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Kapitel X.
Meine erste Venus

 

Venus toute entière à sa proie attachée

 

Das Essen bei Gregorys war schon fast zu Ende, als ich hereinkam. Kate, ihre Mutter, der Vater und der kleine Tommy waren beim Essen. Die Pensionsgäste hatten schon fertiggegessen und waren verschwunden. Frau Gregory beeilte sich aufzustehen, und Kate sprang auf, um ihrer Mutter in die Küche zu folgen.

»Bitte, stehen Sie nicht auf,« rief ich dem Mädchen zu, »ich werde mir nie verzeihen, daß ich Sie gestört habe. Ich werde mich selbst bedienen. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein ...?«

Sie maß mich mit harten, gleichgültigen Blicken. »Setzen Sie sich dorthin,« meinte sie, »ich bringe Ihnen Ihr Abendbrot. Trinken Sie Tee oder Kaffee?«

»Kaffee, bitte«, antwortete ich und setzte mich hin. Ich hatte mich entschlossen, ihr gegenüber ganz kalt zu sein und zu versuchen, die anderen für mich zu gewinnen. Der Kleine fragte mich, ob ich Indianer gesehen hätte – »in Waffen und Kriegsbemalung«, fügte er eifrig hinzu.

»Ja, und nach ihnen geschossen habe ich auch«, erwiderte ich lächelnd. Tommys Augen glänzten. »Erzählen Sie's, bitte!« Und ich wußte, daß ich wenigstens eines Zuhörers sicher war.

»Ich habe eine Menge zu erzählen, Tommy,« sagte ich, »aber jetzt muß ich erst mit Expreßzugsgeschwindigkeit mein Abendbrot essen, sonst wird deine Schwester böse mit mir sein«, fügte ich hinzu, als Kate mit dem dampfenden Essen hereinkam. Sie zog ein Gesicht und zuckte die Achseln.

»Wo predigen Sie?« fragte ich den grauhaarigen Vater. »Mein Bruder erzählte mir, wie beredt Sie sind.«

»Nicht beredt,« erwiderte er abwehrend, »nur sehr eindringlich manchmal, besonders wenn ein Tagesereignis mit der Erzählung des Evangeliums zusammenfällt.« Aus seinem Gespräch merkte man, daß er ziemlich gebildet war, und ich sah, wie er sich freute, wenn man sich mit ihm beschäftigte. Kate brachte mir inzwischen frischen Kaffee, Frau Gregory setzte sich wieder an ihre Mahlzeit, und das Gespräch wurde interessant, dank der Äußerung von Gregory, der behauptete, das Feuer in Chicago hätte die Frömmigkeit aufgestachelt und ihm die Gelegenheit zu einer großen Predigt gegeben. Ich bemerkte dabei, daß ich die Feuersbrunst gesehen hätte, erzählte von der Randolphstreet Bridge, von dem gehenkten Mann und den Bildern am Seeufer an jenem unvergeßlichen Montagmorgen.

Zuerst ging Kate im Zimmer auf und ab und räumte das Geschirr weg, als ob sie meine Erzählung nicht interessierte, aber als ich die halbnackten Frauen und Mädchen am Seeufer schilderte, während die Flammen hinter uns in roten Fetzen zum Zenit emporschlugen und Flammenpfeile hinüberwarfen, bis die Schiffe auf dem Wasser aufloderten, blieb sie stehen, um zuzuhören.

Ich erinnerte mich an mein Programm, mich von den andern bewundern zu lassen und ihr gegenüber kalt und gleichgültig zu sein. Ich stand daher auf, als ob es mich störte, daß sie wie gebannt zuhörte, und sagte:

»Es tut mir leid, Sie aufgehalten zu haben. Ich habe zuviel geredet. Verzeihen Sie mir!« und ich ging in mein Zimmer trotz der Proteste und Bitten der anderen. Kate wurde rot, sagte jedoch kein Wort.

Sie zog mich ungemein an. Sie war unsagbar begehrenswert, sah gut aus und war sehr jung (erst sechzehn, wie mir ihre Mutter später sagte). Und ihre großen, braunen Augen waren fast so aufregend wie ihr hübscher Mund oder ihre schweren Hüften. Sie gefiel mir sehr, aber ich beschloß, sie ganz für mich zu gewinnen, und ich fühlte, daß ich es gut angefangen hatte. Jedenfalls würde sie über mich und meine Kälte nachzudenken haben.

Am nächsten Morgen machte ich einen Besuch bei Smith. Er wohnte bei Ehrwürden Kellogg, einem Professor der englischen Geschichte an der Universität. Kellogg war ein breitschultriger Mann von vierzig Jahren und hatte eine welke Frau ungefähr in demselben Alter. Rose, das hübsche Hausmädchen, ließ mich herein. Ich dankte ihr lächelnd. Sie war verblüffend hübsch, das hübscheste Mädchen, das ich in Lawrence gesehen habe, mittelgroß mit einem entzückenden Gesicht und einer blumenzarten Haut. Sie lächelte mir zu. Meine Bewunderung schien ihr nicht unangenehm zu sein.

Smith hatte Bücher für mich bereitgehalten, lateinische und griechische Wörterbücher, einen Tacitus und Xenophons Memorabilia mit einer griechischen Grammatik. Bei Tacitus lobte er den herrlichen Stil und das große Porträt des Tiberius. »Vielleicht das größte historische Porträt, das je in Worten übermittelt wurde.« In meinem romantischen Kopfe spukte eine Art von König Edward IV., aber ich wagte mich nicht damit heraus. Sobald Smith auf Xenophon überging und sein Bildnis des Sokrates mit dem Platos verglich, war ich ganz Ohr. Smith war unsagbar gütig gegen mich. Er sagte mir, ich könnte mit dem vorletzten Studienjahr anfangen und hätte nur zwei Jahre bis zur Prüfung. Wenn Willie mir auch nur fünfhundert Dollar zurückgab, konnte ich sorgenlos durchkommen.

Ich kehrte zum Abendessen zurück und überlegte mir, ob ich zu Frau Mayhew gehen sollte, wie ich ihr versprochen hatte, oder zu Hause bleiben, um Griechisch zu lernen. Ich entschloß mich zu arbeiten und legte einen Schwur ab, immer und bei jeder Gelegenheit die Arbeit vorzuziehen, einen Schwur, den ich, wie ich fürchte, öfter gebrochen als gehalten habe. Aber schließlich schrieb ich an Frau Mayhew, entschuldigte mich und versprach ihr, am nächsten Nachmittag zu kommen. Dann setzte ich mich hin, um die beiden Seiten der »Memorabilia« auswendig zu lernen.

