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Kapitel VI.
Das Leben in Chicago

Das Fremont-Haus, Kendricks Hotel, lag in der Nähe des Michigan Street Bahnhofes. In diesen Tagen, als Chicago kaum dreihunderttausend Einwohner hatte, war es ein zweitklassiges Hotel. Kendrick sagte mir, daß sein Onkel, ein Herr Cotton, der wirkliche Besitzer des Hauses sei, ihm jedoch den Hauptanteil an der Verwaltung überlasse. Herr Cotton war ein wirklich gütiger Mensch und ein fähiger Geschäftsmann. Meine Pflichten beim Nachtdienst im Bureau waren sehr einfach. Von acht Uhr nachts bis sechs Uhr morgens herrschte ich über das Bureau und hatte Schlafzimmer für die ankommenden Gäste anzuweisen, Rechnungen zu schreiben und das Geld von den Abfahrenden einzukassieren. Ich lernte bald die guten und schlechten Seiten der verschiedenen Schlafzimmer im Hause und die Ankunfts- und Abfahrtszeiten aller Nachtzüge auswendig. Wenn die Gäste hereinkamen, ging ich ihnen entgegen, erkundigte mich nach ihren Wünschen und schickte einen Hausdiener mit ihren Sachen in ihr Zimmer hinauf. Wie gereizt und kurz angebunden sie auch sein mochten, versuchte ich, sie zu beruhigen, und es gelang mir fast immer. Schon nach einer Woche sagte mir Kendrick, daß er ausgezeichnete Ansichten über mich von vielen Besuchern gehört habe. »Sie haben da einen ausgezeichneten Angestellten,« sagte man, »er gibt sich alle Mühe. Er hat so angenehme Manieren. Er weiß alles. Das war ein guter Griff.«

Aus meiner Erfahrung in Chicago habe ich gelernt, daß, wenn man sich wirklich bemüht, sein Bestes zu tun, man in verhältnismäßig kurzer Zeit einen Erfolg buchen kann. So wenige leisten wirklich ihr Bestes. Ich legte mich um sechs Uhr schlafen, stand um ein Uhr zum Mittagessen auf und ging dann meistens ins Billardzimmer, wo sich im Hintergrunde eine große Bar befand. Gegen fünf Uhr war das Billardzimmer überfüllt, und da es keinen gab, um die Dinge dort zu überwachen, sprach ich mit Herrn Kendrick darüber und nahm die Arbeit auf mich. Ich hatte nichts weiter zu tun, als die Neuankommenden zu vertrösten und die alten Kunden zu beruhigen, die glaubten, daß die Tische auf sie warten würden. Das Ergebnis meiner Höflichkeit und des beruhigenden Lächelns war so betont, daß gegen Ende des ersten Monats der Buchhalter, namens Curtis, mir grinsend sagte, daß ich sechzig Dollar statt der versprochenen vierzig monatlich bekommen sollte. Ich brauche nicht hinzuzufügen, daß die Extrabezahlung nur mein Verlangen, mich nützlich zu machen, aufstachelte. Aber jetzt fand ich, daß der Weg mir von zwei Vorgesetzten versperrt war, dem Buchhalter und dem Wirtschaftsführer, einem eingetrockneten, schweigsamen Manne aus dem Westen namens Payne. Payne kaufte alles ein und regierte über das Restaurant und die Kellner, während Curtis das Bureau und die Hoteldiener beherrschte. Ich war eigentlich Curtis unterstellt. Aber meine Aufsicht über das Billardzimmer gab mir eine Art von unabhängiger Stellung.

Ich hatte mich bald mit Curtis angefreundet, aß mit ihm zu Mittag, und als er feststellte, daß meine Handschrift sehr gut war, ließ er mich das Gästebuch führen, und in zwei Monaten hatte er mir die Buchhaltung beigebracht und übergab mir einen großen Teil der Bücher. Er war nicht faul, aber die meisten Männer von vierzig Jahren sehen gern einen fähigen Assistenten in ihrer Nähe. Um Weihnachten in diesem Jahre führte ich alle Bücher mit Ausnahme des Hauptbuches und glaubte die ganze Geschäftsführung zu kennen.

Das Restaurant schien mir sehr schlecht geleitet zu sein. Aber wie das Glück es wollte, bekam ich zuerst das Bureau in meine Hände. Sobald Curtis herausgefunden hatte, daß er mir ruhig seine Arbeit überlassen konnte, begann er oft außerhalb zu essen, und blieb den ganzen Tag fern. Um Neujahr herum war er fünf Tage fort, und als er zurückkam, gestand er mir, daß er einen Seitensprung hinter sich hätte. Er lebte nicht glücklich mit seiner Frau, wie es schien, und versuchte seinen Kummer im Alkohol zu ertränken. Im Februar war er zehn Tage weg gewesen, aber da er mir den Schlüssel seines Safes gegeben hatte, hielt ich alles im Gange. Eines Tages fand mich Kendrick im Bureau und wollte wissen, wo Curtis sei. »Wie lange ist er denn schon weg?« fragte er. »Einen oder zwei Tage«, erwiderte ich. Kendrick sah mich an und ließ sich das Hauptbuch geben. »Es ist ja alles eingetragen,« rief er aus, »haben Sie das gemacht?« Ich mußte es bejahen, schickte jedoch sofort einen Hoteldiener, um Curtis zu holen. Er fand ihn nicht zu Hause, und am nächsten Tage wurde ich zu Herrn Cotton gerufen. Ich konnte nicht leugnen, daß ich die Bücher führte, und Cotton sah bald, daß ich Curtis aus reiner Kameradschaft decken wollte. Als Curtis am nächsten Tage hereinkam, stellte er sich selber bloß. Er war noch halb betrunken und wurde obendrein frech. Er sei krank gewesen, meinte er, aber seine Arbeit sei doch in Ordnung. Daraufhin wurde er von Herrn Cotton auf der Stelle hinausgeworfen, und am selben Abend fragte mich Kendrick, ob ich alles weiterführen wollte, bis sich sein Onkel überzeugen ließ, daß man mir vertrauen könnte und daß ich eigentlich älter sei als ich aussehe.

Nach einigen Tagen kamen Cotton und Kendrick auf mich zu. »Können Sie denn die Bücher führen, Nachtdienst machen und sich außerdem um das Billardzimmer kümmern?« fragte mich Cotton scharf. »Ich glaube ja,« erwiderte ich, »ich werde mein Bestes tun.« – »Hm,« machte er, »was wollen Sie denn dafür haben?« »Ich überlasse es Ihnen, mein Herr,« erwiderte ich, »ich werde mit allem zufrieden sein, was Sie mir geben.« – »Zum Teufel noch mal,« sagte er grimmig, »und wenn ich Ihr Gehalt nicht steigern würde, was dann?« – »Wäre mir auch recht«, lächelte ich. »Warum lächeln Sie?« fragte er. – »Weil der Lohn wie Wasser ist, das versucht, sein Niveau zu finden.« – »Was, zum Teufel, verstehen Sie darunter?« – »Das Niveau«, fuhr ich fort, »ist sicherlich der Marktpreis. Früher oder später wird es sich dahin emporheben, und ich kann ja warten.« Seine scharfen, grünen Augen bohrten sich plötzlich in mich. »Ich fange an, wirklich zu glauben, daß Sie älter sind als Sie aussehen, wie mir mein Neffe sagt. Tragen Sie sich vorläufig mit hundert im Monat ein, und etwas später werden wir vielleicht das Niveau finden«, und er lächelte. Ich dankte ihm und ging an meine Arbeit.

