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Kapitel XIV.
Europa und Carlyle

Ich kehrte nach Europa zurück, nach einem Abstecher nach Bombay, und bekam gerade noch einen Hauch des berauschenden Duftes dieses Wunderlandes mit seiner edlen und so traurigen Geisteslehre, die sich jetzt durch den Rigweda der besten europäischen Mentalität einzuprägen beginnt. Ich hielt mich in Alexandria auf und ging auf eine Woche nach Kairo, um die großen Moscheen zu sehen, deren herrliche Rhetorik meine Bewunderung hervorrief. Aber ich verliebte mich in die Wüste mit ihren Pyramiden und in erster Linie in die Sphinx mit ihrem ewigen Anzweifeln der Sinnenwelt und des äußeren Scheins. Schließlich langte ich über Genua und Florenz mit seinen überreichen Palästen, Kirchen und Galerien in Paris an.

Ich habe immer ein Mißtrauen gegen die ersten Eindrücke großer Orte, Ereignisse oder Menschen. Wer könnte die unsterbliche Faszinierung beschreiben, die der bloße Name oder der erste Eindruck von Paris auf den jungen Studenten oder den Künstler einer andern Rasse ausübt! Wenn er gedacht und gelesen hat, wird er fiebern, wird mit Tränen in den Augen, das Herz in fröhlicher Erwartung gespannt, in diese Wunderwelt hineinwandern.

Ich kam an einem Sommermorgen früh auf dem Bahnhof an und schickte mein Gepäck mit einer Droschke in das Hotel Meurice in der Rue de Rivoli, dasselbe alte Hotel, das der Novellist Lever gelobt hat, und dann setzte ich mich in einen Wagen und fuhr nach der Place de la Bastille. Das bunte Kaffeeleben machte auf mich keinen Eindruck, aber als ich die von der Julisäule emporspringende Gloire sah, kamen Tränen in meine Augen, denn ich erinnerte mich an Carlyles Beschreibung der Einnahme der Bastille.

Ich bezahlte den Kutscher und schlenderte die Rue de Rivoli herunter am Louvre vorbei, an den geschwärzten Mauern mit den blicklosen Fenstern des Tuilerienpalastes – ein Bild des Jammers –, und kam auf die Place de la Grève mit der Erinnerung an die Guillotine und die große Revolution, die jetzt in die Place de la Concorde mündet. Gegenüber erhob sich die vergoldete Kuppel der Invalidenkirche, in der die Leiche Napoleons liegt, wie er es wünschte: »An den Ufern der Seine unter diesem französischen Volke, das ich so leidenschaftlich geliebt habe.«

Und da waren die Pferde von Marly, die sich am Eingang zu den Champs-Elysées bäumen, und fern am Ende des langen Weges zeichnete sich der Triumphbogen gegen den Himmel. Es war der tiefe historische Sinn dieses großen Volkes, der mich zuerst gefangen nahm, wie auch seine verliebte Bewunderung seiner Dichter, Künstler und Führer. Ich kann kaum die Erschütterung beschreiben, die ich empfand, als ich an einem kleinen Hause eine Marmortafel zur Erinnerung an den armen Musset, der dort gelebt hatte, fand und eine Inschrift an einem andern Hause, in dem er gestorben war.

Von der Place de la Concorde ging ich über die Seine herüber, schlenderte an den Quais der Rive Gauche, ging an der Conciergerie und der Ste-Chapelle mit den herrlichen tausendjährigen Glasfenstern vorbei, die Zwillingstürme der Notre Dame ließen meinen Blick und Atem stocken, und schließlich, am frühen Nachmittag, wendete ich mich dem Boul' Mich' zu, ging an der Sorbonne vorbei und verlor mich in der alten Rue St. Jacques, die ich aus den Beschreibungen von Dumas Père und anderen so genau kannte.

Als ich endlich müde wurde, kehrte ich in einem kleinen Weinrestaurant ein, in dem eine behäbige, nette Wirtin namens Marguerite thronte. Nach einem ausgezeichneten Essen mietete ich ein großes Zimmer im ersten Stock mit Aussicht auf die Straße für vierzig Franken monatlich. Marguerite versprach mir, falls mich ein Freund besuchen sollte, für weitere zehn Franken ein Bett ins Zimmer hereinstellen zu lassen. Auch das Frühstück und die Mahlzeiten, die wir bei ihr einnehmen würden, wollte sie mir zu höchst vernünftigen Preisen verschaffen. In diesem Hause verlebte ich drei himmlische, lustige Wochen. Ich warf mich auf das Französische mit einer unerhörten Wucht, und zwar nach folgender Methode, die ich keineswegs empfehle, sondern einfach der Genauigkeit halber verzeichne, obwohl sie mich schon am Schluß der ersten Woche so weit gebracht hatte, daß ich alles verstand, was um mich herum gesprochen wurde. Zuerst verbrachte ich fünf ganze Tage an der Grammatik, lernte alle Zeitwörter auswendig, hauptsächlich die Hilfszeitwörter und die unregelmäßigen Verben, bis ich sie so genau kannte wie das Alphabet. Dann las ich achtzehn Stunden hintereinander Hugos »Hernani« an Hand eines Wörterbuches, und am nächsten Abend ging ich auf die Galerie in der Comédie Française, um mir die Aufführung dieses Dramas mit der Sarah Bernhardt als Doña Sol und Mounet Sully als Hernani anzusehen. Im ersten Augenblick stand ich dem seltsamen Akzent und der schnellen Sprechart ratlos gegenüber. Aber nach dem ersten Akt begann ich zu verstehen, was auf der Bühne gesprochen wurde, nach dem zweiten Akt entging mir kein Wort mehr, und als ich wieder auf der Straße stand, verstand ich zu meinem Entzücken alles, was zu mir gesagt wurde. Nach dieser unvergeßlichen Nacht mit Sarahs ernster, schleppender Stimme in den Ohren machte ich unbewußt schnelle Fortschritte.

Am nächsten Tage fiel mir im Restaurant ein zerrissenes, schmutziges Exemplar der Madame Bovary in die Hände, in dem die ersten achtzig Seiten fehlten. Ich nahm es auf mein Zimmer und verschlang es in einigen atemlosen Stunden und war mir sofort bewußt, welch ein Meisterwerk ich in Händen hatte. Dabei schrieb ich mir noch ungefähr hundertfünfzig neue Worte heraus, die ich nachher in meinem Taschenwörterbuch nachsah. Ich lernte diese Worte sorgfältig auswendig und habe seither nie mehr am Französischen gearbeitet.