Beim Abendessen war ich von einer zeremoniellen Höflichkeit, so oft Kate in meine Nähe kam. »Ich danke Ihnen verbindlichst« – »... es ist sehr gütig ...«, und kein Wort mehr. Ich stand auch bald auf und ging in mein Zimmer, um zu arbeiten.

Am nächsten Tage um drei Uhr klopfte ich an Frau Mayhews Tür. Sie öffnete selbst. »Wie lieb von Ihnen«, rief ich aus. Und als wir im Zimmer waren, zog ich sie an mich und küßte sie immer wieder. Sie schien kalt und gefühllos. Eine Weile lang sagte sie kein Wort. »Es ist mir, als ob ich durch ein Fieber hindurchgegangen wäre«, sagte sie endlich, hob die Arme und fuhr mit den Händen ins Haar, eine Geste, die mir sehr vertraut werden sollte. »Versprich's mir nie wieder,« sagte sie, »wenn du nicht ganz bestimmt kommen kannst. Ich dachte, ich werde wahnsinnig. Das Warten ist eine furchtbare Qual. Wer hielt dich denn zurück? Irgendein Mädel?« und ihr Blick forschte in meinen Augen.

Ich entschuldigte mich, aber ihre Heftigkeit kühlte mich ab. Selbst auf die Gefahr hin, mich mit meinen Leserinnen zu verfeinden, muß ich gestehen, daß ihre Leidenschaft diese Wirkung bei mir auslöste. Als ich sie küßte, waren ihre Lippen eiskalt, bis wir nach oben kamen, war sie jedoch aufgetaut. Mit tiefernsten Augen schloß sie die Tür ab und warf sich mir schluchzend um den Hals. Dann riß sie sich plötzlich ihr Kleid vom Leibe und lag nackt in meinen Armen. – – –

Nach einer Stunde erhob sie sich, Tränen liefen ihr die Wangen herunter. »Ich ersticke, ich bin atemlos und erschöpft. Es tut mir so leid, wir müssen aber aufstehen, ich habe Angst vor meinem Mädchen. Die Neger schwatzen soviel ...« Ich stand auf und ging ans Fenster. Das eine sah direkt auf den Garten. »Warum schaust du da hinaus?« fragte sie. – »Ich sehe mich eben um, wie ich am besten flüchten könnte, wenn man uns einmal überrascht. Wenn wir das Fenster offen lassen, kann ich immer in den Garten hinunterspringen und weglaufen.«

»Du wirst dir weh tun«, schrie sie auf.

»Nicht die Spur,« erwiderte ich, »ich könnte aus doppelter Höhe hinunterspringen ohne Schaden. Ich muß nur angezogen sein, sonst machen mir die Dornen den Garaus.« – »Du Bub,« lachte sie, »nach deiner Stärke und Leidenschaft ist es das Knabenhafte in dir, was ich am meisten liebe.« Und sie küßte mich immer wieder.

»Ich muß arbeiten,« warnte ich sie, »Smith hat mir eine Menge zu tun gegeben.« – »Mein Lieber,« ihre Augen füllten sich mit Tränen, »das heißt, daß du weder morgen noch übermorgen kommen kannst?«

»Unmöglich!« erklärte ich, »ich habe eine Woche Arbeit vor mir, aber ich komme an dem ersten Nachmittag, an dem ich mich frei machen kann, und ich lasse es dich einen Tag vorher wissen.« Sie sah mich mit tränenschweren Augen an, und ihre Lippen zitterten. »Die Liebe trägt in sich selbst die Qual«, seufzte sie.

In Wirklichkeit war ich ihrer überdrüssig geworden. Ihre Leidenschaft hatte nichts Neues mehr für mich. Es reizte mich nichts mehr an ihr, während Kate hübscher, viel jünger und unberührt war. Ich muß gestehen, daß es Kates Jungfräulichkeit war, die mich am meisten anzog. Durch Frau Mayhew begriff ich, daß kaum eine verheiratete Frau auf tausend den Höhepunkt der Intensität in der Liebe erreicht. Gewöhnlich ist es so, daß in dem Augenblick, in dem sie etwas zu empfinden beginnt, der Ehemann sich schlafen legt. Wenn die Mehrheit der Männer ihre Frauen gelegentlich befriedigen würden, wäre das Ziel der Frauenrevolte bald vollkommen verschoben: die Frauen brauchen in erster Linie einen Liebhaber, der sie bis zu der Grenze ihrer Erregbarkeit bringt. Die jetzigen wirtschaftlichen Verhältnisse bedingen es jedoch, daß die Männer in der Regel spät heiraten und schon vor der Ehe ihre virile Kraft erschöpft haben. Wenn sie jedoch jung heiraten, sind sie unwissend und egozentrisch, daß sie sich einbilden, ihre Frauen müssen befriedigt sein, wenn sie es selbst sind.

Im Laufe der nächsten Tage arbeitete ich viel, las die Bücher, die mir Smith geliehen hatte, »Das Kapital« von Marx, das mich hauptsächlich in seinem zweiten Teile stark packte, studierte Tacitus und Xenophon und lernte jeden Tag eine Seite Griechisch. Sobald ich müde war, setzte ich meine Belagerung Kates fort. Mein Feldzugsplan blieb unverändert. Ich erzählte ihrem Bruder Geschichten von der Büffeljagd und von den Kämpfen mit den Indianern. Ich sprach über Theologie mit ihrem Vater und ließ mir von ihrer Mutter die Jugenderinnerungen erzählen. Ich hatte bereits den ganzen Haushalt für mich gewonnen, bevor ich mit Kate ein Wort über die gewöhnlichen Höflichkeiten hinaus gewechselt hatte. So verging eine Woche, als ich die Familie eines Tages nach dem Essen noch mit der Erzählung unseres Überfalls in Mexiko aufhielt. Ich hatte den Augenblick gewählt, als Kate nicht im Zimmer war. Gegen Ende meiner Erzählung kam Kate herein. Ich beeilte mich, zu Ende zu kommen, entschuldigte mich und ging in den Garten.

Eine halbe Stunde später sah ich, daß sie auf meinem Zimmer war. Nach einer Weile Überlegung folgte ich ihr. Sobald ich sie erblickte, mimte ich Erstaunen: »Verzeihen Sie, bitte, ich wollte mir nur ein Buch holen und gehe gleich wieder weg. Lassen Sie sich nicht stören.« Und ich tat so, als ob ich das Buch suchte. Sie drehte sich brüsk um und starrte mich an: »Warum behandeln Sie mich so?« brach es aus ihr heraus. Sie bebte vor Empörung.

