diesen Titel hörte. »Wie, ein neuer Roman? – Ah! derselbe, welchen die ›Blätter fürs belletristische Vergnügen‹ so tüchtig ausg– Sie sind ja da, leise, leise. – Wo kann man den Roman sehen?« – So wogte das Gespräch und Geflüster auf und ab, bis der Wirt des Hauses mit triumphierendem Lächeln ein Damenkörbchen an seidenen Bändern in die Höhe hielt, es öffnete und ein Buch hervorzog. Er schlug den Titel auf, er zeigte ihn der gespannten Gesellschaft, und mit freudigem Staunen las man in großen gotischen Lettern: »Die letzten Ritter von Marienburg.« – »Vorlesen, bitte, vorlesen«, tönte es jetzt von dreißig, vierzig schönen Lippen, und selbst die jungen Männer, die sonst diese Unterhaltung weniger liebten, stimmten für die Vorlesung. Aber eine nicht geringe Schwierigkeit fand sich jetzt in der Wahl des Vorlesers; denn jene Literatoren, die sonst in diesem Zirkel dieses Amt bekleidet hatten, stemmten sich heute bestimmt dagegen; der eine war erhitzt, der andere hatte Katarrh, der dritte war heiser, und allen war die Unlust anzusehen, daß nicht ihre eigenen Produkte, sondern fremde Geschichten vorgelesen werden sollten.

»Ich wüßte keinen Besseren vorzuschlagen«, sagte endlich ein Kriminalpräsident von großem Gewicht, »als dort meinen Referendär Palvi; wenigstens zeugen seine Referate von sehr guter Lunge und geschmeidiger Kehle.« Indem der Kriminalpräsident seinen eigenen Witz belachte, und im Chorus sechs Juristen pflichtgemäß mit einstimmten, verbeugte sich der junge Mann, an welchen die Rede ging, während eine flüchtige Röte über sein Gesicht zog, und zur Verwunderung der Gesellschaft, die ihn sehr wenig kannte, ergriff er das Buch und die Tasche und fragte bescheiden, welcher von den Damen beides gehöre?

Dem Stallmeister, der hinter ihm stand, hatte dies längst sein scharfes Auge gesagt. Elise war flüchtig errötet, als der Onkel den Beutel emporgehoben und das Buch daraus hervorgeholt hatte. Als aber Palvi anfragte, als er mit seinem dunkeln Auge den Kreis der Damen überstreifte und bei ihr stille stand, da goß sich ein dunkler Karmin über Stirne, Wangen und den schönen Hals des Fräuleins, sie schien überrascht, verlegen, und als jene Röte ebenso schnell verflog, schien sie sogar ängstlich zu sein. »Das Buch gehört mir, Herr von Palvi«, sagte sie schnell und mit einem kurzen Blick auf ihn. »Und werden Sie erlauben, daß daraus vorgelesen wird? daß ich daraus vorlese?« fragte er weiter.

»Ich habe hier nichts zu bestimmen«, erwiderte sie ohne aufzusehen, »doch das Buch steht zu Diensten.«

»Nun, dann nicht gesäumt!« rief der Oheim; »Sessel in den Kreis und ruhig sich gesetzt, und andächtig zugehört, denn ich denke, wir werden einen ganz angenehmen Genuß haben.«

Man tat nach seinem Vorschlag; in bunten Kreis setzte sich die zahlreiche Gesellschaft, und sei es, daß man auch hier Fräulein Elise als literarische Königin ansah, oder war es eine sonderbare Fügung des Zufalls, der Vorleser kam so gerade ihr gegenüber zu sitzen, daß, sooft sie die Augen aufhob, diese schönen Augen auf ihn fallen mußten.

»Aber, Freunde«, bemerkte die Dame vom Hause, »dieser Roman hat, soviel ich weiß, drei Bände; wollen wir sie alle anhören, so kommt unsre junge Welt heute nicht mehr zum Tanzen, und wir andern nicht zum Spiel; ich denke, man wählt die schönsten Stellen aus.«

»Wer aber soll sie wählen?« fiel ihr Gatte ein; »das Ding ist nagelneu, niemand hat es gelesen; doch Fräulein Wilkow wird uns helfen können. Können Sie nicht schöne Stellen andeuten und uns den Faden des übrigen geben?«