Die Ereignisse überstürzten sich von nun an in meinem Leben. Einen oder zwei Tage später kam der schweigsame Wirtschaftsführer Payne auf mich zu und fragte mich, ob ich mit ihm zum Essen ausgehen würde. Ich hatte in den ganzen fünf oder sechs Monaten keinen Ausgang gehabt, und so nahm ich gern an. Er gab mir ein herrliches Essen in einem berühmten französischen Restaurant und bot mir Sekt an. Aber ich hatte mich entschlossen, vor meinem zwanzigsten Lebensjahr keinen Alkohol zu berühren, und so erzählte ich ihm einfach von meinem Schwur. Er klopfte eine Weile auf den Busch, schließlich sagte er, da ich nun an Stelle von Curtis Buchhalter sei, hoffte er, mit mir ebenso gut wie mit Curtis auszukommen. Ich fragte ihn, was er darunter verstünde, aber er wollte nicht recht mit der Sprache heraus, was mich mißtrauisch machte. Einige Tage später sprach ich mit einem Schlächter in einem andern Stadtviertel und fragte ihn, was er für siebzig Pfund Rindfleisch und fünfzig Pfund Hammelfleisch täglich rechnen würde. Der Preis, den er mir nannte, war um so vieles niedriger als der, den Payne zahlte, daß ich meinen Verdacht bestätigt sah. Ich war furchtbar aufgeregt. Ich lud nun meinerseits Payne zum Essen ein und schnitt das Thema an. Er sagte sofort: »Selbstverständlich schindet man da etwas heraus, und wenn Sie es mit mir halten, werde ich Ihnen ein Drittel geben, wie es Curtis bekam. Dieser Aufschlag tut niemandem weh; denn ich kaufe unter Marktpreis ein, nicht?« Selbstverständlich spitzte ich die Ohren, als er zugab, daß der Aufschlag auf alles, was er einkaufte, ungefähr zwanzig Prozent der Kosten betrug. Dadurch steigerte er seinen Lohn von zweihundert Dollar im Monat auf ungefähr zweihundert Dollar in der Woche.

Sobald mir alle Tatsachen klar waren, lud ich den Neffen zum Essen ein und entwickelte ihm die ganze Situation. Ich war ganz von der Sorge für das Geschäft und meine Arbeitgeber erfüllt. Zu meinem Erstaunen schien er zuerst richtig unwirsch. »Noch mehr Schwierigkeiten!« fing er an. »Warum bleiben Sie nicht bei Ihrer Arbeit, ohne sich um die andern zu kümmern? Was ist denn dabei, wenn er sich 'ne Provision nimmt!« Als er jedoch begriff, wie hoch die Provision war und daß er den ganzen Einkauf in einer halben Stunde selbst besorgen könnte, sprach er ganz anders. »Was wird nun mein Onkel sagen«, rief er aus und ging hin, um ihm die Geschichte zu erzählen. Zwei Tage später gab es einen furchtbaren Krach, denn Herr Cotton war ein wirklicher Geschäftsmann und hatte den Schlächter aufgesucht und sich selbst überzeugt, wie hoch der Aufschlag war. Als man mich in das Zimmer des Onkels hineinrief, schlug Payne nach mir. Aber er fand bald heraus, daß es leichter ist, einen Stoß zu bekommen als zu geben und daß »der verdammte Bengel« keine Spur von Angst vor ihm hatte.

Ich bemerkte nun auch bald, daß dieser Aufschlag auch noch das mit sich brachte, daß wir Fleisch von geringerer Qualität bekamen. Sooft dem Schlächter ein unverkäufliches Stück blieb, schickte er es uns, denn er wußte, daß Payne keinen Streit mit ihm anfangen würde. Der Negerkoch erklärte, daß das Fleisch nun viel besser wäre. Alles, was man eigentlich wünschen konnte! Und unsere Kunden zögerten auch nicht mit ihrer Anerkennung.

Die Entlassung von Payne brachte auch noch eine andere Veränderung mit sich. Ich bekam die Aufsicht über das Restaurant. Ich suchte mir einen Kellner aus, den ich zum Oberkellner ernannte, und bald hatten wir die Bedienung ganz bedeutend verbessert. Über ein Jahr arbeitete ich achtzehn Stunden täglich, und nach sechs Monaten verdiente ich hundertfünfzig Dollar monatlich, die ich mir fast vollständig sparte. Einige Erfahrungen in diesem langen, eiskalten Winter in Chicago bereicherten meine Kenntnisse des amerikanischen Lebens und hauptsächlich des Lebens auf dem niedrigsten Niveau. Ich war ungefähr drei Monate im Hotel gewesen, als ich eines Abends wie immer gegen sieben Uhr auf einen Spaziergang ging. Es war bitter kalt, ein Weststurm harkte die Straßen mit eisigen Zähnen auf, das Thermometer war zehn unter Null. Plötzlich wurde ich von einem Fremden angesprochen, einem kleinen Manne mit rotem Schnurrbart und einem struppig ungeschorenen Barte.

»Sagen Sie, Kamerad, können Sie einem Menschen zu einem Essen verhelfen?« Der Mann war offensichtlich ein Vagabund. Sein Anzug war schmutzig und schäbig, seine Art kriecherisch mit einem Hintergrund von Frechheit. Ich war jedoch guter Laune und stellte die Kritik ein. Gedankenlos nahm ich eine Handvoll Scheine aus der Tasche. Ich wollte ihm einen Dollar geben. Als das Geld zum Vorschein kam, griff der Vagabund danach, erfaßte jedoch meine Hand mit. Instinktiv hielt ich das Geld wie der grimmige Tod umklammert, aber während ich noch wie benommen von Staunen war, schlug mir der Lump ins Gesicht und griff wieder nach den Scheinen. Ich hielt sie noch fester denn je, und da ich nun gereizt war, schlug ich dem Manne mit der linken Faust ins Gesicht. Im nächsten Augenblick stürzten wir zu Boden. Wie es so Glück und Jugend haben wollten, blieb ich oben liegen. Ich spannte meine ganze Kraft an, schlug dem Kerl ins Gesicht und steckte gleichzeitig meine Scheine weg. Im nächsten Augenblick war ich schon auf den Beinen, hatte das Geld tief in der Tasche verstaut und stand mit beiden Fäusten zum nächsten Angriff bereit. Zu meiner Verblüffung raffte sich der Lump auf und sagte vertraulich:

»Ich bin hungrig und schwach, sonst hätten Sie mich nicht so leicht niedergeschlagen.« Und dann fuhr er mit derselben unwahrscheinlichen Frechheit fort: »Sie sollten mir mindestens einen Dollar geben, wenn Sie mich so zurichten.« Und er rieb sich das schmerzende Kinn.

»Ich habe große Lust, Sie anzuzeigen«, sagte ich, mir plötzlich bewußt werdend, daß ich das Gesetz auf meiner Seite hatte.

»Wenn Sie nicht sofort mit dem Gelde herausrücken,« polterte der Lump, »rufe ich die Polizei und sage, daß Sie mir mein Geld gestohlen haben.«

»Rufen Sie nur,« schrie ich, »wir werden sehen, wem man glaubt.«

Aber der Lump wußte einen besseren Trick. In seiner einschmeichelnden Stimme begann er von neuem:

»Kommen Sie mit, junger Mann, ein Dollar wird Ihnen nichts ausmachen, und Sie können manches hier in Chicago lernen. Was brauchen Sie da so ihr Geld herauszuziehen an einem einsamen Ort, um einen hungrigen Menschen in Versuchung zu führen ...«

»Ich wollte Ihnen helfen«, sagte ich zögernd.

»Ich weiß,« erwiderte mein unheimlicher Bekannter, »aber ich helfe mir lieber selbst.« Und er grinste. »Geben Sie mir was zu essen, ich bin hungrig, und ich werde Sie in manchem aufklären. Sie sind ein Grünschnabel, man merkt es gleich.«

Der Kerl war ohne Zweifel Herr der Situation, und er hatte es verstanden, meine Neugier zu erwecken.