»Wie denn?« fragte ich mit gespieltem Erstaunen.– »Sie wissen es ganz gut«, fuhr sie gereizt und hastig fort. »Zuerst hielt ich es für einen Zufall. Jetzt weiß ich, daß Sie es absichtlich tun. Sooft Sie sprechen oder eine Geschichte erzählen, hören Sie in dem Augenblick auf, wo ich ins Zimmer trete, und stürzen weg, als ob Sie mich haßten. Warum? Warum?« schrie sie mit zitternden Lippen. »Was habe ich Ihnen getan, daß Sie mich so verachten?«, und Tränen sammelten sich in ihren Augen.

Ich fühlte, daß der Augenblick gekommen war. Ich legte meine Hände auf ihre Schultern und sah mit meiner ganzen Seele in ihre Augen. »Ist Ihnen, Kate, nie der Gedanke gekommen, daß es Liebe und nicht Haß sein könnte?« fragte ich.

»Nein, nein«, rief sie, und Tränen rollten ihre Wangen herunter. »So handelt die Liebe nicht.«

»Aber die Furcht vor unerwiderter Liebe. Ich glaubte zuerst, daß Sie mich nicht ausstehen könnten, und Sie waren mir bereits ans Herz gewachsen.« Mein Arm legte sich um ihre Hüften, und ich zog sie an mich heran. »Ja, ich liebe und begehre dich. Küß' mich, mein Lieb!« Ohne Zögern hielt sie mir ihre Lippen hin. Plötzlich sah sie mich mit freudig glänzenden Augen an und seufzte tief und erleichtert auf: »Ich bin so froh, so froh! Wenn Sie nur wüßten, wie verletzt ich war und wie ich mich gequält habe. Ich war zornig und gereizt und tief traurig. Gestern hatte ich mich entschlossen, mit Ihnen zu sprechen, heute nahm ich mir vor, ebenso trotzig und kalt zu sein, und jetzt –« Sie warf plötzlich die Arme um meinen Hals und küßte mich. »Sie sind so lieb, ja, ja, ich liebe dich.«

Meine Hände glitten an ihrer Gestalt entlang, sie wurde flammend rot und stürzte aus dem Zimmer. Ich jubelte. Ich wußte, daß ich gewonnen hatte. Ich mußte sehr ruhig und zurückhaltend sein, und der Vogel würde auf den Leim zurückkehren. Ich war von einer sieghaften Sicherheit erfüllt.

In der Zwischenzeit verbrachte ich fast jeden Morgen mit Smith. Es waren unvergeßliche Stunden. So oft wir zusammen waren, zeigte er mir immer eine neue Schönheit oder offenbarte mir eine neue Wahrheit. Er schien mir das wunderbarste Wesen in dieser sonnenbeschienenen seltsamen Welt. Ich hing wie verzaubert an seinen Lippen. (Wie seltsam! Ich war schon fünfundsechzig Jahre alt, bevor ich einen solchen Heldenverehrer fand, wie ich es Smith gegenüber war, der damals erst vier- oder fünfundzwanzig Jahre zählte.) Ich habe durch ihn alle griechischen Dichter kennengelernt: Aeschylos, Sophokles und Euripides, und seine Erklärungen übertrafen alle Kommentare englischer oder deutscher Gelehrten. Er wußte, daß Sophokles der größte war, und durch ihn lernte ich jeden Chor im Ödipus auf Kolonos, bevor ich noch die griechische Grammatik vollkommen beherrschte. Es war die überwältigende Schönheit der Literatur, die mich zwang, die Sprache zu lernen. Als er mir den Chorgesang nahebrachte, wies er darauf hin, daß es möglich war, das Maß einzuhalten und gleichzeitig den Akzent zu betonen. Durch ihn wurde mir das klassische Griechisch so lebendig wie das Englische. Er ließ mich auch Latein nicht vernachlässigen. Nach dem ersten Jahre kannte ich Catull ebensogut auswendig wie Swinburne. Dank Professor Smith hatte ich keine Schwierigkeiten bei der Aufnahmeprüfung in der Universität. Nach drei- oder viermonatiger Arbeit war ich der erste in meinem Jahrgang, zu dem auch Ned Stevens, der Bruder von Smiths Inamorata, zählte. Ich entdeckte bald, daß Smith Hals über Kopf in Kate Stevens verliebt war, »durchbohrt von einer weißen Dirne blauem Auge«, wie Mercutio sagen würde.

Und kein Wunder, denn Kate war sehr hübsch, etwas über Mittelgröße, eine schmale, zierliche Gestalt mit einem äußerst anziehenden Gesicht, eher oval als rund, mit vollkommen geschnittenen Zügen, von wunderbaren, graublauen Augen erhellt, die in ihrem ewig wechselnden Ausdruck eine wirklich außergewöhnliche Intelligenz widerspiegelten. Sie war im zweiten Jahrgang und bekleidete später jahrelang die Stellung eines Professors des Griechischen auf der Universität. Ich werde in einem späteren Bande meiner Lebensgeschichte mehr von ihr erzählen können, da ich sie fast fünfzig Jahre später in Newyork traf. Aber im Jahre 1872 oder 1873 interessierte mich ihr Bruder Ned, ein hübscher achtzehnjähriger Junge, mehr als sie. Zu jener Zeit war Kate Stevens mit einem sehr netten Kerl, Ned Bancroft, verlobt. Aber es war bereits offensichtlich, daß sie in Smith verliebt war, und meine offene Bewunderung Smiths half ihr und, wie ich hoffe, auch ihm zu einer gegenseitigen Verständigung. Bancroft fügte sich in die Situation mit wunderbarer Selbstüberwindung und verlor weder Smiths noch Kates Freundschaft. Ich habe selten eine edlere Selbstüberwindung gesehen. Sein Verhalten in dieser Krisenzeit hatte zuerst meine Bewunderung hervorgerufen und mich auf seine anderen guten Eigenschaften aufmerksam gemacht.

Schon zu Anfang unserer Bekanntschaft hatte ich einen ernsthaften Grund zur Unruhe. Jeden Augenblick wurde Smith krank und mußte ein oder zwei Tage im Bett bleiben. Ich konnte mir seine Krankheit nicht erklären und ängstigte mich um ihn.

Eines Tages, mitten im Winter, nahmen die Ereignisse eine neue Wendung. Smith wußte keinen Rat und vertraute mir die Sache an. Er hatte Professor Kellogg, in dessen Hause er wohnte, dabei getroffen, als er das hübsche Mädchen, Rose, ganz gegen ihren Willen zu küssen versuchte. Er betonte es ausdrücklich, daß das Mädchen sich zornig in den Armen des Professors wand, als Smith eintrat.

Ich platzte mitten in Smiths feierlichen Ernst mit meinem übermütigen Gelächter hinein. Die Idee eines alten Professors und Geistlichen, der ein junges Mädchen durch bloße Brachialgewalt zu gewinnen versuchte, machte mir einen ungeheuren Spaß. »Welch ein Narr!« lautete mein englisches Urteil; aber Smith schlug einen hohen moralischen Ton an.