Man bat so allgemein, so dringend, daß Elise nach einigem Zögern nachgab. »Der Roman«, sagte sie, »spielt, wenn ich mir die Jahrszahl richtig gemerkt habe, in den Jahren 1455-1456 in und um Marienburg in Ostpreußen. Der Deutsche Orden ist von seinen früheren einfachen und reinen Sitten abgekommen; dies und innerer Zwiespalt, wie Neid und Anfeindungen von allen Seiten her, drohen einen baldigen Umsturz der Dinge herbeizuführen, wie denn auch durch den Verrat böhmischer Ordenssoldaten, gegen Ende des dritten Teils, Marienburg für den Orden auf immer verlorengeht. Auf diesen geschichtlichen Hintergrund ist aber die interessante Geschichte eines Verhältnisses zwischen einem jungen deutschen Ritter und einem Edelfräulein aufgetragen. Sie ist die Tochter des Kastellans von Marienburg, eines geheimen und furchtbaren Feindes des Ordens, der, anscheinend dem Deutschmeister befreundet, nur dazu in Marienburg lebt, um jede Blöße des Ordens den Polen zu verraten. Der Roman beginnt in der Ordenskirche, wo die Ritter und viele Bewohner von Marienburg und der Umgegend bei einem feierlichen Hochamte versammelt sind, um den Tag zu feiern, an welchem vor vielen Jahren der erste Komtur mit seinem Konvent in dieser Burg einzog. Der letzte Meister, Ulrich von Elrichshausen, ein Mann, der sich dem nahenden Verderben noch entgegenstemmen will, hält eine eindringliche Rede an die Ordensglieder. Der Gottesdienst endet mit einer feierlichen, lateinischen Hymne. Indem zwei der jüngsten Ritter, nach der Sitte bei solchen Gelegenheiten, den vornehmsten fremden Besuchern das Geleite bis in den Vorhof geben, bemerkt der eine von ihnen, daß der andere im Vorbeistreifen ein kleines Päckchen in die Hand einer verschleierten Dame gedrückt habe. Die Kirche ist leer, und im zweiten Kapitel fragt nun der erstere den zweiten um die Bedeutung dessen, was er gesehen. Er ist sein Waffenbruder, ein Bündnis, das nach der Sitte der Zeit fester als irgendein Freundschaftsband galt, und Elrichshausen, der Neffe des Meisters, der Held des Romans, gesteht ihm endlich sein Verhältnis zu der Dame; erzählt ihm von seinem Leben, seinen trostlosen Aussichten.

Der Freund ratet ab, Kuno aber verschmäht jede Warnung, und bittet jenen, er möchte ihn an diesem Abend zu einer Zusammenkunft mit der Geliebten begleiten. Diese Zusammenkunft in einem verfallenen Teil des älteren Schlosses ist so schauerlich-schön, daß ich möchte, sie würde ganz gelesen.«

Palvi las. Wer je ein Buch, das er sonst nicht kannte, in Gesellschaft vorgelesen, der weiß, daß etwas Beunruhigendes in dem Gedanken liegt, daß man mit gehaltener Sicherheit auf einem Felsenpfade gehen soll, den man noch nie betreten. Dieses beängstigende Gefühl wächst, wenn es ein Gespräch ist, das man vorträgt. Man kann den Atem, den Rhythmus, den Ausdruck der Empfindung nicht richtig abmessen und verteilen, man weiß nicht, ob jetzt die höchste Höhe der Lust ausgedrückt ist, ob jetzt der Dichter die tiefste Saite der Wehmut berührt habe, ob er nicht noch tiefere Akkorde anschlagen werde; und der Zuhörer pflegt diese Unsicherheit störend mitzuempfinden. Aber wunderbar las dieser junge Mann, den ein zufälliger Scherz seines Vorgesetzten zum Vorleser gestempelt hatte. Es war, als lese er nicht mit den Augen, sondern mit der Seele ohne dieses Organ, als spreche er etwas längst Gedachtes, eine Erinnerung aus, als kenne er den Inhalt, den Geist dieser Blätter, und sein Gedächtnis habe das Buch nur wegen der zufälligen Wortstellung vonnöten. Wenn das, was er las, nicht durch Inhalt und Form so großartig, dieses Gespräch zweier Liebenden so neu, so bedeutungsvoll gewesen wäre, diese Art, etwas vorzutragen, hätte zur Bewunderung hinreißen müssen.

Wir fürchten zu ermüden, wollten wir den Gang der Gefühle im Gespräch dieser Liebenden verfolgen. Wir bemerken nur, daß der jüngere Teil dieser Gesellschaft mächtig davon ergriffen wurde, daß Fräulein Elise, die anfangs den Vorleser mit scheuen, staunenden Blicken angesehen hatte, in tiefer Rührung die Augen senkte, und kaum so viel Fassung fand, ihre Erzählung weiter fortzusetzen.