»Wohin können wir gehen?« fragte ich. »Ich kenne hier kein Restaurant in der Nähe mit Ausnahme des Fremont-Haus.«

»Zum Teufel,« rief der Lump aus, »nur Millionäre und Idioten gehen ins Hotel. Ich werde schon ein Essen aufschnuppern.« Und er drehte sich um und führte mich wortlos in eine Seitengasse in eine deutsche Kneipe mit ungedeckten Holztischen und sandbestreuten Dielen. Hier bestellte er sich das Essen, ich trank heißen Kaffee, und als es zum Zahlen kam, stellte ich zu meiner freudigen Überraschung fest, daß die ganze Rechnung vierzig Cents betrug und wir in unserer Ecke ungestört sprechen konnten, so lange es uns gefiel.

Nach zehn Minuten hatte der Vagabund meine ganzen vorgefaßten Meinungen umgestoßen und mich auf neue und interessante Gedanken gebracht. Er hatte einiges gelesen, und die farbige Wucht seiner Sprache zog mich fast ebenso an wie sein neuartiger Standpunkt. Alle reichen Männer waren seiner Ansicht nach Diebe, alle Arbeiter Schafe und Narren. Die Arbeiter taten die ganze Arbeit, brachten das Vermögen zusammen, und die Arbeitgeber beraubten sie zu neun Zehnteln ihres Arbeitsertrages und wurden auf diese Weise reich. Es schien alles so einfach. Der Lump dachte nicht daran, zu arbeiten. Er fristete sich mit Bettelei durch und ging, wohin es ihm gefiel.

»Aber wie kommen Sie denn hin?«

»Hier, im mittleren Westen,« erwiderte er, »stehle ich mich in Frachtwagen, Lastzüge und Kohlentransporte hinein. Aber im wirklichen Westen und Süden gehe ich einfach in den Wagen und fahre los, und wenn der Schaffner mich rausschmeißt, warte ich auf den nächsten Zug. Das Leben ist voll von Ereignissen – manche davon sind schmerzlich«, fügte er hinzu, sich versonnen das Kinn reibend.

Er schien ein zäher Kerl zu sein, dessen einziges Ziel im Leben war, Arbeit zu vermeiden, und trotzdem arbeitete er schwer, um nichts zu tun.

Diese Erfahrung wirkte warnend und aufstachelnd auf mich.

Ich hatte beschlossen, so viel zu sparen, wie es nur ging.

Als ich aufstand, um wegzugehen, grinste der Lump mich freundlich an: »Ich habe wohl den Dollar verdient?« Ich mußte lachen. »Ja, das haben Sie wohl«, erwiderte ich, aber diesmal wandte ich mich schon zur Seite, als ich das Geld herausnahm.

»Auf Wiedersehen«, sagte der Vagabund, als wir uns an der Tür trennten, und das war der ganze Dank, den ich je bekam.

Eine andere Erfahrung dieser Zeit hatte eine traurigere Betonung. Eines Abends sprach mich ein Mädchen an. Sie war ziemlich gut angezogen, und als wir unter die Gaslampe kamen, sah ich, daß sie ein hübsches, obwohl etwas nervös gespanntes Gesicht hatte.

»Ich kaufe keine Liebe«, warnte ich sie. »Aber wieviel bekommen Sie gewöhnlich?«

»Einen bis fünf Dollar«, erwiderte sie. »Aber heute möchte ich möglichst viel haben.«

»Ich werde Ihnen fünf geben,« erwiderte ich, »aber Sie müssen mir alles sagen, was ich wissen will.«

»Gut,« beeilte sie sich zu sagen, »ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß. Es ist nicht viel«, fügte sie bitter hinzu. »Ich bin noch nicht zwanzig, obwohl ich älter aussehe, nicht wahr?« – »Nein,« protestierte ich, »Sie sehen wie achtzehn aus.« In ein paar Minuten kletterten wir die Treppen einer Mietskaserne herauf. Ihr Zimmer war eng und kahl, ein Schlafzimmer von der Breite eines Korridors. Sobald sie ihren dicken Mantel und den Hut abgenommen hatte, rannte sie aus dem Zimmer und sagte, sie würde in einer Minute zurück sein. In dem tiefen Schweigen schien es mir, als ob sie eine Treppe hinaufrannte. In der Nähe schrie ein Kind, und dann wieder tiefes Schweigen, bis sie die Tür öffnete, meinen Kopf an sich zog und mich küßte.

»Sie gefallen mir,« sagte sie, »obwohl Sie so komisch sind.«

»Wieso komisch?« fragte ich.

»Es ist zum Wälzen,« meinte sie, »einem Mädchen fünf Dollar zu geben, ohne es zu berühren. Aber ich bin froh, denn ich war heute müde und versorgt.«

»Warum versorgt?« fragte ich, »und warum sind Sie denn ausgegangen, wenn Sie so müde waren?« – »Mußte halt!« erwiderte sie und preßte die Lippen fest zusammen. »Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich Sie wieder für einen Augenblick allein lasse«, und bevor ich noch antworten konnte, war sie wieder aus dem Zimmer hinausgehuscht. Als sie in fünf Minuten zurückkam, war ich ungeduldig geworden und stand schon in Hut und Paletot.

»Sie gehen?« fragte sie verwundert.

»Ja,« erwiderte ich, »ich mag den leeren Käfig nicht, während Sie immerzu zu jemand anderem 'rausflitzen.«

»Jemand anderem,« wiederholte sie, und dann brach es verzweifelt aus ihr heraus: »Es ist mein Kind, wenn Sie's wissen wollen. Eine Freundin nimmt sich seiner an, wenn ich ausgehe oder arbeite.«

»Sie armes Ding!« rief ich. »Was fangen Sie bei diesem Leben mit einem Kinde an?«

»Ich wollte ein Kind haben,« rief sie trotzig aus, »ich würde es um nichts auf der Welt missen wollen. Ich wollte schon immer ein Kind haben. Es gibt Haufen von Mädchen, die dasselbe wollen.«

»Wirklich?« meinte ich erstaunt. »Kennen Sie seinen Vater?« fuhr ich fort.

»Selbstverständlich, er arbeitet auf dem Viehhof. Aber er ist ein brutaler Kerl und selten nüchtern.«

»Sie würden ihn aber heiraten, wenn er sich bessern würde?« fragte ich.

»Jedes Mädel würde einen anständigen Kerl heiraten.«

»Sie sind hübsch«, sagte ich.

»Glauben Sie das wirklich?« fragte sie gespannt und strich sich das Haar von der Stirn weg. »Ich war's vielleicht, aber jetzt – bei diesem Leben –« und sie zuckte die Achseln.

»Mögen Sie's nicht?« fragte ich.

»O nein,« rief sie aus, »obwohl, wenn man einen netten Kerl bekommt, ist es nicht so schlimm. Aber die sind rar«, fuhr sie bitter fort. »Und wenn sie nett sind, dann sind sie nicht bei Kasse. Die netten Kerls sind entweder arm oder alt.«

Ich hatte nun das meiste von ihrer Weisheit abgeschöpft, zog daher eine Fünfdollarnote heraus und gab sie ihr. »Ich dank' dir, du bist ein lieber Kerl. Und wenn du mal zu mir kommen willst, dann wirst du es nicht bereuen.« Das war mein erstes Gespräch mit einer Prostituierten und dazu noch auf ihrem Zimmer. Der Gedanke, daß ein Mädchen sich ein Kind wünschen könne, war für mich etwas ganz Neues. Ihre Versuchungen sind wahrhaftig von denen eines Mannes grundverschieden.

Den größten Teil meines ersten Jahres in Chicago hindurch hatte ich kein Liebesabenteuer. Oft lockte mich dieses oder jenes Hausmädchen, aber ich wußte, ich würde an Prestige verlieren, wenn ich mich mit ihnen einließe, und so schlug ich es mir so entschieden aus dem Kopfe, wie ich das Trinken abgeschworen hatte. Aber im Anfang des Sommers kam die Versuchung in einer neuen Verkleidung zu mir. Eine spanische Familie namens Vidal kehrte im Fremont-Haus ein.