»Denken Sie an den Betrug an seiner Frau, und zwar noch unter demselben Dache,« schrie er, »und dann der Skandal, wenn das Mädchen redet, denn sie wird ja reden!«

»Sie wird nicht,« berichtigte ich ihn, »die Mädchen haben Angst vor solchen Enthüllungen. Wenn Sie ihr noch ein Wort sagen, um Frau Kellogg zu schützen, wird sie sicherlich schweigen.«

»Ach, ich kann ihr doch keinen Rat geben, ich will mich da nicht hineinmischen. Ich sagte Kellogg gleich, daß ich das Haus verlassen werde, und ich weiß noch nicht, wohin ich gehen soll. Es ist zu gemein von ihm. Er hat eine so liebe Frau ...«

Zum ersten Male wurde ich mir eines tief eingewurzelten Unterschiedes zwischen Smith und mir selbst bewußt. Seine hohe moralische Verdammung auf solche Belanglosigkeiten hin schien mir kindisch. Aber viele meiner Leser werden zweifellos in meiner Toleranz den Beweis meiner schamlosen Libertinage sehen. Ich ergriff jedoch die Gelegenheit beim Schopfe, mit Rose über ein so verfängliches Thema zu sprechen, und zur selben Zeit löste ich Smiths Schwierigkeit, indem ich ihm vorschlug, zu Gregorys in Pension zu ziehen – ein großer Streich praktischer Diplomatie, wie es mir schien, denn dadurch leistete ich den Gregorys, Smith und mir selbst einen ungeheuren, unschätzbaren Dienst. Smith war über die Idee begeistert, wollte es sofort in Angriff nehmen und klingelte nach Rose.

Sie kam halb ängstlich, halb gereizt herein und war mißtrauisch auf ihrer Hut. Ich sagte daher lächelnd, um sie zu beruhigen: »Professor Smith hat mir von dem Vorfall erzählt. Aber Sie sollen sich nicht darüber ärgern. Sie sind so hübsch, und ich wundere mich nicht, daß ein Mann Sie küssen will. Ihre schönen Augen und ihr hübscher Mund sind schuld.«

Rose lachte auf. Sie erwartete einen Vorwurf und fand eine liebenswürdige Schmeichelei.

»Es gibt nur noch eins, Rose«, fuhr ich fort. »Die Geschichte würde Frau Kellogg weh tun, wenn sie bekannt würde, und sie ist eine schwache Frau. Sie dürfen daher um ihretwillen nichts sagen. Das ist es, was Professor Smith Ihnen einschärfen wollte.« »Ich werde es gewiß nicht erzählen,« rief Rose aus, »ich werde bald alles vergessen haben. Aber es ist wohl besser, wenn ich mich um eine andere Stellung umsehe. Er wird mich vielleicht nicht in Ruh' lassen, obwohl ich ihm eine tüchtige Maulschelle gegeben habe.« Sie lachte vergnügt.

»Das freut mich um Frau Kelloggs willen,« sagte Smith ernst, »und wenn ich Ihnen helfen kann, eine andere Stellung zu bekommen, wenden Sie sich, bitte, an mich.«

»Das wird mir wohl nicht schwer fallen«, sagte Rose schnippisch über die Feierlichkeit des Professors verstimmt. »Frau Kellogg wird mir ein gutes Zeugnis ausstellen.« Der junge, gesunde Schelm grinste. »Übrigens werde ich wahrscheinlich für eine Weile nach Hause gehen. Ich habe genug gearbeitet und brauche eine Erholung. Meine Mutter hat mich auch nötig ...«

»Wo wohnen Sie denn, Rose?« fragte ich sie mit Rücksicht auf künftige Möglichkeiten. – »Auf der anderen Seite des Flusses,« erwiderte sie, »neben Elder Conklin, wo Ihr Bruder in Pension ist –« fügte sie lächelnd hinzu.

Als Rose gegangen war, bat ich Smith, die Koffer zu packen, denn ich wollte ihm das beste Zimmer bei Gregorys besorgen, in dem er auch alle seine Bücher unterbringen könnte. Auf dem Heimwege überlegte ich mir, wie ich den Gefallen, den ich Gregorys erwies, zugunsten meiner Liebe wenden könnte. Ich beschloß, die gute Nachricht zuerst Kate zu überbringen. Als ich auf mein Zimmer kam, klingelte ich, und Kate kam, wie ich hoffte, herauf. Als ich ihre Schritte auf der Treppe hörte, fing ich vor Erregung an zu zittern und war fieberheiß vor Verlangen. Ich hätte sie am liebsten brutal in meine Arme gerissen und sie mit Gewalt genommen. Aber schon damals war ich mir darüber klar, daß die Mädchen eine höfliche und zarte Annäherung vorziehen. Warum, weiß ich nicht, aber der Tatsache selbst bin ich mir ganz sicher. So beherrschte ich mich und sagte ernst: »Ich wollte nur fragen, ob das beste Zimmer im Hause noch frei ist, dann würde ich Professor Smith bitten, hierher zu ziehen.«

»Oh, Mutter wird so froh sein«, rief sie aus.

»Siehst du,« fuhr ich fort, »ich versuche alles für dich zu tun, und du gibst mir nicht einmal einen Kuß.« – »Du bist doch ein Bub,« rief sie aus, »aber vielleicht liebe ich dich grad darum. Ich hoffe, du liebst mich nur halb so, wie ich dich liebe. Sag' ja, und ich will alles tun, was du willst!«

»O wie froh bin ich, daß dir an meiner Liebe liegt«, erwiderte ich. Kannst du heute nacht zu mir kommen? Ich möchte mit dir einige Stunden ungestört sein.« – »Heute nachmittag«, erwiderte sie. »Ich werde sagen, daß ich spazieren gehe, und komme zu dir. Alle ruhen sich dann aus, und man wird mich nicht vermissen.«

Das Mittagessen zog sich unerträglich in die Länge. Frau Gregory dankte mir für meine Güte (wie angenehm ironisch klang es in meinen Ohren!), aber schließlich wurde man fertig, und ich ging auf mein Zimmer. Ich zog die Jalousien herab, verschloß die Tür, die in den Garten führte, und wartete. Sehr bald steckte Kate ihr süßes Gesichtchen zur Tür herein. Ich nahm sie in die Arme. Die Frauen sind doch seltsame Geschöpfe – sie hatte ihr Mieder abgenommen ... Ich hob sie aufs Bett ... Sie war wie eine griechische Statue, mit elfenbeinweißen, glatten Gliedern ... Sie schrie auf vor Schmerz – dann spannte sie mir entschlossen ihren köstlichen Körper entgegen ...