»Die Liebenden«, sagte sie, »so wenig Trost im Schluß dieser Szene lag, sind zufrieden in dem Gedanken an die Gegenwart. Je dunkler aber die Zukunft vor ihnen liegt, desto angenehmer dünkt es ihnen, die Gegenwart mit schönen Träumen auszufüllen. Der Deutschmeister bekommt die Nachricht, daß der Kaiser, von den Einflüsterungen Polens halb besiegt, dem Orden zürne, ihm namentlich innere Zügellosigkeit vorwerfe. Der Meister versammelt daher ein Kapitel, wo er die Ritter anredet. Diese Stelle ist eine der trefflichsten im Buche, denn der Verfasser befriedigt hier auf wunderbare Weise zwei Interessen. Indem der Meister die Verhältnisse des Ordens bis auf die zartesten Nuancen aufdeckt und berechnet, bekommt der Leser nicht nur ein schönes Bild von dem einsichtsvollen, umsichtigen Ulerich von Elrichshausen, von der erhabenen Würde eines Nachfolgers so großer Meister, von der gebietenden Stellung eines Herrschers auf Marienburg, sondern er bekommt auch auf ungezwungene und natürliche Weise eine Übersicht über die historische Basis des Romans. Der Meister schärft die Haus- und Sittengesetze, und schließt mit einer furchtbaren Drohung für den Übertreter.

Der Held des Romans, voll schönen Glaubens an alles Edle und Reine, sieht in seiner Freundschaft für Wanda, so heißt das Fräulein, kein Unrecht. Er setzt, begleitet von seinem Freunde, die nächtlichen Zusammenkünfte fort. In einer derselben ist ein wunderschönes Märchen eingewoben, eine Sage, die man auch mir in meiner Kindheit oft erzählt haben muß, denn sie klang mir wie alte Erinnerungen.«

Sie hielt inne; mit einem Blick voll Liebe und Wehmut fragte Palvi, ob er das Märchen lesen solle? Sie nickte ein kurzes Ja, und er las. Der junge Rempen hatte während des Märchens sein Auge fest auf Elisen gerichtet. Er bemerkte, daß sie anfangs heiter zuhörte, mit einem Gesicht, wie man eine bekannte Lieblingsmelodie hört und die kommenden Wendungen zum voraus erratet; nach und nach wurde sie aufmerksamer; es kamen einige sonderbare Reime vor, die Palvi so rasch und mit so eigenem, singendem Tone vortrug, daß sie dadurch tief ergriffen schien; Erinnerungen schienen in ihr auf und nieder zu tauchen, sie preßte die Lippen zusammen, als unterdrücke sie einen inneren Schmerz; er sah, wie sie bleich und immer blässer wurde, er sah sie endlich ihrer Nachbarin etwas zuflüstern, sie standen beide auf, aber ebenso schnell sank Elise wieder kraftlos auf ihren Stuhl zurück.

Die Bestürzung der Gesellschaft war allgemein. Die Damen sprangen herzu, um zu helfen, aber sei es, daß, wie es oft zu geschehen pflegt, gerade das unangenehme Gefühl dieser störenden, geräuschvollen Hülfe sie wieder emporraffte, oder war es wirklich nur etwas Vorübergehendes, ein kleiner Schwindel, was sie befiel, sie stand beinahe in demselben Moment wieder aufrecht, bleich, aber lächelnd, und konnte sich bei der Gesellschaft entschuldigen, diese Störung veranlaßt zu haben.

An Erzählen und Vorlesen war übrigens nach diesem Vorfall diesen Abend nicht wohl wieder zu denken, und man nahm mit Vergnügen den Vorschlag an, sich am übernächsten Nachmittage in einem öffentlichen Gartensalon zu versammeln und die »Ritter von Marienburg« gemeinschaftlich zu genießen.

Der Stallmeister fühlte sich von dieser Szene auf mehr als eine Weise ergriffen; er konnte zwar Palvi nichts vorwerfen; er hatte zwei Worte mit Elisen, und diese öffentlich gesprochen; es war, wenn er selbst auch wirkliche Rechte auf das Fräulein gehabt hätte, kein Grund zur Eifersucht da, denn sie schien jenen sogar zu scheuen, zu fliehen; aber dennoch lag etwas so Rätselhaftes in Palvis Betragen, etwas so schmerzlich Rührendes in seinen Mienen, und doch wieder in seinem ganzen Wesen eine so gehaltene Würde, daß Rempen sich vornahm, was es ihn auch kosten möge, Aufschluß über ihn zu suchen. Der Oheim war bemüht, die frühere Ordnung und Freude herzustellen. Spieltische wurden aufgetragen, und aus dem Salon lud eine Violine und die lockenden Akkorde einer Harfe die junge Welt zum Tanzen ein.