Señor Vidal sah wie ein französischer Offizier aus, mittelgroß, von geschmeidiger Gestalt, sehr dunkel mit grauem Schnurrbart, der sich an den Enden wellte. Seine Frau, mütterlich und behäbig, hatte große, dunkle Augen in ihrem zierlichen Gesicht. Ein Vetter, ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, gehörte dazu, ein schlanker Mann mit einem kleinen, schwarzen Schnurrbärtchen wie eine Zahnbürste und scharfen, herrischen Bewegungen. Zuerst bemerkte ich das Mädchen nicht, das mit einer farbigen Zofe sprach. Ich sah sofort, daß die Vidals sehr reich waren, und gab ihnen die besten Räume, alle anschließend. »Nur Ihr Zimmer«, wandte ich mich zu dem jungen Manne, »ist auf der andern Seite des Korridors. Es ist jedoch groß und ruhig.« Ein Achselzucken und ein verächtliches Kopfnicken war alles, womit Señor Arriga meine Mühen quittierte. Während ich dem Hausdiener die Schlüssel übergab, warf das Mädchen ihre schwarze Mantilla zurück.

»Sind Briefe für uns angekommen?« fragte sie ruhig. Einen Augenblick lang stand ich wie benommen in stummem Entzücken. »Ich werde sehen« stotterte ich und ging an den Kasten, um Haltung zu bewahren, obwohl ich wußte, daß keine Briefe da waren. »Nein, es ist leider nichts da!« Ich beobachtete lächelnd das Mädchen, als es die Treppe hinaufstieg.

»Was ist denn los mit mir?« sagte ich wütend zu mir selbst. »Es ist nichts Besonderes, dieses Fräulein Vidal! Ganz hübsch, ja! Dunkel, mit schönen, dunklen Augen, aber doch nichts Erschütterndes!« Aber es nutzte mir nichts. Ich war auf eine ganz neue Art aufgewühlt und wollte es nicht einmal mir selbst zugeben. Die Erschütterung war in der Tat so gewaltig gewesen, daß sich mein Verstand gegen Herz und Temperament auflehnte. »Alle Spanier sind dunkel,« sagte ich zu mir selbst in dem Versuch, das Mädchen herabzusetzen, »außerdem hat sie eine gebogene Nase.« Aber meine Kritik hatte wenig Überzeugendes. Sobald ich mich an ihre stolze Haltung und den Zauber ihres Blickes erinnerte, wurde ich von Fieberschauern geschüttelt; zum ersten Male war mein Herz ergriffen.

Am nächsten Tage erfuhr ich, daß die Vidals aus Spanien kamen und auf dem Wege nach ihrer Hazienda in der Nähe von Chihuahua in Nord-Mexiko waren. Sie wollten sich in Chicago gerade vier Tage ausruhen, weil die Señora Vidal wieder an Herzschwäche litt und nicht viel aushielt. Ich entdeckte außerdem, daß Señor Arriga seiner Kusine entweder den Hof machte oder mit ihr verlobt war, und versuchte, mich mit dem Manne gut zu stellen. Señor Arriga war ein guter Billardspieler, und ich schlug den nächsten Weg zu seinem Herzen ein, indem ich ihm den besten Tisch reservierte, ihm einen guten Partner verschaffte und mit Entzücken von seiner Geschicklichkeit sprach. Am nächsten Tage schüttete mir Arriga sein Herz aus. »Was kann man hier in diesem langweiligen Loch anfangen? Wo kann man sich hier amüsieren? Gibt es denn keine hübschen Frauen?«

Ich mimte Mitgefühl, um möglichst viel aus ihm herauszuholen, und es gelang mir leicht, denn Señor Arriga liebte es, sich seines Namens, seiner Position in Mexiko und seiner Eroberungen zu rühmen. »Ach, Sie hätten sie sehen sollen, wie ich sie zum Tanze führte – ein Engel, sage ich Ihnen –« und er küßte galant seine Fingerspitzen. »So hübsch wie Ihre Kusine?« wagte ich mich mit der Frage heraus. Señor Arriga warf mir einen scharfen, mißtrauischen Blick zu, aber meine Offenheit schien ihn zu beruhigen, und er sagte warnend: »In Mexiko sprechen wir nie von den Mitgliedern unserer Familie. Die Señorita ist schön, selbstverständlich, aber noch sehr jung. Sie hat nicht den Zauber der Erfahrung, die Zärtlichkeit der – ich weiß eigentlich nicht, wie ich's ausdrücken soll.«

Aber mir genügte das. »Er liebt sie nicht,« sagte ich mir, »er liebt nur sich selbst.«

Ich ergriff jede Gelegenheit, mich bei den Vidals beliebt zu machen. An jedem Nachmittage fuhren sie aus, und ich gab mir Mühe, ihnen den besten Wagen und den besten Kutscher zu verschaffen, und zerbrach mir den Kopf, um neue und schöne Spazierfahrten zu finden, obwohl die Auswahl so beschränkt war. Die Schönheit des Mädchens fesselte mich außerordentlich. Es war jedoch ihr Stolz und die Reserviertheit in ihrem Gesicht, die mich noch mehr faszinierte als ihre großen dunklen Augen, ihre feinen Züge oder ihre herrliche Hautfarbe. Sie hatte eine entzückende Gestalt, einen wunderbaren Gang. Ich wagte jedoch nicht, Epitheta für ihre Augen, ihren Mund oder ihren Nacken zu suchen. Als sie zum ersten Male im Abendkleid erschien, war es für mich wie eine Offenbarung. Sie war mein Idol, geheiligt und in alle Himmel gehoben.

Ich muß wohl annehmen, daß sie wußte, wie es um mich stand, und daß es ihr Freude machte. Man konnte es ihr nicht anmerken, sie verriet sich in keinerlei Weise, aber ihre Mutter hatte bemerkt, daß sie sich immer gern in der Halle aufhielt und keine Gelegenheit versäumte, sich im Bureau nach etwas zu erkundigen.

»Ich will mein Englisch üben«, meinte sie eines Tages, und die Mutter lächelte: »Los ojos! Du meinst wohl deine Augen, mein Liebes?« und fügte wie für sich selbst hinzu: »Aber warum nicht? Die Jugend ...«, und sie seufzte ihrer eigenen, jetzt vergangenen Jugend und den nun verwehten Blüten nach.

Ich kam zu einem kurzen Gespräch mit meiner Göttin. Sie trat einmal ins Bureau, um sich einen Pullman-Salonwagen für El Paso reservieren zu lassen. Ich versprach ihr, mich um alles zu kümmern, und als die hübsche, kleine Dame in ihrem komischen Akzent hinzufügte: »Wir haben soviel Gepäck, sechsundzwanzig Stück!« erwiderte ich so ernst, als hinge mein Leben davon ab: »Bitte, verlassen Sie sich auf mich. Ich werde mich um alles kümmern. Ich wünschte, ich könnte mehr für Sie tun.«

»Das ist lieb,« sagte die Kokette, »sehr lieb!« und sah mir voll in die Augen. Die Verzweiflung über ihre nahende Abreise gab mir Mut. »Es tut mir so leid, daß Sie wegfahren. Ich werde Sie nie vergessen, nie!«

Sie war verblüfft über meine unerwarteten Worte und lachte lockend auf. »Nie heißt wohl eine Woche, nicht wahr?«

»Sie werden sehen,« fuhr ich, mich überstürzend, fort, als ob mich irgend etwas vorwärts triebe, »wenn ich Sie nicht bald wiedersehen sollte, möchte ich nicht länger leben wollen.«

»Eine Erklärung!« lachte sie, mir schalkhaft ins Gesicht schauend.

»Nicht der Unabhängigkeit,« rief ich aus, »sondern –«; als ich noch zwischen Zuneigung und Liebe schwankte, legte das Mädel den Finger an die Lippen.