Was ich jetzt davon kenne – und ich kenne es ziemlich gut –, kam mir durch Lesen und Sprechen in den langen dreißig Jahren. Ich mache noch Fehler, hauptsächlich bei den Artikeln, wie ich leider feststellen muß, an meinem Akzent merkt man den Ausländer, aber im großen ganzen kenne ich die Sprache und ihre Literatur besser als die meisten Ausländer, und das genügt mir.

Ungefähr drei Wochen später kam Ned Bancroft aus den Staaten, um mit mir zusammen zu wohnen. Er war mir nie besonders sympathisch, und unsere Freundschaft läßt sich nur durch meinen Leichtsinn und meine unüberlegte Güte erklären. Die selbstlose Weise, in der er sich seinerzeit Kate Stevens, mit der er verlobt gewesen war, und Professor Smith gegenüber benommen hatte, gefiel mir sehr gut. Er hatte kurz nach unserer ersten Begegnung Lawrence und die Universität verlassen und bekam durch Protektion eine gute Stellung bei der Eisenbahn in Columbus in Ohio.

Er hatte mir öfters geschrieben und mich gebeten, ihn zu besuchen, und nach meiner Rückkehr aus Philadelphia im Jahre 1875 hielt ich mich in Columbus auf und verbrachte mit ihm einige Tage. Sobald er gehört hatte, daß ich in Paris sei, schrieb er mir, er wäre gern mitgekommen, und als ich ihm in meiner Antwort meine Ziele auseinandersetzte, warf er alle seine Aussichten auf Reichtum und Karriere hin und kam zu mir nach Paris. Wir lebten ungefähr sechs Monate zusammen. Er war ein großer, kräftiger Kerl mit blassem Gesicht und grauen Augen, ein fleißiger Student, ein liebenswürdiger, anständiger, sehr intelligenter Mensch. Aber wir sahen das Leben aus vollkommen verschiedenen Gesichtspunkten an, und je länger wir zusammen waren, desto weniger verstanden wir einander.

Wir waren in allem Antipoden. Er hätte ein Engländer sein können, denn er war ein geborener Aristokrat mit herrschsüchtigen, kostspieligen Einfällen und einem verwöhnten Geschmack, während ich zu einem Westamerikaner geworden war, der sich weder um Essen noch Kleidung noch Stellung bekümmerte und nur darauf ausging, sich Wissen und, wenn möglich, Weisheit anzueignen, um sich zu wirklichen Höhen emporzuschwingen.

Am ersten Abend aßen wir bei Marguerite und schlugen uns im Gespräch die Nacht um die Ohren. Am nächsten Nachmittage wollte Ned sich Paris ansehen, und wir blieben abends in einem eleganten Restaurant auf den Boulevards. Einige Tische von uns entfernt saß eine große, herrlich aussehende Brünette von vielleicht dreißig Jahren, die mit zwei Männern soupierte. Ich sah bald, wie Ned und sie Blicke tauschten und sich Zeichen machten. Er sagte mir, er würde sie nach Hause begleiten. Ich versuchte, es ihm auszureden, aber er war ebenso eigensinnig wie Charlie, und als ich ihm die Gefahr schilderte, meinte er, er würde es nie wieder tun, aber diesmal könnte er nicht mehr zurück. »Wir wollen sofort bezahlen und gehen«, schlug ich vor. Aber er weigerte sich, das Verlangen war in ihm aufgewacht, und irgendeine falsche Scham hinderte ihn daran, meinem Rat zu folgen. Eine halbe Stunde später gab ihm die Dame ein Zeichen, er folgte ihr und stieg mit ihr in ihre Victoria ein. Die beiden Männer, die auf dem Bürgersteig blieben, brachen in lautes Gelächter aus, als die beiden wegfuhren.

Am nächsten Morgen kam er früh nach Hause und war sehr begeistert. Er hatte eine königliche Wohnung vorgefunden, mit einem wunderbaren Badezimmer, und »von Gefahr sei keine Rede«. Er servierte mir eine ebenso wilde Theorie wie Charlie. Er behauptete, die großen Kokotten, die viel Geld verdienen, achteten ebenso auf sich wie unsereins. Und ganz unbekümmert ging er an die Arbeit.

Bancrofts Art, Französisch zu lernen, war vollkommen von der meinen verschieden. Er machte sich an die Grammatik und die Syntax, um sie sich restlos anzueignen. Nach vier Monaten schrieb er ausgezeichnet Französisch, aber er sprach es zögernd und mit einem grauenhaften amerikanischen Akzent. Als ich ihm sagte, daß ich Vorträge von Taine über Kunstphilosophie und über das Kunstideal hören wollte, lachte er mich aus. Aber ich glaube, daß ich durch Taine mehr lernte als er durch seine genauere Kenntnis des Französischen. Als ich Taine kennenlernte und ihn besuchen durfte, wollte auch Bancroft seine Bekanntschaft machen. Ich brachte die beiden zusammen. Da Ned jedoch aus einer falschen Scham heraus kaum den Mund öffnete, konnte Taine keinerlei Eindruck von ihm bekommen. Aber ich lernte sehr viel von Taine. Und eines der Beispiele, die er zitierte, blieb mir in der Erinnerung als eine wahre und lebendige Konzeption der Kunst und ihres Ideals haften. In einer seiner Vorlesungen lenkte er die Aufmerksamkeit der Studenten auf die Tatsache hin, daß der Löwe eigentlich kein Lauftier sei, sondern bloß ein riesiges Kinn, auf vier gewaltige Sprungfedern kurzer, massiver Beine gesetzt. Der Künstler, fuhr er fort, der den Begriff dieser Bestie übermitteln will, muß die Größe und Stärke des Kinns ein wenig übertreiben und auch die Sprungkraft in seinen Schenkeln und Füßen und die gewaltige Wucht seiner Vorderbeine und der reißenden Klauen unterstreichen. Aber wenn er seine Beine verlängern oder das Kinn verkleinern würde, käme eine Mißgeburt zustande. Das Ideal jedoch sollte nur angedeutet werden. Auch Taines Gespräche über Literatur und den Einfluß des Milieus selbst auf große Menschen machten einen tiefen Eindruck auf mich. Nachdem ich ihm eine Zeitlang zugehört hatte, begann ich meinen Weg klarer zu sehen. Ich werde seine gedankenanregenden Worte nie vergessen. Als er eines Tages von dem Kloster in Monte Cassino sprach, in dem Hunderte von Studentengenerationen von allen kleinlichen Existenzsorgen befreit sich Tag und Nacht dem Studium und Nachdenken widmeten und dabei die unschätzbaren Manuskripte lang vergangener Zeitalter retteten, um auf diese Weise der Renaissance des Wissens und Denkens den Weg zu bahnen, fügte er ernst hinzu:

»Ich frage mich, ob die Wissenschaft je für ihre Anhänger soviel tun wird, wie die Religion für die ihrigen getan hat. Mit anderen Worten: Ich frage, ob es je ein weltliches Monte Cassino geben wird!«

Taine war ein großer Lehrer, und ich verdanke ihm manche gütige Ermutigung und Erleuchtung. Ich möchte noch eine seiner Bemerkungen anführen, die in ihrer unumwundenen französischen Sprachfreiheit in meine durstige Seele wie reines Quellwasser fiel. Wir standen eines Tages um ihn herum, und einer der Studenten mit einer besonderen Begabung für vage Gedankengänge und eine hochtrabende Rhetorik wollte wissen, was Taine von der Idee hielt, daß alle Welten-, Planeten- und Sonnensysteme sich um eine Achse drehten und sich nach irgendeiner göttlichen Erfüllung hinbewegten. Taine, der solche windige Rhetorik haßte, bemerkte ruhig: »Die einzige Achse, um die sich meines Wissens alles der Vollendung zu dreht, ist der Leib einer Frau.«

Trotz der großartigen Wohnungseinrichtung seiner Brünette stellte Ned gegen Ende der Woche fest, daß er sich doch etwas zugezogen hatte. Man verbot ihm Wein und Kaffee, bis er geheilt war. Er durfte sich auch nicht viel bewegen, mußte zu Hause bleiben, während ich ausging, und die Aussicht auf die Rue St. Jacques war keineswegs fesselnd. Er lehnte sich bald gegen diese Einsperrung und das Zimmer ohne Baderaum auf. Es verlangte ihn nach dem Zentrum der Stadt, nach der Oper und den Boulevards, und er quälte mich, mit ihm nach der inneren Stadt zu ziehen. Er wollte sich von seinen Verwandten Geld borgen.

Wie ein Narr ging ich darauf ein, und wir mieteten uns in einer ruhigen Straße hinter der Madeleine neue Zimmer, die uns sechsmal so viel kosteten wie die Stube bei Marguerite. Mein Geld schmolz schnell, aber das Leben war sehr angenehm. Wir fuhren oft im Bois herum, gingen häufig in die Oper, in die Theater und Varietés und speisten in den großen Restaurants, in dem Café Anglais und den »Trois Frères«, als ob wir Millionäre wären. Außerdem kostete Neds Geschlechtskrankheit viel Geld, die Ärzterechnung war so hoch, daß ich dem allem kaum gewachsen war. Eines Tages merkte ich plötzlich, daß ich nur sechshundert Dollar in der Bank besaß. Ich entschloß mich sofort, dieser Lebensweise ein Ende zu machen. Ich teilte Bancroft meinen Entschluß mit. Er bat mich, noch zu warten, er hätte an seine Verwandten um Geld geschrieben und wollte seine Schulden bezahlen. Aber ich fühlte, daß ich durch ihn vom rechten Wege abgekommen war, und war wütend auf mich selbst, weil ich mein Geld für einen albernen Luxus und eine blöde Protzerei verschwendet hatte.

Ich erklärte ihm, ich sei krank und müßte sofort nach England fahren. Ich wollte ein neues Leben beginnen und mir wieder etwas Geld verdienen. Einige Tage später verabschiedete ich mich von Bancroft, kreuzte den Kanal und suchte meine Schwester und meinen Vater in Tenby auf. Ich kam dort mit einem Fieberanfall, einem gräßlichen Kopfschmerz und allen Symptomen von Malaria an.

Ich war krank und erledigt. Ich hatte das Leben und die Literatur in doppelten Dosen genossen, hatte alle wichtigsten französischen Schriftsteller von Rabelais und Montaigne bis zu Flaubert, Zola und Balzac über Pascal, Vauvenargues, Renan und Hugo verschlungen, hatte in diesem und jenem Künstleratelier herumgeschnüffelt, hatte stundenlang Rodin bei seiner Arbeit zugesehen. Während dieser meiner ersten Zeit in Paris war ich vollkommen keusch, teils dank dem Beispiel von Neds Reinfall, teils dank meiner Abneigung, mich mit irgendeiner Frau einzulassen, der ich nicht von Herzen zugetan war. Jedenfalls war es nicht erotische Ausschweifung, die meine Gesundheit in Paris zugrunde richtete, sondern mein leidenschaftlicher Wissensdurst, der die Schlafstunden beschnitt und meine Nerven zerrüttete. Ich erkältete mich und bekam einen Malariarückfall. Es verlangte mich nach Ruhe, nach Atempause und Nachdenken.

Das kleine Haus in einer Seitenstraße des entzückenden walisischen Badeortes war genau der Ruhehafen, den ich brauchte. Es ging mir bald wieder gut, und zum ersten Male lernte ich wirklich meinen Vater kennen. Wir machten zusammen große Spaziergänge, obwohl er über Sechzig war. Nach seinem furchtbaren Unfall vor sieben Jahren (er war ausgeglitten und dreißig Fuß tief in ein Trockendock, in dem sein Schiff repariert wurde, gefallen) war die eine Seite seines Schnurrbarts weiß geworden, während die andere jettschwarz blieb. Ich war zuerst über seine Widerstandskraft verblüfft. Ein Spaziergang von zehn Meilen machte ihm nichts aus. Während eines unserer Ausflüge fragte ich ihn, warum er mich nicht Seekadett werden ließ.

Er war seltsam schweigsam und ließ das Thema nach der Bemerkung »Für dich Marine, nein!« fallen. Nach einigen Tagen kam er jedoch von allein darauf zurück.