Mit bewachenden Blicken folgte der Stallmeister Palvi, der, noch immer das Buch in der Hand haltend, gedankenvoll umherging. In einer Vertiefung des Fensters saß Elise. Eben ging eine Freundin von ihr weg und Rempen nahm wahr, wie sich Palvi ihr zögernd nahte, wie er ihr mit einer tiefen Verbeugung das Buch überreichte. Schnell trat auch er hinzu, und nur die breite, dunkelrote Gardine trennte ihn von den beiden.

»Elise«, hörte er den jungen Mann sagen, »seit zehn Monaten zum erstenmal wird es mir möglich, so nahe zu stehen, nur eine Bitte habe ich –«

»Schweigen Sie«, sagte sie in leisen, aber leidenschaftlichen Tönen, »ich will nichts hören, nichts sprechen, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, ich verachte Sie.«

»Nur das Warum möchte ich wissen«, bat er beinahe weinend; »nur ein Wörtchen, vielleicht möchten Sie mich doch verkennen.«

»Ich kenne Sie zu gut«, erwiderte sie unmutig, »einen so niedrigen, gemeinen Menschen kann ich nur verabscheuen.«

»Gemein, niedrig?« rief er bitter, »und dennoch schwöre ich, daß ich Ihnen Achtung abzwingen will; diesen gemeinen, niedrigen Mann sollen Sie schätzen müssen! Wissen Sie, ich bin –«

»Daß Sie ein recht elender Mensch sind, weiß ich lange; darum bitte ich, entfernen Sie sich; diesen Zirkel werde ich aber nie mehr besuchen, wenn es Ihnen noch einmal einfallen sollte, mich anzureden.«

Bei diesen Worten stand sie rasch auf und entfernte sich mit einer kurzen Verbeugung gegen den unglücklichen jungen Mann.

So wichtig diese Worte, so bedeutungsvoll diese Szene war, konnte sie doch dem Stallmeister kein deutlicheres Licht geben. Palvi durfte wagen, sie mit »Elise« anzureden, sie behauptete, ihn ganz zu kennen, sie sprach so heftig ihre Gefühle aus, daß ihren Haß notwendig Liebe geboren haben mußte! Er sah Palvi, nachdem er noch eine Weile in der Vertiefung des Fensters verweilt hatte, nach der Tür des Vorsaals gehen. Er folgte ihm dahin, wie zufällig nahm er zugleich mit jenem seinen Mantel um.

»Auch Sie scheinen kein Freund des Tanzes zu sein«, redete er den Referendär an.

»Ich habe es längst aufgegeben«, antwortete er, »aber Sie, Sie ein Glücklicher, und nicht tanzen?«

»Ein Glücklicher?« erwiderte der Stallmeister freundlich; »davon möchte ich mir doch noch eine nähere Definition erbitten. Überhaupt, hier wird mir so langweilig zumute, und zu Hause geht mir die Tanzmusik im Kopfe herum; gehen wir, wenn Sie nichts Besseres vorhaben, nicht irgendwohin zusammen?«

Palvi schien in einiger Verlegenheit zu sein. »Ich weiß nicht, was mir Ihre Gesellschaft so wünschenswert macht«, antwortete er; »ich möchte die Hälfte der Nacht mit Ihnen verplaudern, und dennoch, werden Sie es glauben? – ich rechnete darauf, früh diese Gesellschaft zu verlassen, und habe einem Freunde den übrigen Teil des Abends zugesagt.«

»Wohlan!« fuhr der Stallmeister fort, »wenn Sie nichts gar zu Wichtiges zu besprechen haben, so folge ich Ihnen dahin.«

Der junge Mann errötete; »Das Haus ist abgelegen«, sagte er, »und für solche Gäste nicht ganz passend.«

»Und wenn es der ›Entenzapfen‹ wäre«, rief Rempen; »es soll ja vortreffliches Cerevis dort geben.«

Mit einer Mischung von Staunen und Freude blickte ihn der Referendär an, doch ehe er noch fragen konnte, sprach Rempen weiter: »Verzeihen Sie meiner Neugierde, die diesmal die Diskretion überwog. Der Zufall machte mich zum Zeugen, als ein wunderlicher alter Herr Sie einlud, und schon damals wünschte ich, mit von der Partie zu sein, um so mehr«, setzte er verbindlich hinzu, »da ich diesen Abend so manchen point de réunion zwischen uns fand.«