»St, st!« sagte sie ernst, »Sie sind zu jung, um Eide zu schwören, und ich darf sie nicht hören.« Aber als sie meinen bestürzten Ausdruck sah, fügte sie hinzu: »Sie sind sehr nett zu uns gewesen. Ich werde mich mit Freude an meinen Aufenthalt in Chicago erinnern.« Sie streckte mir die Hand entgegen. Ich nahm sie und hielt sie umfangen, beglückt über jede Berührung.

Ihren Blick und die Berührung ihrer Finger speicherte ich in meinem Herzen als reinsten Schatz auf.

Als sie hinausging und mit ihr aller Glanz verschwunden war, zermarterte ich mir mein Hirn, um einen Vorwand für ein Gespräch zu finden. »Sie fährt morgen weg!« hämmerte es in meinem Kopf, mein Herz schnürte sich zusammen, der Schmerz würgte in der Kehle, und ich konnte kaum denken. Plötzlich kamen mir Blumen in den Sinn. »Ich werde ihr eine Fülle von Blumen kaufen.« – Nein, es ging nicht! Es würde auffallen, und man würde darüber sprechen. Weniger Blumen würden besser sein. Wieviel jedoch? Ich grübelte darüber nach. Als sie am nächsten Tage fertig zur Abreise in die Halle herunterkam, wartete ich auf die Gelegenheit, aber das Mädel kam mir darin entgegen. Sie wartete ab, bis Arriga und ihr Vater die Halle verlassen hatten, und kam schließlich ans Pult.

»Haben Sie die Schecks?« fragte sie.

»Man wird Ihnen alles am Zuge aushändigen. Aber ich habe dies für Sie. Darf ich Sie bitten, es von mir anzunehmen.« Und ich gab ihr drei herrliche, rote Rosenknospen, die mit Frauenhaar zusammengebunden waren.

»Wie nett von Ihnen,« rief sie aus, und ein Erröten stieg in ihre Wangen, »und wie hübsch sie sind! Gerade drei!«

»Eine für Ihr Haar,« sagte ich mit der Schläue eines Verliebten, »eine für Ihre Augen, und eine für Ihr Herz – werden Sie sich daran erinnern?« fügte ich leise und eindringlich hinzu.

Sie nickte und lachte girrend auf: »Solange die Blumen halten!« In ihren Blicken tanzten Funken. Sie flog zu ihrer Mutter.

Ich begleitete sie an den Omnibus, und die ganze Gesellschaft bedankte sich bei mir, selbst Señor Arriga, aber ich hing an ihrem Blick und ihren Worten.

Als ich ihr die Tür offen hielt, murmelte ich leise, denn die andern waren in Hörweite: »Ich komme bald hin.«

Das Mädchen blieb sofort stehen und tat so, als ob sie sich ein Etikett an einem vorbeigetragenen Koffer ansähe. »El Paso ist weit weg,« seufzte sie, »und unsere Hacienda noch zehn Seemeilen weiter.«

»Wann kommen wir an, wann –?« Sie warf mir einen Blick zu.

»Wann?« war noch monatelang das bedeutungsvolle Wort für mich, ihre Augen hatten ihm Bedeutung verliehen.

Ich habe von dieser Begegnung mit Fräulein Vidal ausführlich erzählt, weil sie eine Epoche in meinem Leben abgrenzt. Zum ersten Male hatte die Liebe mich in ihren Bann gezogen, und ich war vom Rausche der Schönheit benommen. Diese Leidenschaft machte es mir leichter, den gewöhnlichen Versuchungen zu widerstehen, denn sie lehrte mich, daß es eine ganze herrliche Welt im Königreich der Liebe gibt, von der ich nichts wußte, die ich kaum betreten hatte. Kaum ein sinnlicher Gedanke wagte sich an Gloria heran. Erst als ich ihre nackten Schultern im Abendkleid sah, zog ich sie in Gedanken aus und wurde beinah wild in unbeherrschtem Verlangen.

Im Hintergrunde meiner Gedanken lag der feste Entschluß, auf irgendeine Weise in der nächsten Zeit nach Chihuahua zu kommen, um ihr zu begegnen, und dieser Entschluß gab meinem Leben eine neue Wendung.

Anfang Januar dieses Jahres kamen drei Fremde ins Hotel, alles Viehhändler, wie man mir sagte, aber eines mir noch unbekannten Typus. Reece, Dell und Ford, der »Chef«, wie er genannt wurde. Reece war ein großer, dunkler Engländer oder eigentlich Walliser, in hohe, braune Reitstiefel gekleidet, Kordkniehosen und eine dunkle Cutawayjacke. Er sah wie ein wohlhabender Landwirt aus. Dell kopierte ihn genau in seiner Kleidung, war jedoch mittelgroß und gedrungen, von dem durchschnittlichen Engländertyp. – Der »Chef« war sechs Fuß groß, größer sogar als Reece, mit messerscharf geschnittenem, bronzebraunem Gesicht und einem Adlerprofil, – ein Viehhändler aus dem Westen von Kopf bis Fuß. Der Oberkellner erzählte mir alles über sie, und sobald ich ihrer ansichtig wurde, wies ich ihnen einen schattigen, kühlen Tisch an und achtete darauf, daß man sie gut bediente.

Einen oder zwei Tage später freundeten wir uns an, und nach einiger Zeit ließ mir Reece Maß für zwei Paar Kordkniehosen nehmen und versprach, mich reiten zu lehren. Sie waren Cowboys, wie er mir mit seinem starken englischen Akzent erklärte, und gingen nach Rio Grande, um dort Vieh einzukaufen und es auf den Markt hier oder in Kansas City zurückzutreiben. Es schien, daß man im Süden von Texas Rindvieh zu einem Dollar pro Kopf kaufen konnte, das in Chicago fünfzehn bis zwanzig Dollar einbrachte.

»Selbstverständlich kommen wir nicht immer unbelästigt durch, die Indianer in der Prärie, die Tscherokesen, Sioux und Schwarzfüßler sorgen schon dafür. Aber eine Herde auf zwei kommt durch, und das macht sich bezahlt.«

Ich erfuhr, daß sie tausend Stück Rindvieh und zweihundert Pferde aus ihrer Farm in der Nähe von Eureka in Kansas hergetrieben hatten.

In Kürze gesagt: Reece faszinierte mich. Er sagte mir, daß Chihuahua die nächste mexikanische Provinz von Texas über den Rio Grande sei, und ich entschloß mich, mit diesen Cowboys in die Prärie zu gehen, wenn sie mich mitnehmen würden. In zwei oder drei Tagen sagte mir Reece, daß ich mich besser beim Reiten anstellte als irgend jemand, den er bisher gesehen hatte, und er fügte hinzu: »Als ich zuerst Ihre dicken, kurzen Beine sah, konnte ich mir nicht vorstellen, daß da viel zu machen ist.« Aber ich war stark und war in diesem Jahre in den Staaten fast um sechs Zoll gewachsen; und ich drehte die Zehen nach innen, wie Reece mich anwies, und hing mit der ganzen Kraft meiner Knie an dem englischen Sattel, bis ich müde und wund wurde. Nach vierzehn Tagen ließ mich Reece ein Fünfcentstück zwischen die Knie und den Sattel legen, das selbst beim Galopp oder Trott nicht herunterfiel.

Diese Übung machte aus mir einen guten Reiter, soweit es sich um den Sitz handelte, und ich erfuhr bald, daß Reece ein Altmeister der tieferen Geheimnisse dieser Kunst war, denn er pflegte auf den Jagdgründen in England die Füllen zuzureiten, und »da lernt man erst die Pferde richtig kennen«, fügte er bedeutungsvoll hinzu.

Eines Tages stellte ich fest, daß Dell einiges von Poesie, Literatur und auch Nationalökonomie wußte, und das gab mir den Ausschlag. Als ich ihn und Reece fragte, ob sie mich als Cowboy mitnehmen wollten, meinten sie, daß sie erst mit dem »Chef« sprechen müßten, aber es sei kein Zweifel, daß er einwilligen würde, und er tat es auch, nachdem er mich mit einem scharfen Blick gemessen hatte.