... »Wie ich dich liebe – ich habe nicht einmal Angst vor Konsequenzen. Ich vertraue dir so vollkommen – ich bin bereit, mich jeder Gefahr auszusetzen, wenn du es willst –« Ich küßte sie, versicherte ihr, es würde keine Konsequenzen geben, und pries die Schönheit ihres Körpers.

In diesem Augenblicke klopfte es an die Tür. »Herein!« rief ich, und das Mädchen erschien mit einem Briefe in der Hand. »Eine Dame hat ihn gerade abgegeben«, sagte sie. Ich erkannte Frau Mayhews Handschrift, steckte ihn ungelesen in die Tasche und sagte bedauernd: »Ich muß ihn bald beantworten.« Kate entschuldigte sich, und nach einem langen, langen Kuß ging sie weg, um das Abendbrot vorzubereiten. In der Zwischenzeit las ich Frau Mayhews Brief, der kurz, wenn auch nicht sehr liebenswürdig war.

 

»Acht Tage – und Frank läßt nichts von sich hören. Du willst mich doch nicht umbringen! Komm, wenn möglich, heute!

Lorna«

 

Ich erwiderte umgehend, teilte ihr mit, daß ich morgen kommen würde, denn ich sei mit dem Umzug von Smith beschäftigt, wüßte nicht, wo mir der Kopf stünde, würde aber morgen sicher bei ihr sein.

An diesem Nachmittag gegen 5 Uhr kam Smith an. Ich half ihm, seine Bücher zu arrangieren und sich häuslich niederzulassen.

Die nächsten Tage vergingen mir in fieberhafter Arbeit. Sooft ich auf Stellen traf wie die Erbauung der Brücke bei Caesar, weigerte ich mich, mein Gedächtnis mit neuen Worten zu belasten, weil ich dachte und heute noch der Ansicht bin, daß Latein verhältnismäßig unwichtig ist. Die lateinische Kultur vermochte keine größere Persönlichkeit hervorzubringen als Tacitus oder Lucrez.

Kein vernünftiger Mensch will sich die Mühe geben, eine Sprache zu beherrschen, um zweitklassige Geister kennenzulernen. Aber neue Worte im Griechischen waren für mich so wichtig wie neue Worte im Englischen, und ich lernte alle Stellen auswendig, die mit solchen Worten gespickt waren, mit Ausnahme der Chöre in den »Vögeln« von Aristophanes, wo er Vögel erwähnt, die mir selbst im Leben unbekannt waren. Smith kannte alle solche Worte in beiden Sprachen. Er gab mir eines Tages zu, daß er die ganze antike griechische Literatur gelesen hätte nach dem Beispiel von Hermann, dem berühmten deutschen Gelehrten, und er glaubte fast jedes Wort zu kennen.

Ich hatte nicht den geringsten Wunsch nach einer so pedantischen Vollkommenheit. Ich wollte mich nicht spezialisieren, und das Wissen jeder Art ist mir gleichgültig, wenn es nicht zu einem vollkommeneren Verständnis der Schönheit oder der Erweiterung des Geistes durch Einfühlung führt, die ein anderer Name für Weisheit ist. Ich will hier nur erwähnen, daß ich in diesem Jahre durch Smith ein Dutzend griechischer Chorgesänge auswendig gelernt hatte, wie auch die gesamte Apologia und den Kriton von Plato, da ich schon damals ahnte, daß der Kriton das Musterbeispiel einer Novelle ist und viel bedeutender sogar als die platonische Philosophie. Plato und Sophokles! Es lohnte wirklich, fünf Jahre harter Arbeit darauf zu verwenden, ihnen näherzukommen und den seelischen Gleichklang herauszufühlen. Sophokles gab mir ja Antigone, den Prototyp der neuen Frau für alle Zeiten. In ihrer geheiligten Empörung gegen hemmende Gesetze und verkrüppelnde Konventionen das ewige Urbild der unerschrockenen Selbstbehauptung der Liebe, die jenseits und über allem Sexuellen steht, im Herzen selbst des Göttlichen!

Und der Sokrates des Plato führte mich in diese Höhen, auf denen der Mensch zum Gott wird, da er Ehrfurcht vor den Gesetzen gelernt hat und froh den Tod auf sich nimmt. Aber auch hier brauchte ich Antigone, die Zwillingsschwester des Bazaroff, da ich es intuitiv erkannte, daß auch mein Lebenswerk in einer Revolte bestehen würde und daß die Strafe, die Sokrates erlitt und Antigone auf sich zu nehmen wagte, mein Schicksal werden würde. Denn es war mir bestimmt, den schlimmsten Widersachern zu begegnen. Kreon war eigentlich nur dumm, während Sir Thomas Horridge außerdem bösartig war und Woodrow Wilson sich kaum beschreiben läßt.

Ich greife wieder meiner Geschichte um ein halbes Jahrhundert voraus.

Aus dem, was ich über Sophokles und Plato geschrieben habe, wird der Leser, hoffe ich, meine tiefe Bewunderung und Liebe für Smith herausfühlen, der mich, wie Vergil Dante, in diese ideale Welt führte, die unsere Erde mit grenzenlosen Weiten violetten, windgefegten und sternenbesäten Himmels umgibt.

Wenn ich erzählen könnte, was mir das Zusammensein mit Smith bedeutete, brauchte ich kaum dieses Buch zu schreiben. Denn von allem, was ich geschrieben habe, gehört das Beste ebensosehr ihm wie mir. In seiner Gegenwart in den ersten anderthalb Jahren war ich bloß wie ein Schwamm, der einmal diese, einmal jene Wahrheit in sich aufnahm und sich kaum eines originellen Impulses bewußt war. Und dabei riet ich ihm und half ihm die ganze Zeit hindurch aus meiner Kenntnis des Lebens heraus. Unsere Beziehung war wie die eines kleinen, praktischen Gatten neben einer weisen und unendlich gebildeten Aspasia. Ich möchte hier feststellen, selbst wenn es aller Wahrscheinlichkeit ins Gesicht schlägt, daß in diesen ganzen drei Jahren, die wir Seite an Seite gelebt hatten, ich nicht einen Fehler, nicht einen Mangel an ihm fand.

Ich versuche hier jedoch die Ereignisse in ihrer Reihenfolge zu erzählen und kehre zu Frau Mayhew zurück. Ich ging selbstverständlich am nächsten Nachmittage zu ihr, sogar vor drei Uhr. Sie kam mir so ernst entgegen, daß ich sie nicht einmal küßte. Ich begann ihr zu erklären, was mir Smith bedeutete und daß ich nicht genug für ihn tun könnte, der mir geistig alles war ebenso wie sie (Gott helfe mir!) körperlich und seelisch, aber als ich ihre kalten Lippen küßte, schüttelte sie traurig den Kopf.