»Gut, so folgen Sie mir. – Sie werden ein Original kennenlernen, das aber mehr unsere Aufmerksamkeit verdient, als die schwachen Kopien dort oben, die doch immer für Originale gelten möchten, ja sich selbst dafür halten. Ich meine jene Poeten und Literatoren, die uns heute morgen ein so wunderbares Schauspiel gegeben haben.«

»In seiner Art diesen Abend ein nicht minder sonderbares«, entgegnete Rempen; »oder sollte Ihnen entgangen sein, wie ungezogen sie sich benahmen, als man verlangte, dieser Roman sollte vorgelesen werden; schien es nicht, als wollten sie durch stilles, höhnisches Lächeln, durch ihre kalte Entschuldigung zum Vorlesen, nicht bei Stimme zu sein, durch so manche Zeichen ihres Mißfallens der Gesellschaft die Überzeugung aufdringen, als sei das Buch schlecht und unwürdig? Man kann nicht verlangen, daß sie sich – wollen sie einmal ungesittet sein – im Keller eines Italieners Fesseln anlegen; sie bezahlen dort und ihre Rede ist frei; aber in einer Gesellschaft wie diese mußten sie sich den Gesetzen des Anstandes fügen.«

»Ich wollte vieles wetten«, bemerkte Palvi, »der Mann, zu dem ich Sie jetzt führe, ob er gleich in seinen Gewohnheiten und Sitten wenig gesellschaftliche Bildung verrät, würde sich weniger unschicklich benommen haben.«

»Und wer ist er denn?« fragte der Stallmeister.

»Er gehört einem Schlag von Leuten an, die man in unsern Ländern jetzt weniger, oder nicht so auffallend und originell sieht, als früher; ein sogenannter württembergischer Magister. Bitte zum voraus, glauben Sie nicht, daß in diesem Begriffe etwas Lächerliches liege, denn eine nicht geringe Zahl würdiger, gelehrter Männer unserer Zeit gehören diesem Stande an. Es gab in früherer Zeit, ob jetzt noch, weiß ich nicht, in jenem Lande eine Pflanzschule für tiefe Gelehrsamkeit. Es gingen Philologen, Philosophen, Astronomen, Mathematiker in Menge daraus hervor; zum Beispiel ein Kepler, ein Schelling, Hegel und dergleichen. Vor zwanzig Jahren soll man allenthalben in Deutschland Leute aus dieser Schule gesehen haben; den Titel Magister bekommen sie als Geleitsbrief mit. Sie waren gewöhnlich mit tiefen Kenntnissen ausgerüstet, aber vernachlässigt in äußern Formen, in Sprache und Ausdruck sonderbar, und spielten eine um so auffallendere Figur, als sie gewöhnlich, ihrer Stellung nach, als Lehrer an Universitäten, als Erzieher in brillanten Häusern, in der Gesellschaft durch ihr Äußeres den Rang nicht ausfüllten, den ihnen ihre Gelehrsamkeit gab. Eine solche Figur aus alter Zeit ist mein Freund. Er ging schon vor dreißig Jahren aus seinem Vaterlande, hat aber weder in Kurland, noch in Sachsen seine Eigenheiten abgelegt. Er lebt hier, abgeschieden von der Welt, in einem Dachstübchen; ich halte ihn für einen der tiefsten Denker des Zeitalters, dabei ist er ein liebenswürdiger Dichter, und dennoch ist sein Name gänzlich unbekannt. Die gelehrtesten Rezensionen in den Leipziger und Haller Blättern sind von seiner Hand; manche Entdeckung, mancher tiefgedachte Satz, womit jetzt die neuen Philosophen ihre Werke aufputzen, sind von ihm, er hat sie spielend hingeworfen.«

»Also ein literarischer Eremit«, rief Rempen aus, indem er, nicht ohne kleinen Schauder, an der Seite des Referendärs durch enge, schmutzige Gäßchen ging; »eine Nachteule der Minerva in bester Form?«