Dann kam meine schwerste Aufgabe. Ich mußte Kendrick und Cotton mitteilen, daß ich sie verließ. Sie waren mehr als verblüfft. Zuerst hielten sie es für einen Trick, um eine Gehaltserhöhung herauszuschlagen, aber als sie sahen, daß es reine knabenhafte Abenteuerlust war, argumentierten sie mit mir herum, ich ließ mich jedoch nicht überreden. Ich versprach, zu ihnen zurückzukehren, sobald ich wieder nach Chicago zurückkommen sollte oder des Cowboylebens überdrüssig werden würde. Ich hatte fast achtzehnhundert Dollar gespart, die ich auf den Rat von Cotton in einer ihm wohlbekannten Kansas City-Bank deponierte.

Das Leben in der Prärie

Am zehnten Juni nahmen wir den Zug nach Kansas City, zu jener Zeit dem Tor des Wilden Westens. In Kansas City traf ich noch auf drei andere Männer, die zu der Expedition gehörten, Bent, Charlie und Bob, den Mexikaner. Charlie, um mit dem am wenigsten Bedeutenden zu beginnen, war ein hübscher amerikanischer Jüngling, blauäugig und blond, mehr als sechs Fuß groß, sehr stark, unbekümmert und leichtsinnig. Ich stellte ihn mir immer als einen großen, gütigen Neufundländer vor, ein wenig ungefügig, aber immer gutmütig. Bent war zehn Jahre älter, ein Kriegsveteran, dunkel, mürrisch, zielbewußt, fünf Fuß neun oder zehn hoch, mit Muskeln wie Stricke und einer Mentalität, die sich seltsam schwer erforschen ließ. Bob, der merkwürdigste und originellste Mensch, den ich bis dahin getroffen hatte, war ein kleiner, eingetrockneter Mexikaner, kaum fünf Fuß drei groß, halb Spanier, halb Indianer, der ebensogut dreißig wie fünfzig Jahre alt sein konnte und der den Mund nur öffnete, um alle Amerikaner auf spanisch zu verfluchen. Selbst Reece sprach mit respektvoller Anerkennung über seine Reitkunst und meinte, daß er mehr über das Rindvieh wüßte als irgendein anderer auf der ganzen Welt. Reeces Bewunderung lenkte meine Neugier auf den kleinen Mann, und ich nahm jede Gelegenheit wahr, mit ihm zu sprechen und ihm Zigarren zu geben – eine Höflichkeit, die ihm so ungewöhnlich vorkam, daß er zuerst Miene machte, sie abzulehnen.

Diese drei Männer waren in Kansas City zurückgelassen worden, um eine andere Viehherde abzustoßen und Vorräte für die Fahrten einzukaufen. Sie waren schon reisefertig, und so ritten wir am nächsten Tage um vier Uhr morgens aus Kansas City weg, mit einem Kurs in der Richtung Südwest. Alles war mir neu und wunderbar. In drei Tagen hatten wir alle Wege und Wohnstätten hinter uns gelassen und waren auf der offenen Prärie. Nach weiteren zwei oder drei Tagen wurde die Prärie zu der großen Ebene, die sich vier- bis fünftausend Meilen von Norden nach Süden mit einer Breite von ungefähr siebenhundert Meilen erstreckt. Auf der Ebene wuchs Elfengras und amerikanischer Beifuß, und nur am Flußbett kamen Baumwollsträucher zum Vorschein; es wimmelte von Kaninchen, Präriehühnern, Rehen und Büffelochsen.

Wir ritten ungefähr dreißig Meilen täglich. Bob saß im Wagen und trieb die vier Maultiere an, während Bent und Charlie uns am Morgen Kaffee und zum Mittag- und Abendessen Salzfleisch oder irgendein erlegtes Wild brieten. Wir hatten auch einen kleinen Krug Roggenwhisky mit, aber wir sparten ihn für Schlangenbisse oder irgendeinen Notfall auf.

Ich wurde dazu auserlesen, durch Jagdbeute unsere Expedition zu versorgen, denn man entdeckte bald, daß ich wie durch irgendeinen sechsten Sinn immer den kürzesten Weg zum Wagen zurückfinden konnte. Sonst besaß nur Bob denselben Instinkt. Bob erklärte es, indem er zwischen den Zähnen hervorstieß: »No Americano!« Dieser Instinkt selbst, der mir öfter nützte, als ich es aufzählen kann, ist seinem Wesen nach unerforschlich. Ich fühle die Richtung, aber dieses vage Gefühl wird noch durch die Beobachtung des Sonnenpfades und der Art, wie sich die Grashalme beugen und die Büsche wachsen, verstärkt. Dieser Instinkt machte mich zu einem wertvollen Mitgliede unserer Expedition, ich wäre sonst ein bloßer Parasit zwischen den Herren und dem Gesinde gewesen. Es war auch der erste Schritt zu Bobs Zuneigung, die mir mehr nützte als alle andern Glückszufälle meines frühen Lebens. Ich hatte eine Flinte, eine Winchester-Büchse und einen Revolver in Kansas City gekauft, Reece hatte für mich die passenden Waffen ausgesucht, und diese Tatsache half auch, mich zu einem sicheren Schützen zu machen. Zu meinem Leidwesen entdeckte ich jedoch bald, daß ich nie ein hervorragender Schütze werden konnte, denn Bob, Charlie und sogar Dell konnten viel weiter sehen. Ich war kurzsichtig und astigmatisch, und selbst Augengläser, die ich später trug, konnten die Verschwommenheit, mit der sich mir die Dinge darstellten, nicht beheben.

Es war die zweite oder dritte Enttäuschung meines Lebens neben der Überzeugung meiner eigenen Häßlichkeit und der Tatsache, daß ich zu klein war, um ein großer Athlet zu sein. Im weitern Verlauf meines Lebens entdeckte ich noch andere ernsthaftere Mängel, die jedoch nur meinen tiefeingewurzelten Entschluß, alle meine Eigenschaften aufs höchste zu entwickeln, stärkten. Inzwischen war das Leben göttlich, neu, seltsam und abwechslungsreich.

Nach dem Frühstück, gegen fünf Uhr morgens, ritt ich vom Wagen weg, bis ich außer Sehweite war, und gab mich vollkommen dem Glück des Alleinseins, ohne Grenzen zwischen Ebene und Himmel, hin. Die Luft war klar und trocken, berauschend wie Sekt, und selbst wenn die Sonne den Zenit erreichte und glühend sengte, blieb die Luft leicht und stärkend. Mittel-Kansas liegt ungefähr zweitausend Fuß über dem Meeresspiegel; und die Luft ist so trocken, daß, wenn ein Tier getötet wird, es nicht verwest, sondern eintrocknet, und nach ein paar Monaten liegt das Fell, mit bloßem Staub gefüllt, da. Wild war in Mengen vorhanden, kaum eine Stunde verging, und ich hatte schon ein halbes Dutzend Rebhühner oder ein Reh erlegt, führte mein Pony langsam zu unserem Lager zurück und pflückte eine neue Blume unterwegs, deren Namen ich erfahren wollte.

Nach dem Mittagessen kletterte ich zu Bob in den Wagen und lernte von ihm Spanisch oder fragte ihn über seine Viehkenntnisse aus. In der ersten Woche waren wir schon miteinander befreundet. Ich stellte mit Freude fest, daß Bob auf Spanisch ebenso mitteilsam war wie auf Englisch einsilbig. Sein Vorrat an spanischen Flüchen, Schimpfworten und Zoten war verblüffend. Bob haßte alles Amerikanische mit einer unverkennbaren Wut, was mich durch die auffällige Unvernunft zu interessieren anfing.

Ein- oder zweimal veranstalteten wir auf unserem Wege ein Wettrennen. Aber Reece, auf einem großen Kentuckyvollblut, Shiloh, trug leicht den Sieg davon. Er sagte mir jedoch, daß sich auf der Farm eine junge Stute, der »Blaue Teufel« genannt, befinde, die fast ebenso schnell wie Shiloh und von seltener Schönheit und Ausdauer sei. »Sie können sie haben, wenn Sie auf ihr reiten können«, warf er hin. Und ich beschloß, mir alle Mühe zu geben, um den »Teufel« zu gewinnen.