»Du hast mich gefragt, warum ich dich nicht Seekadett werden ließ. Ich will es dir sagen: Um in der britischen Marine Karriere zu machen, muß man entweder hochgeboren oder vermögend sein. Du warst keins von beiden. Für einen Jüngling ohne Stellung oder Geld gibt es nur zwei mögliche Wege des Aufstiegs: Servilität und Schweigen, und beides lag dir fern.«

»Ach, Vater, wie richtig und klug es von dir war; aber warum hast du es mir nicht gesagt? Ich hätte es damals ebensogut wie jetzt verstanden und hätte dich um so mehr geliebt, weil du es verhindert hast.«

»Du vergißt, daß ich mich für den Weg des Schweigens geschult hatte, und heute noch fällt es mir schwer, mich auszudrücken.« Und er fuhr mit unendlicher Bitterkeit in Stimme und Tonfall fort: »Man trieb mich ins Schweigen hinein. Wenn du wüßtest, was ich vor dem ersten Schritt zum Leutnant gelitten habe! Wenn der Entschluß, deine Mutter zu heiraten, mich nicht gehalten hätte, würde ich nie die zahllosen Demütigungen blödsinniger Vorgesetzter heruntergeschluckt haben. Ich sah genau wie in einem Spiegel, was mit dir geschehen würde. Du warst klug, impulsiv und aufbrausend. Weißt du denn nicht, wie Intelligenz, Energie und Willenskraft von dem Abschaum der Menschheit gehaßt werden? Und in dieser Welt bildet der Abschaum die Mehrheit! Irgendein Leutnant oder Hauptmann hätte eine sofortige Abneigung gegen dich gefaßt, die sich bei jeder Dokumentierung deiner Überlegenheit verstärkt hätte. Er würde dir wegen Insubordination und Unverschämtheit Fallen gestellt haben, und in irgendeinem Hafen, wo er allmächtig war, hätte er dich vor ein Militärgericht zitiert. Man würde dich mit Schmach und Schande aus der Marine gejagt haben, und dein Leben wäre ruiniert gewesen. In der britischen Marine ist kein Platz für ein Genie.«

Mit dieser Szene begann meine Versöhnung mit dem Vater und wurde durch eine andere Erfahrung vollendet.

Ich hatte mich bei einem unserer Spaziergänge erkältet und bekam am nächsten Tage einen Hexenschuß. Ich ging zu einem netten, walisischen Arzt, der mich kannte, und er gab mir eine Flasche Belladonnatinktur für äußeren Gebrauch. »Ich habe hier keine richtige Giftflasche,« fügte er hinzu, »und ich darf es Ihnen eigentlich nicht so geben« (in Großbritannien ist es verboten, die Gifte anders als in rauhen, achteckigen Flaschen zu verkaufen, die man schon beim Anrühren als Giftflaschen erkennt).

»Ich werde es nicht trinken«, erwiderte ich lachend. – »Wenn Sie es tun, brauchen Sie mich nicht holen zu lassen, denn der Inhalt genügt, um zehn Menschen umzubringen«, meinte er. Ich nahm die Flasche, und merkwürdigerweise sprachen wir noch einige Minuten lang über Belladonna und seine Wirkungen. Richards (so hieß der Arzt) versprach mir, noch am selben Abend eine dunkle Medizin zu schicken, und er versicherte mir, daß mein Hexenschuß bald kuriert sein würde. Und er hatte recht, aber die Kur nahm einen anderen Verlauf, als er gedacht hatte.

Meine Schwester hatte ein Hausmädchen namens Lizzie. Eines Morgens machte ich Lizzie Vorwürfe, weil sie mir nicht die von Dr. Richards verordnete Medizin gebracht hatte. »Sie steht auf dem Kamin im Eßzimmer,« sagte ich, »aber bemühen Sie sich nicht, ich hole sie mir schon selbst«; und ohne mich anzuziehen, rannte ich, wie ich war, herunter. Ein oder zwei Abende später ließ ich die Belladonnatinktur, die der Arzt mir verordnet hatte, auf dem Kaminsims stehen. Sie hatte dieselbe Farbe wie die dunkle Medizin, war auch in einer ähnlichen Flasche. Am nächsten Morgen weckte Lizzie mich auf und reichte mir ein Glas mit dem braunen Getränk. »Ihre Medizin«, sagte sie. Ich war noch halb verschlafen und sagte ihr, sie sollte das Frühstückstablett auf meinen Nachttisch stellen, und ich trank das Glas aus, das sie mir gab. Der Geschmack rüttelte mich auf. Mund und Kehle waren mir wie ausgetrocknet. Ich sprang aus dem Bett und ging an den Spiegel. Ja, ja, die Pupillen meiner Augen waren unnatürlich geweitet! Hatte sie mir statt meiner Medizin die ganze Portion Belladonna gegeben? Ich hörte noch ihre Schritte auf der Treppe, aber wozu noch Zeit auf Fragen verlieren? Ich stürzte an den Tisch, goß eine Tasse Tee nach der andern hinunter, rannte dann in das Eßzimmer, wo mein Vater und meine Schwester beim Frühstück saßen. Ich schenkte mir Tee ein und trank schweigend einige Tassen. Dann bat ich meine Schwester, mir Senf und warmes Wasser zu holen, und antwortete auf die Frage meines Vaters mit der kurzen Bitte: »Geh zu Dr. Richards und sag' ihm, er soll sofort herkommen. Ich habe irrtümlicherweise Belladonna getrunken. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Mein Vater war schon aus dem Hause. Meine Schwester brachte mir den Senf, und ich mischte eine starke Dosis mit heißem Wasser und nahm es als Brechmittel. Aber es nutzte nichts. Mein Magen war anscheinend paralysiert. Meine Schwester stürzte weinend herein. »Ich fürchte, es ist keine Hoffnung mehr, Nita«, sagte ich. »Der Doktor hat mir erklärt, es sei hier genug, um ein Dutzend Menschen umzubringen, und ich habe alles auf einen Zug heruntergegossen. Du bist immer so nett und gut zu mir gewesen, Liebes. Und der Tod hat nichts Schreckliches.«

Sie schluchzte herzzerbrechend, und so bat ich sie, um sie zu beschäftigen, mir einen Kessel heißen Wassers zu bringen. Sie stürzte aus dem Zimmer heraus, und ich stellte mich vor den Spiegel, um mit meiner eigenen Seele Abrechnung zu halten. Ich wußte, daß ich Belladonna auf den leeren Magen genommen hatte und verloren war. In zehn Minuten werde ich bewußtlos, und in einigen Stunden tot sein. Tot! Hatte ich Angst davor? Ich stellte mit Stolz fest, daß in mir keine Spur von Angst oder Zweifel war. Der Tod ist nichts anderes als ein ewiger Schlaf, nichts anderes. Und doch wünschte ich, ich hätte Zeit gehabt, mich zu beweisen und zu zeigen, was in mir war. Hatte Smith recht? Hätte ich wirklich einer der besten Köpfe der Welt werden können? Hätte ich die Gemeinschaft der ganz Großen erreicht, wenn ich am Leben geblieben wäre? Man konnte nicht wissen, aber ich entschloß mich damals, wie zur Zeit des Schlangenbisses, mich mit aller Kraft am Leben zu erhalten. Ich trank ununterbrochen kaltes Wasser. Als meine Schwester mir das warme Wasser hereinbrachte, begann ich, es in langen Zügen herunterzuschlucken. Das Denken wurde mir immer schwieriger, und so küßte ich meine Schwester und sagte: »Ich denke, es ist besser, wenn ich jetzt zu Bett gehe, solange ich noch gehen kann.« Und als ich mich ins Bett legte, sagte ich: »Ich frage mich, ob ich hier mit den Beinen voran herausgetragen werde, während sie das Miserere singen. Es schadet nichts. Ich habe das Leben in langen Zügen getrunken und bin bereit zu gehen, wenn es sein muß ...«