»Wenn es heutzutage wieder einen Diogenes geben könnte«, erwiderte jener, »ich glaube, er müßte im Kostüm meines Magisters erscheinen. Dieses ehrliche, kluge, ein wenig ernste Gesicht, die kunstlos um den Kopf hängenden Haare, das verschossene Hütchen, der abgetragene Rock, den er mit keinem andern vertauschen mag, die sonderbare, beinahe zärtliche Neigung zu einer alten, schwarzgerauchten Pfeife, dazu ein dunkelbraunes Meerrohr mit silbernem Knopfe, und diese ganze Gestalt in der düsteren, schwärzlichen Spelunke, in welche wir eben treten wollen – nehmen Sie dies alles zusammen, und Sie werden finden, das Urbild eines modernen zynischen Philosophen ist fertig, nur würde er einen Alexander nicht um ein wenig Sonne, sondern um ein bißchen Feuer für seine Pfeife bitten.«

Durch einen Vorplatz, wo das trübe Licht einer schmutzigen Laterne einen zweifelhaften Schein auf Kornsäcke und umgestürzte Bierfäßchen warf, traten jetzt die beiden jungen Männer in das größere Schenkzimmer des »Entenzapfen«. Der Wirt, dick und angeschwollen von dem Kosten seines eigenen Getränkes, schlief in einem Lehnsessel hinter dem Ofen; einige abgerissene Gestalten spielten bei einem Stümpfchen Licht mit schmierigen Karten, und sahen die Vorübergehenden mit matten, schläfrigen Augen an.

Palvi ging vorüber in ein zweites, kleineres Gemach, das für bessere Gäste eingerichtet schien. Derselbe Alte, den Kempen diesen Abend flüchtig gesehen, saß dort allein hinter einer Kanne Bier. Auf den Tisch hatte er mit Kreide einen mathematischen Satz gemalt. Er schaute, die Stirne in die Hand gestützt, aufmerksam auf seine Berechnung nieder, und nur große Tabakswolken, die er hin und wieder ausstieß, zeigten, daß er lebe und atme. Erst auf den Abendgruß seines jungen Freundes richtete er sich auf und zeigte ein ernstes, gleichgültiges Gesicht, dem nur das glänzende, ungemein interessante Auge einiges Leben verlieh.

Die Gegenwart eines Fremden schien ihm unangenehm aufzufallen. Kurz abgebrochen, indem er hastig mit dem Rockärmel die Figuren von dem Tische abwischte, sagte er: »Seid lange ausgeblieben.«

»Dafür bringe ich aber einen seltenen Gast mit«, erwiderte der junge Mann, »der das ›Entenbier‹ versuchen will.«

»Literator?« fragte der Alte etwas mürrisch.

»Wo denkst du hin, Magister; ein hiesiger Literator und der ›Entenzapfen‹! Nein, er ist nicht von diesen, sondern heißt Herr von Rempen und ist Stallmeister.«

»Da haben der Herr die echte Quelle gefunden«, sprach der Alte freundlich und mit einer Herzlichkeit, die ihn sogar angenehm machte. »Der ›Entenzapfen‹ hat solid Getränke. Setzet Euch, da bringt die Kellnerin schon die Kannen.«

Der Stallmeister erschrak vor der großen Kanne, die ihm das niedliche Kellermädchen mit den roten Lippen kredenzte; aber die Neugierde nach dem Magister, der Drang, von Palvi nähere Aufschlüsse über Elisens Betragen zu erhalten, milderten seinen Schauder vor dem »Entenzapfen«.

»Es hat einen eigenen Reiz für mich«, sagte er, um die Anrede des Alten zu erwidern, »so aus einer glänzenden Gesellschaft, wo alles voll Glanz und Putz, voll Berechnung und eitlen Benehmens ist, mich in die Einsamkeit einer solchen Schenke zu begeben. Man wird so leicht verführt, jenes schimmernde Wesen für wahres Leben, für ein Ideal der Gesellschaft zu nehmen, und nur ein plötzlicher, recht greller Tausch kann von diesem Wahne retten, besonders wenn man das Glück hat, Männer zu finden, die zu vernünftigem Gespräch bereitwillig sind.«

»Ich kann mir's denken aus früherer Zeit«, entgegnete der Alte mit ironischem Lächeln. »Nun, hat man wieder anständig geschnattert und gezwitschert, Tee getrunken und göttlichem Gesange gelauscht, und als man gar ästhetisch zu werden, vorzulesen anfing, seid Ihr aus Angst davongelaufen?«

»Nein«, antwortete Rempen, »solange gelesen wurde, blieben wir.«

»Wie?« rief der Magister. »Und Ihr habt es über Euch vermocht, Herr Referendär, allerlei rosenfarbene Poesie anzuhören?«

»Man las ›Die letzten Ritter von Marienburg‹«, belehrte ihn der Stallmeister.