»Wir Frauen haben einen sechsten Sinn, wenn wir verliebt sind. Ich fühle einen neuen Einfluß in dir. Ich rieche die Gefahr in der Luft, die dich umgibt. Verlang' nicht, daß ich es dir erkläre, ich kann es nicht; aber mein Herz ist schwer und kalt wie der Tod ... Wenn du mich verläßt, gibt es eine Katastrophe. Der Sturz von einer solchen Höhe des Glücks muß verhängnisvoll werden. Wenn du ein Vergnügen empfinden kannst in den Tagen, in denen du mich nicht siehst, liebst du mich nicht mehr. Für mich gibt es nichts anderes, als dich zu haben, dich zu sehen, an dich zu denken – nichts – nichts! Warum kannst du nicht so lieben, wie eine Frau liebt, nein, wie ich dich liebe. Es wäre himmlisch! Denn du und nur du kannst die Unersättliche befriedigen. Nur du gibst mir die Seligkeit, und ich fühle mich wie in allen Himmeln.«

»Ich habe dir viel zu erzählen«, begann ich hastig. »Komm nach oben«, unterbrach ich mich selbst. »Ich will dich so haben, wie du jetzt bist, mit der Farbe in den Wangen, dem Leuchten in den Augen, dem Zittern in deiner Stimme. Komm!«

Und sie kam wie eine traurige Sibylle. »Was hast du mir denn Neues zu sagen?« fragte ich sie. – »Es gibt immer etwas Neues in meiner Liebe!« rief sie aus. Die Schale ihrer schmalen Hände schloß sich um meine Wangen, und sie faßte mit ihren Lippen nach meinem Munde. »Oh, wie habe ich gestern nach dir verlangt. Als ich selbst den Brief in dein Haus brachte und dich in deinem Zimmer sprechen hörte, vielleicht mit Smith,« fügte sie hinzu, und ihr Blick senkte sich prüfend in meine Augen, »ich will glauben, daß es Smith war. – Als ich deine Stimme hörte, brannte alles in mir. Ich wollte schon die Tür aufreißen, statt dessen drehte ich mich um und stürzte weg, wütend auf dich und auf mich selbst.« – »Ich will dich so etwas nicht ausreden lassen«, rief ich aus und riß sie in die Arme.

»Wir Frauen haben keine Seele, wir leben durch Liebe«, sagte sie leise, und ihre Augen starben, als sie sprach. »Ich zerquäle mich, um mir eine neue Freude für dich auszudenken. Und du wirst mich verlassen, ich fühle, du wirst es tun, für irgendein albernes Mädchen, das nicht einen Hauch davon fühlen kann, was ich fühle, oder dir geben kann, was ich dir gebe ...« Ihr Atem ging in schnellen Stößen.

»Warum sprichst du von einem anderen Mädchen?« schimpfte ich mit ihr. »Ich stelle mir doch nicht vor, daß du mit einem anderen Mann zusammen bist. Warum solltest du dich so grundlos quälen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Meine Furcht ist prophetisch«, seufzte sie. »Ich will gern glauben, daß es noch nicht geschehen ist, obwohl – ach Gott, die Qual dieses Gedankens – die bloße Vorstellung, daß du mit einer andern bist, macht mich wahnsinnig. Ich könnte sie töten.« Und sie klammerte sich leidenschaftlich an mich.

Ihr Atem ging würgend schnell, sie lachte kreischend auf und brach zusammen in einem Sturm von Seufzern, Schluchzen und einer Flut von Tränen.

Wie gewöhnlich kühlte ihre Intensität mich ab, ihr Paroxismus riß mich nicht mit. Plötzlich hörte ich Schritte, die sich von der Tür entfernten, leichte, sich hinwegstehlende Schritte. Wer konnte es sein? Das Mädchen oder ...?

Lorna hatte sie auch gehört; obwohl sie nach Atem ringend und konvulsiv schluckend dalag, lauschte sie mit geweiteten Augen. Ich stand auf und ging an das geöffnete Fenster, um einen Atemzug Luft einzuholen, und plötzlich sah ich Lily schnell über den Rasen rennen und im Nachbarhause verschwinden. Sie hatte also an der Tür gehorcht.

Während sich Lorna anzog, und sie zog sich sehr schnell an, und nach unten ging, um sich zu überzeugen, ob das Hausmädchen nicht spioniert hatte, wartete ich im Salon. Ich mußte Lorna vorbereiten, daß meine »Studien« mir nicht mehr als einen Tag in der Woche freiließen.

Sie wurde blaß, als ich es ihr erklärte. »Ich wußte es ja!«

»Aber Lorna,« bat ich sie, »du hast doch einmal gesagt, du wärest zu jedem Opfer für mich bereit!«

»Nein, nein, tausendmal nein«, rief sie aus. »Ich sagte, wenn du immer mit mir wärest, könnte ich ohne Leidenschaft aushalten, aber dieser Hungerbrocken einmal die Woche! Geh, geh, sonst sage ich etwas, was mir später leid tut! Geh!« und sie schob mich zur Tür hinaus. Im Hinblick auf unsere künftigen Beziehungen ließ ich sie gewähren.

In Wirklichkeit war ich froh, wegzukommen, denn das Neue ist die Seele der Leidenschaft. Auf meinem Heimwege mußte ich öfters an die schlanke, dunkle Gestalt Lilys denken als an die Frau, deren Körper mir in jeder Rundung und Bewegung vertraut war.

Dieses Liebeserlebnis mit Frau Mayhew und Kate neben meiner Arbeit und meinen Gesprächen mit Smith bildete den Inhalt dieses ganzen Jahres zwischen siebzehn und achtzehn mit dem einen Unterschied, daß meine Nachmittage bei Lorna mir immer weniger angenehm wurden. Ich muß jedoch von Vorfällen erzählen, die eine neue Wendung in mein Leben brachten.

Ich war bereits vier Monate bei Gregorys, als mir Kate eines Tages sagte, daß mein Bruder Willie seit länger als vierzehn Tagen meine Pension nicht bezahlt hatte. Sie fügte süß hinzu: »Es hat ja nichts zu bedeuten, mein Lieber, aber ich wollte es dich wissen lassen. Es wäre mir furchtbar, wenn dich ein anderer verletzen würde, und so wollte ich's dir lieber selbst sagen.« Ich küßte sie, sagte ihr, wie lieb es von ihr war, und ging, Willie aufzusuchen. Seine Ausflüchte waren sehr ausführlich, aber wenig überzeugend, er gab mir schließlich den Scheck und bat mich gleichzeitig, Frau Gregory zu sagen, daß er auch zu ihr in Pension kommen wollte.