In diesem Moment kam Dr. Richards hinein. »Wie kam es, in Gottes Namen, daß Sie trotz unseres Gesprächs die Medizin verwechseln konnten?« Seine Aufgeregtheit und sein starker walisischer Akzent brachten mich zum Lachen. »Geben Sie schnell die Magenpumpe, Doktor,« rief ich, »ich bin voll von dem Zeug!« Aber auch die Magenpumpe erwies sich als nutzlos. Das ganze Belladonnagift war schon in den Organismus übergegangen. Das war mein letzter bewußter Gedanke. Ich klammerte mich, solange es ging, am Bewußtsein fest. Ich wollte nicht aufhören zu denken. Ich hörte noch den Doktor sagen: »Ich werde ihm Opium – eine große Dosis – geben.« Und ich lachte im geheimen bei dem Gedanken, daß sowohl das narkotische Opium wie die stimulierende Belladonna die Bewußtlosigkeit herbeiführen würden, das eine Mittel durch Aufpeitschen, das andere durch Verlangsamen der Herztätigkeit ...

Viele Stunden später wachte ich auf, es war Nacht, die Kerzen brannten, und Dr. Richards beugte sich über mich. »Kennen Sie mich?« fragte er, und ich erwiderte sofort: »Selbstverständlich kenne ich Sie, Richards!« Und ich fuhr triumphierend fort: »Ich bin gerettet. Ich bin übern Berg. Wenn ich hätte sterben sollen, wäre ich nicht aus der Bewußtlosigkeit erwacht.« Zu meiner Verblüffung runzelte er die Augenbrauen und sagte: »Trinken Sie das, und dann schlafen Sie wieder ruhig. Es ist alles in Ordnung.« Und er hielt mir ein Glas mit weißlicher Flüssigkeit an die Lippen. Ich trank es aus und sagte fröhlich: »Milch! Wie komisch, daß Sie mir Milch geben! Es steht in keinem Ihrer Bücher.« Er sagte mir später, es sei Rhizinusöl gewesen, das ich für Milch gehalten hatte. Ich empfand es ganz vage, daß ich nicht mehr Herr meiner Worte sei, sogar bevor er noch die Hand auf meine Stirn legte und sagte: »Sprechen Sie jetzt nicht, ruhen Sie sich, bitte, aus.« Ich schloß die Augen. Ich konnte es nicht verstehen, warum er mir Stillschweigen auferlegte. Ich konnte mich auch an meine letzten Worte nicht erinnern. Was war denn los? –

Ein furchtbarer Gedanke rüttelte mich plötzlich auf – hatte ich denn Unsinn gesprochen? Das Gesicht meines Vaters schien ganz verstört, während ich sprach.

War es denn möglich, vernünftig zu denken und wie ein Irrsinniger zu reden? Was für ein furchtbares Geschick! Ich beschloß, in einem solchen Falle, sobald ich mir bewußt war, daß mein Zustand hoffnungslos sei, von meinem Revolver Gebrauch zu machen. Dieser Gedanke gab mir meine Ruhe wieder, und ich legte mich zufrieden hin. In einigen Minuten war ich fest eingeschlafen.

Als ich das nächste Mal aufwachte, war es wieder Nacht, und der Doktor und meine Schwester standen wieder an meinem Bett. »Kennen Sie mich?« fragte er mich wieder, und ich erwiderte: »Selbstverständlich erkenne ich Sie und meine Schwester.«

»Das ist großartig,« rief er erfreut aus, »jetzt wird es Ihnen bald gut gehen!«

»Selbstverständlich,« meinte ich lächelnd, »ich habe es Ihnen schon vorher gesagt. Aber Sie schienen damals verstimmt. Habe ich phantasiert?«

»Lassen Sie das,« erwiderte er, »regen Sie sich nicht auf, und es wird Ihnen bald gut gehen.«

»Es hing wohl an einem Haar, nicht wahr?«

»Und ob!« erwiderte er. »Sie haben sechzig Gran Belladonna geschluckt, während die medizinische Dosis ein Viertel Gran beträgt und, unseren Büchern gemäß, ein Gran für tödlich gehalten wird. Ich werde nicht einmal die Möglichkeit haben, mich Ihres Falls in den medizinischen Zeitschriften zu rühmen,« fuhr er lächelnd fort, »denn kein Mensch würde mir glauben, ein Herz könne so schnell galoppieren, daß man es kaum zu zählen vermag, sicherlich zweihundert Pulsschläge in der Minute, und das dreißig Stunden lang, ohne zu zerspringen. Sie sind geprüft worden, wie kaum ein Mensch vorher. Aber jetzt schlafen Sie noch. Der Schlaf ist das beste Heilmittel der Natur.«

Am nächsten Morgen erwachte ich ausgeruht, aber sehr schwach. »Nun ist das Wunder vollbracht!« rief der Doktor aus! »Ich bin sicher, daß auch Ihr Hexenschuß geheilt ist.« Und ich hatte auch wirklich keine Schmerzen mehr.