»Ei der Tausend!« sagte der Alte mit einem sonderbaren Seitenblick auf Palvi, »konnte man doch solche Speise vertragen, ohne den ästhetischen Gaumen und Magen zu verderben? Hat sich denn die Welt gedreht, oder waren unsre hiesigen Schöngeister nicht zugezogen?«

»Doch, sie waren dabei«, erwiderte Rempen, »sie wagten es nicht, sich dagegenzusetzen, obgleich der Zorn aus ihren Augen sprühte, denn noch diesen Morgen hatten sie sich bündig und deutlich erklärt.« Und nun erzählte er den Auftritt im Keller des Italieners, mit einer Geläufigkeit, über welche er sich selbst wundern mußte. Mehrere Male wurde er von einem schnellen, kurzen Lachen des Alten unterbrochen, als er aber mit dem furchtbaren Bündnisse der literarischen Trias endete, brach der alte Mann in so herzliches Gelächter aus, daß der Wirt zum »Entenzapfen« mit einem tiefen Gestöhne erwachte und sich im Sessel umwälzte.

»Der Herr Stallmeister erzählen gut«, sprach dann der Magister, indem er Tränen, die das Lachen hervorgelockt hatte, verwischte. »Ich kenne sie, diese Bursche, diesen Chorus von Halbwissern. Sie sind geachteter beim Stadtpublikum und auf dem Landsitze, als der wahre Gelehrte, sie sind die Vornehmern unter den Musensöhnen und machen ungebeten die Honneurs auf dem Parnaß, als wären sie Prinzen des Hauses oder zum mindesten Kammerjunker; um so weniger können sie es verschmerzen, wenn ihre Blöße aufgedeckt und ihre Schande ans Licht gestellt wird. Sie fühlen ihr Nichts, sie sehen es einander ab, aber sie wollen es sich nicht merken lassen.«

»Am sonderbarsten und unerklärlichsten scheint mir ihre Wut gegen das, was man jetzt historischen Roman nennt«, bemerkte der Stallmeister. »Ich bin zu wenig im Getriebe der Literatur bewandert, um es mir erklären zu können.«

»Danken Sie Gott«, erwiderte der Alte, »daß Sie ein heiteres, rüstiges Handwerk erlernt haben, und von diesem unseligen, feindlichen Treiben nichts wissen. Kommt mir doch diese schöne Literatur jetzt vor wie scharfer Essig. Mit gehöriger Zutat vom Öl des Lebens, Philosophie, ist sie die Würze Eurer Tage; aber kostet sie gesondert, so ist sie scharf, abstoßend; betrachtet sie genau, etwa durch ein tüchtiges Glas, so sehet Ihr das Acidum aufgelöst in eine Welt von kleinen Würmern, die sich wälzen und einander anfallen, über einander wegkriechen.«

»Pfui! aber ihr Verhältnis zum historischen Roman?«

»Sie gebärden sich«, antwortete Bunker, »als ob sie gegen irgendeine Erscheinung des Zeitgeistes ankämpfen könnten, wie Pygmäen gegen einen Riesen. Als ob nicht schon die ›Ilias‹ so gut historisch gewesen wäre, als irgendein Roman des Verfassers von ›Waverley‹. Und ist nicht ›Don Quijote‹ der erste aller historischen Romane? Doch nehmen Sie nähere Beispiele bei uns. Spricht sich nicht in ›Wilhelm Meister‹ das Element eines historischen Romans geheimnisvoll aus? Müssen wir nicht den Begebenheiten, in die der Held verwickelt ist, eine gewisse Zeitgeschichte unwillkürlich unterlegen? Müssen wir nicht das Lager des Prinzen als eine notwendige historische Dekoration damaliger Zeit ansehen? Und die ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹, sind sie nicht eine historische Novelle? Wir betraten also zum mindesten keinen neuen Boden, kein neues, zweifelhaftes Gebiet.«

»Und welch kleiner Schritt«, bemerkte Palvi, »welch natürlicher Übergang ist vom historischen Drama, wie wir es bei Goethe finden, zum modernen geschichtlichen Roman. Sie sind ihm schon um vieles näher, als die historischen Schauspiele Shakespeares. Wie im Romane, sprechen dort die Helden nicht großartige Gefühle aus. Sie halten nicht gedehnte Reden, sondern ihre Reden erzählen von den schlummernden Entschlüssen ihrer Seele, und wir erblicken in einer einzelnen Wendung Motive, ahnen Handlungen, die sich nachher verwirklichen.