Dieser Vorfall machte mich sehr nachdenklich. Ich nahm Kate das Versprechen ab, es mir sofort mitzuteilen, wenn die Zahlungen ausblieben, und ich benutzte den Vorfall, um mich vor Lorna zu entschuldigen. Ich ging zu ihr hin und erzählte ihr, ich müßte sofort daran denken, mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich besaß noch vielleicht fünfhundert Dollar, aber ich wollte vorbauen. Außerdem hatte ich eine gute Entschuldigung, meine Wochenbesuche einzustellen. »Ich muß arbeiten«, wiederholte ich immer wieder, obwohl ich mich der Lüge schämte.

»O wie das weh tut! Meine Hilflosigkeit ist schmerzhaft genug, schlag mich nicht noch mehr. Gib mir Zeit, darüber nachzudenken. Meinem Mann geht es ganz gut. Gib mir einen oder zwei Tage, aber komm zu mir, sooft du kannst. Du siehst, ich habe keinen Stolz, wo es sich um dich handelt. Ich bitte dich wie ein Hund um eine freundliche Behandlung um meiner Liebe willen. Ich hätte nicht gedacht, daß ich mich so verändern könnte. Ich war immer so stolz. Mein Mann nennt mich stolz und kalt, – mich nennt er kalt! Es stimmt, daß ich zusammenschauere, wenn ich deine Stimme höre, aber es sind Fieberschauer. Ich wollte, ich wäre kalt. Eine kalte Frau kann die Welt beherrschen – aber nein, ich möchte nicht tauschen, so wie ich mir nie wünschte ein Mann zu sein, nie; obwohl die andern Mädchen davon sprechen, wie glücklich sie sein würden, wenn sie als Mann auf die Welt gekommen wären. Ich nie! Und seitdem ich verheiratet bin, weniger denn je. Was ist denn ein Mann? Seine Liebe hört auf, bevor unsere beginnt –« – »Wirklich?« fragte ich sie etwas höhnisch. »Nicht bei dir, mein Geliebter, nein!« rief sie aus, »aber du bist eine Ausnahme. Wenn ich dich jetzt noch seltener sehen soll, dann komme erst in zehn Tagen mehrmals hintereinander. Ich will die ganze glühende Seligkeit in eine Woche zusammenpressen, und dann können vierzehn tote Tage kommen. Wie erbärmlich wir Frauen sind. Aber ich will dir helfen«, rief sie plötzlich aus. »Ich werde dir helfen, hab' keine Angst ...«

An demselben Abend bekam ich einen Brief von Lorna, die schrieb, daß ihr Mann mich sehen wollte.

Ich traf den kleinen Mann im Salon, und er schlug mir vor, jeden Abend nach dem Essen in seinen Spielsaal zu kommen und mich mit einem Buch an die Tür zu setzen, jedoch mit einem Revolver in der Tasche, damit ihn keiner beraubte und mit der Beute davonliefe.

»Ich würde mich sicherer fühlen,« schloß er, »und meine Frau sagt mir, Sie seien ein sicherer Schütze und an ein wildes Leben gewöhnt. Was sagen Sie zu meinem Vorschlage? Ich zahle Ihnen sechzig Dollar monatlich, und Sie werden meistens schon vor Mitternacht frei sein.«

»Es ist sehr freundlich von Ihnen,« rief ich mit glühendem Gesicht aus, »und auch von Frau Mayhew. Ich tue es sehr gern. Sie können sich auf mich verlassen, Sie werden von keinem belästigt werden, und keiner kommt heil mit der Beute weg.« Und so wurde die Angelegenheit geregelt.

Wie wunderbar doch Frauen sind, in einem halben Tage hatte sie eine Lösung für meine Schwierigkeiten gefunden. Es ergab sich, daß die Stunden, die ich in Mayhews Spielsaal verbrachte, für mich wertvoller waren, als ich es mir hätte träumen lassen. Der Durchschnittsmensch enthüllt sich im Spiel mehr als in der Liebe und in der Trunkenheit, und ich sah zu meiner Verwunderung, daß viele der sogenannten gutsituierten Bürger von Zeit zu Zeit bei Mayhew auftauchten. Ich glaube nicht, daß sie auf ihre Kosten kamen, denn er gewann zu beharrlich. Aber es ging mich ja nichts an, solange die Kunden sich mit den Resultaten zufrieden gaben. Und er ließ sich manchmal zu einer gütigen Geste herbei, indem er jemandem, den er bis auf die Haut ausgeplündert hatte, einige Dollar zurückgab.

Die Tatsache, daß ich mit ihrem Gatten arbeitete, brachte mich natürlich öfters mit Frau Mayhew zusammen. Mindestens zweimal in der Woche mußte ich den Nachmittag bei ihr verbringen, und dieser Zwang ärgerte mich. Kate hatte ebenfalls viel gegen meine Besuche einzuwenden. Sie war viel zu stolz, um darüber offen zu sprechen, aber eines Tages sah sie, wie ich in Frau Mayhews Haus hereinging, und erriet das übrige. Sie war zuerst mir gegenüber kalt und entwand sich meiner Umarmung. »Es hat mich abgekühlt,« sagte sie, »ich glaube nicht, daß ich dich je wieder lieben kann.« Aber als ich sie wieder in meinen Armen hielt, küßte sie mich plötzlich mit leidenschaftlicher Heftigkeit, und ihre schönen Augen waren schwer von Tränen. »Warum weinst du, Liebes?« fragte ich sie. – »Weil ich dich nicht so mein machen kann, wie ich dein bin.« Sie klammerte sich fest an mich. »Und doch denke ich, daß die Freude durch die grauenhafte Angst gesteigert ist – und den Haß – Lieb' mich und nur mich, mein einziger Geliebter!« Selbstverständlich versprach ich ihr die Treue. Aber zu meinem Erstaunen fühlte ich, daß auch das Verlangen nach Kate sich abzukühlen begann.

Die Arbeit bei Mayhew fand ein plötzliches und frühzeitiges Ende. Mayhew hatte von Zeit zu Zeit einen Zusammenstoß mit einem anderen Spielunternehmer, und eines Tages, nachdem ich drei Monate bei ihm gewesen war, brach ein Spieler aus Denver einen Streit mit ihm vom Zaun und schlug ihm später vor, sich mit ihm zu vereinigen und nach Denver zu übersiedeln. »Man kann dort in einer Woche mehr Geld machen, als in Lawrence in einem Monate«, erklärte er. Er hatte Mayhew schließlich überzeugt, der klug genug war, seiner Frau nichts davon zu sagen, bis die ganze Angelegenheit abgeschlossen war. Sie tobte zuerst, konnte jedoch nichts anderes tun als sich fügen, und so mußten wir scheiden. Mayhew gab mir hundert Dollar als Entschädigung und Lorna einen unvergeßlichen, verblüffenden Nachmittag, den ich versuchen werde zu beschreiben.