An diesem Abend hatte ich eine große, an Tiefstes rührende Aussprache mit meinem Vater. Ich erzählte ihm von meinem Ehrgeiz, und er versuchte, mir einhundert Pfund jährlich aufzudrängen, um meine Studien fortsetzen zu können. Ich sagte ihm, ich könnte das Geld nicht annehmen, aber ich sei ihm dafür von Herzen dankbar. »Ich werde schon Arbeit bekommen, sobald es mir besser geht«, sagte ich ihm. Seine selbstlose Liebe erschütterte mich bis in die tiefste Seele hinein. Und als er mir sagte, daß auch meine Schwester mit diesem Zuschuß einverstanden war, konnte ich nur den Kopf schütteln und ihm danken. An diesem Abend ging ich früh zu Bett, und er setzte sich zu mir. Der Arzt hatte mir viel Schlaf verordnet. Seltsame, farbige Lichter schwammen vor mir im Dunkel, sooft ich die Augen schloß. Ich bat meinen Vater, sich neben mich zu legen und meine Hand zu halten. Sobald er neben mir lag und meine Hand faßte, fiel ich in tiefen Schlaf und schlief wie ein Klotz bis zum nächsten Morgen. Ich wachte vollkommen gesund und erfrischt auf und bemerkte mit Entsetzen, wie schmal und blaß das Gesicht meines Vaters war und daß er sich kaum auf den Füßen halten konnte, als er aufstand. Ich sah dann, daß er die ganze Nacht hindurch auf der Messingkante des Bettes geschlafen hatte, um mich nicht zu stören. Von dieser Stunde an bis zum Ende seines selbstlosen Lebens, ungefähr fünfundzwanzig Jahre lang, war ich von tiefster Bewunderung und Liebe für ihn erfüllt.

Als es mir besser ging, lernte ich einen jungen Oxfordstudenten kennen, der sich über meine genaue Kenntnis der Literatur wunderte und mir eines Tages die Nachricht brachte, daß Grant Allen, der Schriftsteller, seine Stellung als Professor der Literatur im Brighton College aufgegeben hatte. »Warum sollten Sie sich nicht darum bemühen? Es trägt ungefähr zweihundert Pfund jährlich, und es kann Ihnen nichts Schlimmeres passieren, als daß man es Ihnen abschlägt.«

Ich schrieb sofort an Taine, erzählte ihm von meiner Lage und meiner Krankheit und bat ihn um ein Empfehlungsschreiben, falls er mich für geeignet halten sollte. Ich bekam umgehend einen Brief von ihm, der mich in den wärmsten Worten empfahl. Diesen Brief schickte ich an den Direktor Dr. Bigge, mit einem Empfehlungsschreiben von Professor Smith, und Dr. Bigge forderte mich sofort auf, nach Brighton zu kommen. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden wurde ich engagiert, obwohl er Bedenken hatte, daß ich zu jung sei, um die Disziplin aufrecht zu erhalten. Er sah bald ein, wie unberechtigt seine Furcht war. Ich hätte einen Hyänenkäfig in Ordnung halten können.

Ein langes Buch würde kaum genügen, um mein Jahr als Schullehrer in Brighton zu beschreiben. Ich will hier jedoch nur einige charakteristische Einzelheiten anführen. In jeder Klasse von dreißig Schülern fand ich fünf oder sechs wirklich fähige, und in der ganzen Schule kaum drei oder vier außerordentlich begabte. Aber sechs auf zehn waren ebenso dumm wie eigensinnig, und die überließ ich ganz ihrem eigenen Schicksal. Dr. Bigge machte mich darauf aufmerksam, daß, während einige meiner Schüler große Fortschritte zeigten, die Mehrzahl kaum welche aufweisen konnte. Ich ging sofort zu ihm und händigte ihm meine schriftliche Demission ein, die in jedem gegebenen Augenblicke erfolgen konnte. »Ich kann mich nicht mit Narren abgeben, die nichts lernen wollen, während ich alles für die Begabten tun würde.«

Die meisten der begabten Jungen mochten mich, und ein kleiner, charakteristischer Vorfall kam mir zu Hilfe. Wir hatten einen Klassenlehrer, namens Wolverton, einen Oxford-Studenten und Sohn eines bekannten Erzdechanten, der manchmal mit mir ins Theater oder zum Rollschuhring ging. Eines Nachts im Ring machte er mich auf einen Jüngling im Strohhut aufmerksam, der von einer Frau begleitet war.

»Sehen Sie hin,« sagte Wolverton, »da geht der Soundso in unseren Farben und mit einer Frau. Haben Sie ihn gesehen?«

»Ich habe nicht hingeguckt,« erwiderte ich, »aber es wäre doch nichts Merkwürdiges, wenn ein Primaner seine Flügel außerhalb des Nestes versucht.«

Bei der nächsten Lehrerversammlung berichtete Wolverton zu meinem Entsetzen über den Vorfall und erklärte, der Knabe müßte den Namen der Frau angeben, sonst würde er ausgewiesen werden. Er rief mich als Zeugen an. Ich stand sofort auf und sagte, ich sei zu kurzsichtig, um mit Bestimmtheit den Knaben auf eine solche Entfernung zu erkennen, und außerdem weigerte ich mich, in irgendeiner Weise bei dieser Sache herangezogen zu werden.

Dr. Bigge sah den Vorfall sehr ernst an. »Die Moral eines Jungen«, erklärte er, »muß in erster Linie berücksichtigt werden.« Man müßte der Sache auf den Grund gehen. Und eigentlich könnte ich nicht leugnen, daß ich an jenem Abend einen Jungen in Schulfarben und in verdächtiger Gesellschaft gesehen hätte.

In diesem Augenblick stand ich auf und legte los! Die ganze Gesellschaft um mich herum schien mir aus lauter Heuchlern zu bestehen.

»In dem eigenen Hause des Doktors,« sagte ich, »in dem ich Abendstunden gebe, könnte ich ihm eine Liste von Knaben anführen, von denen es bekannt ist, daß sie ein Verhältnis miteinander haben, und solange dieses Laster in der Schule geduldet wird, werde ich mich nicht dazu hergeben, irgend jemanden zu verfolgen, der einer natürlichen und berechtigten Leidenschaft nachgibt.« Ich hatte kaum die letzten Worte gesprochen, als Cotteril, der Sohn des Bischoffs von Edinburgh, aufstand und mich aufforderte, sein Haus von einem solchen ekelhaften und unerträglichen Verdacht zu befreien. Ich erwiderte ihm, daß in seinem Hause ein paar Knaben unter dem Namen die »Inséparables« bekannt seien, und betonte noch, einmal, daß meine Bedenken sich gegen das ganze Internatssystem und nicht gegen die einzelnen Lehrer richteten, die, wie ich gern glaubte, ihr Bestes taten.

Der Vizedirektor Dr. Newton war der einzige, der meine guten Motive anerkannte. Er ging aus der Versammlung mit mir zusammen weg und gab mir den Rat, mit seiner Frau zu sprechen. Von den andern Lehrern wurde ich boykottiert. Ich hatte in der Öffentlichkeit gesagt, was Wolverton und die andern mir privat unzählige Male zugegeben hatten.