Die Völker scheinen sich in unsern Tagen zu scheiden und scharf abzugrenzen; doch diese Scheidung ist nur scheinbar, denn die Menschheit ist durch so viele Erfindungen sich näher gerückt worden. Wir gehören mehr und mehr der Welt an. Wir sprechen von entfernten Polarländern oder von Amerika mit einer Bestimmtheit, einem Gefühle der Nähe, wie unsre Großväter von Frankreich sprachen. Wir sind jetzt erst Europäer geworden. Darum ist uns nichts mehr fremd, was in diesem alten Weltteile geschieht. Der Unterschied der Sprache hat aufgehört, denn Dank sei es unsern gewandten Übersetzern, es ist, als ob Scott und Irving in Frankfurt oder Leipzig lebten.«

»Gewiß!« fiel Rempen ein, »auch in der Gesellschaft sind sich die verschiedenartigsten Elemente näher getreten. Unsere jungen Männer erzählen jetzt von einer Reise nach London oder Rom mit mehr Bescheidenheit oder Gleichgültigkeit, als sonst einer von einer Reise an einen zwanzig Meilen entfernten Hof erzählte. Aber ist uns durch alles dies, da wir in einer so breiten Gegenwart leben, die Geschichte nicht viel mehr fern, als nahe gerückt?«

»Ich gebe zu«, sagte der Alte, »das ernste Studium der Historie, aber nicht das rein menschliche Interesse daran. Die Geschichte war sonst die Geschichte der Könige, und an ihre oft unbedeutende Person knüpfte sich das Leben unsterblicher Männer. Die neuere Zeit, so große Veränderungen um uns her, haben uns anders denken gelehrt. Es ist die Geschichte der Meinungen, es sind die Schicksale gewisser Prinzipien, die wir kennenlernen möchten. Ihr Kampf erscheint in jedem Zeitalter mehr oder minder und unter der verschiedensten Gestalt, und dieser Kampf der Meinung ist es, was jeder Periode ihr Interesse gibt, er ist es, der, dem Romane zum Grunde gelegt, unsere Teilnahme auf unbeschreibliche Weise anzieht.«

»Ich ahne, daß Sie recht haben«, erwiderte der Stallmeister; »gleichwohl kann ich diese Idee meinen bisherigen Ansichten noch nicht recht anpassen. Denn wie vertragen sich zum Beispiel mit dieser welthistorischen Ansicht jene sonderbaren Figuren Walter Scotts, die bald als rohe Hochländer, bald als Räuber, als Fischer in die Geschichte unmittelbar eingreifen und so anziehend erscheinen?«

»Das ist es ja gerade, was ich sagte«, antwortete der Magister. »Wir ahnen in der Geschichte des Landes und des Volkes, die uns Professoren auf Kathedern vortragen, daß es nicht immer die Könige und ihre Minister waren, die Großes, Wunderbares, Unerwartetes herbeiführten. Da oder dort hat die Tradition den Schatten, den Namen eines Mannes aufbehalten, von dem die Sage geht, er habe großen und geheimnisvollen Anteil an wichtigen Ereignissen gehabt. Solche Schatten, solche fabelhafte Wesen schafft die Phantasie des Dichters zu etwas Wirklichem um; in den Mund eines solchen Menschen, in sein und seiner Verbündeten geheimnisvolles Treiben legt er die Idee, legt er den Keim zu Taten und Geschichten, die man im Handbuch nur als geschehen nachliest, vergebens nach ihren Ursachen forschend. Indem solche Figuren die Ideen persönlich vorstellen, bereiten sie dem Leser hohen Genuß, und oft ein um so romantischeres Interesse, je unscheinbarer sie durch Bildung und die Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft anfänglich erscheinen.«

»Und so hielten Sie es für möglich, daß auch die deutsche Geschichte interessante Stoffe für historische Romane bieten könnte?« fragte Rempen; »mir schien sie immer zu zerrissen, zu flach, zu wenig romantisch und großartig.«

»Das letztere glaube ich nicht«, erwiderte Palvi; »und muß denn gerade der Hintergrund, das historische Faktum, das Erhabene sein? Ist es nicht der Zweck des Romans, Charaktere in ihren verschiedenen Nuancen, Menschen in ihren wechselseitigen Beziehungen zu schildern? und kann sich nicht ein großartiger Charakter in einer Tat, einem Zwiste erproben, der für die allgemeine Geschichte von geringerer Bedeutung ist? Oder glauben Sie, weil Tieck in die Cevennen flüchtete, um einen historischen Hintergrund zu holen, er habe damit sagen wollen, unsere Geschichte biete keinen Stoff, der seines hohen Genius würdig wäre?«


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