Ich ließ mich am Tage nach der Auszahlung bei Mayhew nicht sehen, da ich bei Lorna den Eindruck erwecken wollte, als ob für mich die ganze Angelegenheit beendet sei. Aber am nächsten Tage bekam ich von ihr einen Brief, in dem nur eine herrische Zeile stand: »Komm sofort, ich muß dich sehen!«

Mir blieb nichts anderes übrig, als hinzugehen. Sobald ich ins Zimmer hereinkam, stand sie vom Sofa auf und kam mir entgegen. »Wenn ich dir in Denver Arbeit verschaffe, wirst du hinkommen?«

»Wie kann ich denn?« fragte ich in wirklicher Verblüffung. »Du weißt ja, daß ich an die Universität gebunden bin. Und dann will ich noch in ein Rechtsanwaltbureau gehen, außerdem könnte ich Smith nicht verlassen. Mir ist noch nie ein solcher Lehrer begegnet. Ich glaube nicht, daß ich irgendwo einen ähnlichen Menschen finden kann.«

Sie nickte: »Ja, ja,« seufzte sie, »es wird wohl unmöglich sein. Aber ich muß dich sehen,« rief sie aus; »wenn ich nicht die Hoffnung – was sage ich denn –, wenn ich nicht die Sicherheit hätte, dich zu sehen, würde ich nicht hingehen. Ich würde mich eher umbringen. Ich würde lieber dein Dienstmädchen sein, um in deiner Nähe zu sein, mein Lieb. Es ist mir ganz gleichgültig, was mit mir geschieht, solange wir zusammen sind. Ich bin fast wahnsinnig vor Furcht, daß ich dich verlieren könnte!«

»Es ist alles eine Geldfrage«, erwiderte ich ruhig, denn der Gedanke, daß sie zurückbleiben könnte, jagte mir bleiche Furcht ein. »Wenn ich genug Geld verdienen kann, werde ich in den Ferien nach Denver kommen. Es muß dort im Sommer wunderbar sein. Es wäre herrlich!«

»Und wenn ich dir Geld schicke, kommst du dann?« fragte sie kurz.

Ich zog ein Gesicht. »Ich kann kein Geld von – einer Geliebten nehmen!« (Ich sagte »Geliebten«, weil diese Zusammenstellung mit dem Worte Frau mir zu häßlich erschien.) »Aber Smith hat versprochen, mir Arbeit zu verschaffen, und ich habe noch etwas Geld übrig. Ich komme in den Ferientagen.«

»Es werden Feiertage sein«, sagte sie feierlich, und dann mit einem schnellen Stimmungsumschwung: »Ich werde einen herrlichen Raum für unsere Liebe in Denver vorbereiten. Aber du mußt Weihnachten kommen, ich könnte nicht bis zu den Sommerferien warten – o wie ich mich nach dir sehnen werde ...«

Sie war wie wahnsinnig vor Begierde, ich trug sie nach oben, sie lag schluchzend in meinen Armen. Plötzlich sagte sie: »Er hat versprochen, heute früher als gewöhnlich heimzukehren, und ich sagte ihm, ich hätte eine Überraschung für ihn. Wenn er uns so zusammenfindet, wird es doch eine Überraschung für ihn sein!«

»Du bist ja verrückt!« schrie ich und sprang im Nu aus dem Bett. »Ich werde dich in Denver nicht besuchen können, wenn es hier zu einem Krach kommt.«

»Du hast recht,« sagte sie wie im Traum, »du hast recht. Es ist schade! Ich hätte so gern die Überraschung auf seinem albernen Gesicht gesehen. Aber es stimmt schon – also auf!« Sie war im Augenblick aus dem Zimmer verschwunden. »Geh nach unten und warte auf mich,« rief sie noch, »wenn er klopft, öffne ihm die Tür. Das wird eine Überraschung sein, wenn auch keine so große, wie ich sie zuerst geplant hatte.« Sie lachte schrill.

Ich ging nach unten, nach ein paar Minuten folgte sie mir. »Ich kann dich nicht gehen lassen. Wie doch die Trennung schmerzt«, flüsterte sie. »Warum sollten wir uns denn trennen, mein Lieb,« und sie sah mich mit brechenden Blicken an, »das einzig Lebenswerte im Leben ist die Liebe. Laß uns die Liebe unsterblich machen – du und ich –, laß uns gemeinsam in den Tod gehen. Was werden wir denn verlieren. Diese Welt ist eine leere Schale. Komm mit, mein Lieb, gehen wir gemeinsam in den Tod.«

»Oh, ich will noch so viel vom Leben. Das Reich des Todes ist ewig. Das kurze Abenteuer des Lebens, sein Wechsel, seine gewaltigen Möglichkeiten locken und rufen mich – ich kann es nicht wegwerfen.«

»Der Wechsel,« rief sie mit geweiteten Nasenflügeln, und ihre Augen funkelten, »der Wechsel!«

»Du willst mich durchaus mißverstehen!« rief ich aus. »Ist denn nicht jeder Tag ein Wechsel?«

»Ich bin mürbe und geschlagen. Ich kann dich nur bitten, dein Versprechen nicht zu vergessen.« Sie packte mich und küßte mich auf den Mund. »Ich werde mit deinem Namen auf den Lippen sterben«, sagte sie und vergrub ihr Gesicht in ein Sofakissen. Ich ging weg. Was sollte ich denn sonst tun?

Ich begleitete sie auf den Bahnhof. Lorna nahm mir das Versprechen ab, ihr zu schreiben, und schwur, sie würde mir täglich einen Brief schicken. Und vierzehn Tage lang kam wirklich täglich eine Zeile von ihr. Dann dehnten sich die Pausen immer mehr aus. »Die Gesellschaft in Denver ist sehr angenehm. Und ein Herr Wilson, ein Student, ist sehr liebenswürdig. Er besucht uns jeden Tag«, schrieb sie. Dann kamen Entschuldigungen, abgerissene hastige Zeilen, nach zwei Monaten waren ihre Briefe kalt und formell, nach drei Monaten hörten sie vollkommen auf.

Ich war nicht erstaunt. Ich hatte es ihr beigebracht, daß für eine Frau ihrer Art die Jugend das erste Requisit bei einem Liebhaber ist. Sie hatte zweifellos meine Ideen in Praxis umgesetzt. Herr Wilson war dem Ideal ebenso nahe wie ich und außerdem viel erreichbarer.

Die Leidenschaft der Sinne verlangt Nähe und Befriedigung, und nichts ist vergeßlicher als die Freuden des Fleisches. Wenn Frau Mayhew mir wenig gegeben hat, so gab ich ihr noch weniger von meinem besseren Ich.


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