Nach ungefähr zehn Tagen erreichten wir die Farm in der Nähe von Eureka. Sie war von fünftausend Acker Prärie umgeben. Es war ein großes Blockhaus, das ungefähr zwanzig Menschen beherbergen konnte. Aber es war bei weitem nicht so schön gebaut wie der große, gemauerte Stall, Reeces Augapfel, der Platz für vierzig Pferde bot und ungefähr ein Dutzend großer, abgeteilter Stände im besten englischen Stil besaß.

Das Haus und der Stall waren auf einem langen, sich wellenden Abhang gelegen, vielleicht dreihundert Yards von einem großen Bach entfernt, den ich bald den Schlangenbach nannte, denn Schlangen jeder Art und Größe wimmelten in dem Gebüsch und Unterholz an den Ufern herum. Das große Wohnzimmer der Farm war mit Revolvern, Flinten und ausgeschnittenen Bildern aus illustrierten Zeitungen dekoriert, der Boden war mit Büffel- und Bärenhäuten bedeckt, und seltenere Biber- und Nerzfelle hingen hier und da an den Holzwänden. Wir kamen spät nachts auf der Farm an, ich schlief in einem Zimmer mit Dell. Er nahm das Bett für sich, und ich rollte mich in einer Decke auf dem Sofa ein. Ich schlief jedoch wie ein Murmeltier, und am nächsten Morgen war ich vor Sonnenaufgang auf den Beinen, um das ganze Inventar, sozusagen, in Augenschein zu nehmen. Ein indianischer Diener zeigte mir den Stall, und wie das Glück es so haben wollte, traf ich den Blauen Teufel allein in einem Stand, verstört und unruhig.

»Was ist denn mit ihr los?« fragte ich. Und der Indianer sagte mir, sie hätte sich das Ohr am Kopfe wund gerieben, die Fliegen seien hereingekommen und quälten sie jetzt. Ich ging ins Haus zurück, ließ mir von Peggy, dem Mulattenkoch, einen Eimer mit warmem Wasser füllen, und mit diesem Eimer und einem Schwamm trat ich in den abgeteilten Stand ein. Der Blaue Teufel kam mir entgegen und schnappte nach meiner Schulter, aber sobald ich den Schwamm mit dem warmen Wasser an dem Ohr der Stute ausgedrückt hatte, hörte sie auf, zu beißen, und wir freundeten uns schnell an. Noch am selben Nachmittag führte ich sie gesattelt und gezäumt vor das Haus, schwang mich auf sie, und sie ging ruhig wie ein Lamm. »Sie gehört Ihnen,« meinte Reece, »aber wenn sie je Ihren Fuß zwischen die Zähne bekommt, werden Sie wissen, wie weh das tut.«

Es schien, daß sie den Trick hatte, solange an den Zügeln zu ziehen, bis der Reiter sie lockerte, dann drehte sie plötzlich den Kopf um, nahm die Zehen des Reiters zwischen die Zähne und biß wie ein Teufel los. Einer, den sie nicht mochte, konnte sie nicht besteigen, denn sie focht wie ein Mann mit der Vorderhand. Ich hatte jedoch nie Schwierigkeiten mit ihr, und sie hat mir mehr als einmal das Leben gerettet. Wie die meisten weiblichen Wesen antwortete sie unmittelbar auf Güte und blieb der Zuneigung treu.

Ich merke hier, daß, wenn ich die andern Vorfälle in diesem ereignisreichen Jahre so ausführlich schildern wollte wie die Erlebnisse dieser vierzehn Tage, die mich von Chicago auf die Farm bei Eureka brachten, ich ihnen mindestens einen Band widmen müßte, und so will ich lieber meinen Lesern versichern, daß ich eines Tages, wenn ich es erlebe, meinen Roman der Prärie veröffentlichen werde, der die ganze Geschichte in aller Ausführlichkeit behandelt. Jetzt begnüge ich mich mit der Feststellung, daß zwei Tage später, nachdem wir die Farm erreicht hatten, wir uns wieder auf den Weg machten, zehn Mann hoch und zwei Wagen mit Kleidern und Proviant gefüllt, jeder von Maultieren gezogen, um die zwölfhundert Meilen nach Südtexas oder Neu-Mexiko zu durchmessen, wo wir fünf- bis sechstausend Stück Rindvieh zu einem Dollar pro Kopf zu kaufen hofften, um sie nach Kansas City, der nächsten Zugstation, zu treiben.

Als wir auf die große Prärie hundert Meilen vom Fort Dodge, kamen, vergingen die Tage in vollkommener Monotonie. Nach Sonnenuntergang sprang ein leichter Wind auf, die Nacht war angenehm kühl, wir saßen um das Lagerfeuer herum und sprachen einige Stunden. Das Gespräch schwankte seltsamerweise zwischen schmierigen Weibergeschichten und Diskussionen über Religion oder die Beziehungen von Arbeit und Kapital. Es war seltsam, wie eifrig diese rohen Viehtreiber die Mysterien dieser unverständlichen Welt diskutierten. Als aggressiver Skeptiker sicherte ich mir bald einen Ruf unter ihnen. Dell unterstützte mich gewöhnlich, und seine Kenntnis der Bücher und Denker schien uns außerordentlich.

Diese dauernden Abendgespräche, dieses ewige Argumentieren übte auf mich eine unvorstellbare Wirkung aus. Ich hatte keine Bücher mit mir und mußte oft zwei oder drei verschiedene Theorien an einem Abend behandeln. Ich mußte mir die Probleme selbst durchdenken, und meistens tat ich es, während ich bei Tage jagte. In dieser Zeit als Cowboy habe ich gelernt zu denken, eine seltene Kunst, die wenig Menschen heute üben. Wenn ich irgendeine Originalität besitze, so verdanke ich sie der Tatsache, daß ich in meiner Jugend, während mein Geist sich noch in der Entwicklung befand, den wichtigen, modernen Problemen gegenübergestellt wurde und gezwungen war, sie zu durchdenken, um eine vernünftige Antwort auf die Fragen der verschiedenen Menschen zu finden.

So fragte mich zum Beispiel Bent eines Abends, wie hoch der richtige Lohn für einen gewöhnlichen Arbeiter sein sollte. Ich konnte ihm nur antworten, daß der Lohn eines Arbeiters mindestens in demselben Maße wie die Produktivität der Arbeit zunehmen sollte. Aber ich sah nicht, auf welchem Wege man diese ideale Lösung erreichen könnte. Als ich zehn Jahre später in Deutschland Herbert Spencer las, stellte ich zu meiner Freude fest, daß ich den besten Teil seiner Soziologie erraten hatte und sie um ein beträchtliches ergänzt. Seine Idee, daß der Grad der individuellen Freiheit in einem Lande von dem »Druck von außerhalb« abhängt, kam mir nur zur Hälfte richtig vor. Der Druck von außerhalb ist nur ein Faktor und nicht einmal der bedeutendste. Die zentripetale Kraft der Gesellschaft selbst ist oft viel wuchtiger. Wie ließe sich sonst die Tatsache erklären, daß während des Weltkrieges die Freiheit in den Vereinigten Staaten fast vollkommen verschwunden war trotz der Worte der Verfassung? Zu allen Zeiten nahm man eigentlich hier auf die Freiheit weniger Rücksicht als in England oder sogar in Deutschland oder in Frankreich. Man braucht nur an das Alkoholverbot zu denken, und man wird mir beipflichten. Die zentripetale Tendenz in jedem Lande steht im direkten Verhältnis zu der Masse, und infolgedessen ist das Herdengefühl in Amerika so unvernünftig stark.