Frau Newton gehörte zu der führenden Gesellschaft in Brighton. Sie war, was die Franzosen »une maîtresse femme« nennen. Sie gab mir den Rat, Literaturvorlesungen für Mädchen zu halten, und war so gütig, die Zirkulare auszusenden und mir ihren Salon für die ersten Vorlesungen zur Verfügung zu stellen. In einer Woche hatte ich fünfzig Schülerinnen, und bald verdiente ich zehn Pfund in der Woche neben meinem Gehalt. Ich sparte jeden Pfennig, und nach einem Jahre war ich finanziell unabhängig.

In jeder Krisenzeit meines Lebens halfen mir gute Freunde, aus reinster Menschlichkeit, unter Opfern von Zeit und Mühe, Smith in Lawrence, und Mrs. Newton in Brighton.

Ich hatte noch vorher einen Bankier Harold Hamilton kennengelernt, der Direktor der »London and County Bank« in Brighton war. Es machte ihm Spaß, zu sehen, wie mein Bankkonto wuchs. Ich erzählte ihm von meinen Plänen und meinem Ziel, und er interessierte sich für mich. In der Zwischenzeit brach der Krieg zwischen Chile und Peru aus. Die Staatspapiere von Chile fielen von neunzig auf sechzig. Als ich Hamilton sah, versicherte ich ihm, daß Chile, allein gelassen, ganz Süd-Amerika schlagen könnte. Er riet mir jedoch, noch abzuwarten. Etwas später trat Bolivien auf Perus Seite, und die Chilepapiere fielen auf dreiundvierzig oder vierundvierzig. Ich ging sofort zu Hamilton und gab ihm den Auftrag, für mein ganzes Geld Chileobligationen zu kaufen. Nach vielem Hin- und Hergerede ging er darauf ein. Ungefähr vierzehn Tage später kam die Nachricht von dem ersten Sieg der Chilenen, und die Obligationen gingen bis zu sechzig in die Höhe und kletterten nun von Tag zu Tag. Ich verkaufte sie, als sie auf achtzig standen, und hatte aus meinen ersten fünfhundert Pfund zweitausend Pfund gewonnen, und um Weihnachten herum hatte ich genug, um mich meinem Studium zu widmen. Hamilton folgte meinem Beispiel etwas später, hatte jedoch eine größere Summe angelegt.

Ich muß nun über das wichtigste Ereignis in der Brightonzeit berichten. Ich habe bereits in einer Skizze über Carlyle erzählt, wie ich eines Sonntagmorgens meinen Helden Thomas Carlyle in Chelsea aufgesucht hatte. Ich erzählte dort auch, wie ich ihn öfters sonntags auf seinem Morgenspaziergang am Chelsea-Ufer traf und wie er mir einmal über seine Frau sprach und seine Impotenz gestand.

Ich gab dort nur einen flüchtigen Bericht über einige unserer Gespräche, denn die Grundzüge werden durch Wiederholung nicht verstärkt. Hier möchte ich jedoch einige Einzelheiten hinzufügen, denn alles, was Carlyle betrifft, verdient unser Interesse.

Als ich ihm erzählte, welchen Eindruck Emersons Rede an die Studenten von Dartmouth auf mich gemacht hatte und wie sie mich eigentlich dazu gebracht hatte, meine juristische Praxis aufzugeben, um nach Europa zum Studium zu gehen, unterbrach er mich erregt:

»Ich erinnere mich sehr gut, wie ich diese Seite meiner Frau vorlas und ihr sagte, etwas Reineres und Edleres sei seit Schillers Tod nie geschrieben worden. Diese hinreißende Kraft. Also das hat Sie auf Ihren Weg gewiesen und die Wendung in Ihr Leben gebracht? ... Ich wundere mich nicht ... es war der große Ruf.«

Von jenem Augenblick an schien Carlyle mich gern zu haben. Als ich nach Deutschland ging, sagte er mir beim Abschied: »Mit Gott auf den Weg, der jetzt vor Ihnen liegt!« Er sprach wieder von Emerson und der Trauer, die er beim Abschied von ihm empfand, der tiefen, tiefen Trauer – und er legte die Hände auf meine Schultern: »Sie trauerten, weil sie nicht mehr sein Antlitz erblicken sollten.« Ich erinnerte mich an die Stelle und rief aus: »Ich hätte es eigentlich sagen sollen, denn mein ist der Verlust, mein das unsagbare Leid.« Und durch meine Tränen hindurch sah ich seinen feuchten Blick.

Er gab mir einen Brief an Froude, an den »lieben, guten Froude«, der mir zu einer literarischen Stellung verhelfen konnte, »wenn ich nicht mehr da sein sollte, wie es bald der Fall sein wird«, fügte Carlyle hinzu. Und Froude half mir, wie ich im Verlauf meiner Geschichte erzählen werde.

Mein Porträt Carlyles wurde von einem Verwandten, Alexander Carlyle, heftig angegriffen, der behauptete, ich hätte meine Informationen über Carlyles Schwäche den Froudeschen Enthüllungen im Jahre 1904 entnommen. Aber glücklicherweise erinnerte sich Sir Charles Jessel an das Essen im Garrick-Klub im Jahre 1886 oder 1887, bei dem Sir Richard Quain und ich anwesend waren. Jessel erinnerte sich genau, daß ich an diesem Abend die Geschichte von Carlyles Impotenz als Erklärung der Traurigkeit seines Ehelebens erzählt und ihm versichert hatte, daß Carlyle selbst es mir gestanden habe.

Bei diesem Essen sagte mir Sir Richard Quain, er sei der Arzt von Frau Carlyle gewesen und würde mir später genau berichten, was sie ihm erzählt hatte. Hier ist der Bericht, den mir Quain in jener Nacht in einem Klubzimmer in Garrick gab:

»Ich war jahrelang ein Freund der beiden Carlyles gewesen. Er war für mich der Held, einer der klügsten und gütigsten Menschen, sie war sehr witzig und weltgewandt und gefiel mir eigentlich noch mehr als der Weise. Eines Abends fand ich sie auf dem Sofa liegend mit großen Schmerzen. Sie zeigte auf ihren Unterleib, und ich erriet sofort, es müßte eine durch das Klimakterium hervorgerufene Störung sein. Ich bat sie, ins Schlafzimmer zu gehen, ich wollte eine Viertelstunde später heraufkommen, um sie zu untersuchen, und ich versicherte, ich würde ihr sofort helfen können. Sie ging nach oben. Nach ungefähr zehn Minuten fragte ich ihren Gatten, ob er mitkommen wollte. Er erwiderte in dem breitesten, schottischen Akzent, der immer bei ihm ein Zeichen der Erregung war:

›Ich will nichts damit zu tun haben, ihr müßt das untereinander abmachen.‹

Ich ging nach oben und klopfte an Frau Carlyles Schlafzimmertür. Keine Antwort. Ich drückte die Klinke herab, die Tür war verschlossen. Und als ich keine Antwort bekam, ging ich hinunter und stürzte aus dem Hause.

Ich blieb ungefähr vierzehn Tage weg, aber als ich eines Abends zurückkam, sah ich mit Entsetzen, wie schlecht Frau Carlyle aussah und wie elend und todblaß sie auf dem Sofa lag. ›Es geht Ihnen schlechter?‹ fragte ich.

›Viel schlechter, und ich fühle mich schwächer!‹ erwiderte sie.

›Sie sind ein eigensinniges, verbohrtes Wesen. Ich bin Ihr Freund und Ihr Arzt. Sie müssen Vertrauen zu mir haben. Ich kann Ihnen im Handumdrehen helfen, und Sie ziehen es vor zu leiden. Wie dumm von Ihnen! – Kommen Sie jetzt nach oben und sehen Sie mich nur als Arzt an.‹ Und ich hob sie halb vom Sofa und stützte sie auf der Treppe. Als wir an ihrer Schlafzimmertür standen, sagte sie:

›Geben Sie mir zehn Minuten, Doktor, und ich mach' mich fertig. Ich verspreche Ihnen, ich schließe die Tür nicht ab.‹

Nach zehn Minuten klopfte ich an und kam herein.

Frau Carlyle lag auf dem Bett und hatte einen weißen Wollschal um Kopf und Gesicht gewickelt. Ich hielt es für eine alberne Affektiertheit bei einer alten, verheirateten Frau und schritt ohne weiteres zur Untersuchung. Auf einmal sprang ich auf. ›Sie sind ja eine virgo intacta!‹ rief ich aus.

Sie zog den Schal vom Kopf und sagte: ›Was haben Sie denn erwartet?‹

›Alles, nur das nicht bei einer Frau, die ungefähr fünfundzwanzig Jahre verheiratet ist!‹

Ich hatte sie in kürzester Zeit geheilt. Sie hatte bald ihr altes, lustiges und übermütiges Wesen wiedergewonnen.

Etwas später erzählte sie mir ihre Geschichte:

›Nach der Hochzeit war Carlyle sehr merkwürdig und verstimmt, schien sehr nervös und gereizt. Als wir nach Hause kamen, aßen wir zu Abend, und gegen elf Uhr sagte ich, ich wollte zu Bett gehen, da ich müde' war. Er nickte und murmelte etwas. Ich legte meine Hände auf seine Schultern und sagte: Weißt du, Lieber, daß du mich heute noch nicht geküßt hast – an dem Tage unseres Lebens? – Und ich legte meine Wange an die seine, er küßte mich, sagte jedoch: Ihr Frauen denkt immer ans Küssen – ich komme gleich nach oben! – Ich ging nach oben, zog mich aus und legte mich zu Bett. Es war ihm den ganzen Tag lang nicht eingefallen, mich zu küssen. Etwas später kam er herauf, zog sich aus und legte sich neben mich. Ich wartete darauf, daß er mich in die Arme nahm, um mich zu streicheln und zu küssen. Nichts dergleichen geschah. Er lag da und zitterte. Einen Augenblick kam mir der Impuls, ihn zu küssen und zu streicheln. Im nächsten Moment fühlte ich die Empörung in mir. Ich stellte meine ganzen Hoffnungen und Vorstellungen der Hochzeitsnacht neben die Wirklichkeit: schweigend lag der Mann da und zitterte. Plötzlich brach ich in ein wildes Gelächter aus. Es war zu jämmerlich, zu absurd ...

Sofort sprang er aus dem Bett heraus, rief mir verächtlich zu: Weib! und ging ins Nebenzimmer. Er kam nie mehr in mein Schlafzimmer zurück.

Und doch war er einer der besten und vornehmsten Menschen der Welt, und wenn er zärtlicher zu mir gewesen wäre und mir öfters gesagt hätte, daß er mich liebte, hätte ich ihm jede körperliche Schwäche vergeben können. Das Schweigen ist der schlimmste Feind der Liebe. Eigentlich gab er mir nie Grund zur Eifersucht mit Ausnahme einer kurzen Zeit mit Lady Ashburnham. Ich glaube, ich bin mit ihm so glücklich geworden, wie ich es nur werden konnte ...‹

Das ist meine Geschichte,« schloß Quain, »und ich schenke Sie Ihnen. Selbst auf den elyseeischen Gefilden würde ich mich über das Zusammentreffen mit Carlyles freuen, es war ein großes Paar.«

Nur noch eine Szene: Als ich Carlyle erzählte, daß ich in einem Jahr zweitausendfünfhundert Pfund verdient hatte und daß mir ein Bankier mit Sicherheit ein großes Vermögen versprach, wenn ich mit ihm eine Kohlengrube bei Tunbridge Wells kaufen würde (es war Hamiltons Lieblingsplan), war er sehr erstaunt. »Ich möchte wissen,« fuhr ich fort, »ob Sie mich für fähig halten, etwas Gutes in der Literatur zu leisten. Wenn ja, dann werde ich mir alle Mühe geben. Im andern Falle würde ich lieber Geld verdienen und nicht meine Zeit verschwenden, um zu einem zweitklassigen Schriftsteller zu werden.«

»Das kann Ihnen keiner sagen,« meinte Carlyle langsam, »Sie können glücklich sein, wenn Sie die Erkenntnis Ihres eigenen Wesens vor Ihrem Tode erlangen. Ich hielt meinen »Friedrich« für ein großes Werk, und doch sagten Sie vor ein paar Tagen, ich hätte ihn unter den vielen Bänden begraben – und vielleicht haben Sie recht. Aber habe ich denn etwas geleistet, was leben wird?«

»Sicherlich,« unterbrach ich ihn, zutiefst betrübt über meine eigene Bemerkung, »sicherlich. Ihre ›Französische Revolution‹ wird unvergänglich sein, die ›Helden und Heldenverehrung‹ und die ›Briefe aus jüngster Zeit‹ und, und – – –«

»Genug,« rief er, »sind Sie sicher?«

»Ganz, ganz sicher«, erwiderte ich. Darauf sagte er: »Sie können Ihrer eigenen Stellung ebenso sicher sein, denn wir alle können die Höhen erreichen, die wir imstande sind, zu übersehen.«

 

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