Wenn wir nicht disputierten oder uns schlüpfrige Geschichten erzählten, zog Bent die Karten heraus, und der Spielerinstinkt hielt die Männer wach, bis die Sterne im Osten verblaßten.

Ich muß hier noch einen Vorfall erwähnen, der die Monotonie unseres Alltags in seltsamer Weise unterbrach.

Wir zündeten unser Feuer bei Nacht mit den getrockneten Exkrementen der Tiere an, und Peggy hatte mich, der ich zuerst aufwachte, gebeten, immer das Feuer aufzufüllen, bevor ich wegritt. Eines Morgens hob ich so ein getrocknetes Exkrement mit der linken Hand auf und störte eine kleine Klapperschlange auf, die wahrscheinlich von der Hitze unseres Lagerfeuers angelockt worden war. Die Schlange biß mich in den Daumen, dann drehte sie sich im Nu zusammen und begann zu klappern. Wütend zerdrückte ich sie mit meinem Fuß, und im selben Augenblick saugte ich die Stelle an meinem Daumen aus, wo ich gebissen worden war, und rieb noch außerdem den Daumen um die Wunde herum an der roten Glut. Ich schenkte der Sache nur eine geringe Aufmerksamkeit. Die Schlange schien mir zu klein, um sehr giftig zu sein. Aber als ich an den Wagen zurückkam, um Peggy zu wecken, schrie er auf, rief den Chef, Reece und Dell zusammen und war offensichtlich höchst verstört und ängstlich. Reece war mit ihm einig, daß der Biß der kleinen Prärieklapperschlange ebenso giftig ist wie der ihrer großen Schwester im Walde.

Der Chef goß ein Glas Whisky ein und ließ mich trinken. Ich wollte es nicht, aber er drang darauf, und so schüttete ich es hinunter. »Brennt es?« fragte er. »Nein, es war wie Wasser«, erwiderte ich und merkte, daß der Chef mit Reece einen bedeutungsvollen Blick tauschte.

Der Chef erklärte sofort, ich müßte herumgehen. Jeder von ihnen ergriff meinen Arm, und sie führten mich feierlich eine halbe Stunde lang spazieren. Gegen Ende dieser halben Stunde schlief ich fast. Der Chef blieb stehen und gab mir wieder einen großen Becher Whisky. Im Augenblick wachte ich auf, dann wurde ich wieder steif und taub. Man gab mir wieder Whisky, ich wurde lebendig, aber nach fünf Minuten fiel ich zusammen und flehte sie an, mich schlafen zu lassen.

»Zum Teufel mit dem Schlaf!« rief der Chef, »du wachst nicht mehr auf, nimm dich zusammen.« Und ich bekam wieder Whisky. Ich wurde mir vage dessen bewußt, daß ich meine ganze Willenskraft anwenden müßte, und ich begann, herumzuhüpfen, um diese überwältigende Schläfrigkeit abzuschütteln. Ich goß noch einige Gläser Whisky herunter, und nachdem ich im Laufe der nächsten zwei Stunden wild herumgehüpft war, wurde ich mir plötzlich eines scharfen, intensiven Schmerzes in meinem linken Daumen bewußt.

»Jetzt kannst du schlafen, wenn du willst«, meinte der Chef. »Ich nehme an, daß der Whisky das Schlangengift ausgespült hat.«

Mein verbrannter Daumen schmerzte furchtbar. Zum ersten Male in meinem Leben litt ich auch unter Kopfschmerzen. Aber Peggy gab mir heißes Wasser zu trinken, und der Kopfschmerz verflüchtigte sich bald. In einem oder zwei Tagen war ich dank der Gewaltkur des Chefs vollkommen auf den Beinen. In einem Jahre hatten wir zwei junge Menschen durch den Biß der kleinen Prärieschlange verloren, die so unbedeutend schien.

Die Tage gingen schnell vorbei, bis wir in die Nähe der ersten Städte in Süd-Texas kamen. Da verlangte jedermann vom Chef sein rückständiges Gehalt und stürzte fort, um sich zu rasieren und sich in wildester Aufregung eine Geliebte zu suchen. Charlie war wie verrückt. Eine halbe Stunde, nachdem sie die Stadtschenke erreicht hatten, waren alle mit Ausnahme von Bent bis zum Wahnsinn besoffen und schrien nach Frauen, um mit ihnen die Nacht zu verbringen. Ich ging nicht einmal in die Kneipe hinein und bat Charlie vergeblich, sich nicht so zum Narren zu machen. »Dazu lebe ich eben!« rief er aus und stürzte davon.

Ich gewöhnte mich daran, meine ganze freie Zeit mit Reece, Dell, Bob oder dem Chef zu verbringen, und lernte von allen eine ganze Menge. In Kürze hatte ich den Chef und Reece erschöpft, aber Dell und Bob hatten jeder auf seine eigene Weise gründliche Kenntnisse. Und während Dell mich in Literatur und Nationalökonomie einführte, weihte mich Bob in die Mysterien des Cowboylebens und die besonderen Sitten der Viehherden in Texas ein. Jede kleine Herde dieser halbwilden Tiere hat ihren eigenen Führer, dem sie fanatisch folgt. Wenn wir verschiedene Rinderherden in unserer Hürde zusammenbrachten, entstand eine fürchterliche Verwirrung, bis nach einem wilden Kampfe ein neuer Führer erwählt wurde, dem alle gehorchten. Aber manchmal verloren wir in diesem Aufruhr fünf bis sechs Tiere. Bob konnte mit seinem Pony zwischen die halbwilden Bestien hineinreiten, um den künftigen Führer für sie auszuwählen. Bei dem großen Sportfest in der Nähe von Taos ging er zu Fuß in eine Hürde zwischen eine Menge Herden und brachte den Führer heraus, unter dem Triumphgeschrei seiner Landsleute, die »los Americanos« herausforderten, dieser Tat nachzueifern. Bob hatte eine unheimliche Kenntnis der Tiere, und alles, was ich weiß, verdanke ich ihm.

In der ersten Woche kauften Reece und der Chef den ganzen Tag Vieh ein. Reece nahm gewöhnlich Charlie und Jack Freeman mit, einen jungen Amerikaner, um die Einkäufe in die große Hürde einzutreiben; während der Chef einen nach dem andern herausholte, um ihm zu helfen. Charlie fiel jedoch als erster aus. Er hatte sich gleich in der ersten Nacht venerisch angesteckt und war länger als einen Monat bettlägerig. Einer nach dem andern fielen die jungen Männer der Krankheit zum Opfer. Ich ging in die nächste Stadt hinein, konsultierte einen Arzt und tat alles für sie, was möglich war. Aber die Kur ging nur sehr langsam vor sich, denn sie betranken sich von Zeit zu Zeit, um ihren Kummer im Alkohol zu ersäufen, und die Krankheit wurde chronisch. Ich konnte diese Versuchung nie verstehen. Es war schon schlimm, wie sie sich betranken, aber in diesem Zustande zu einer Mischblutprostituierten zu gehen, schien mir unbegreiflich.

Selbstverständlich erkundigte ich mich nach den Vidals. Aber keiner schien etwas von ihnen gehört zu haben, und obwohl ich mir alle Mühe gab, gingen die Wochen vorbei, ohne daß ich nur eine Spur von ihnen fand. Ich schrieb jedoch an die Adresse, die mir Gloria gab, bevor sie Chicago verließ, aber ich war schon aus Texas weg, als ich von ihr hörte. Ihr Brief erreichte mich in Fremont-Haus, als ich wieder in Chicago war. Sie schrieb mir nur, daß sie den Rio Grande gekreuzt hätten und auf ihrer Hazienda auf der andern Seite sich niedergelassen hatten, wo ich vielleicht, wie sie schlau hinzufügte, sie eines Tages besuchen würde. Ich schrieb ihr dankend zurück und versicherte ihr, daß die Erinnerung an sie mir die ganze Welt umgestaltet hätte, was die reine Wahrheit war. Ich gab mir unendliche Mühe, diesen Brief in gutem Spanisch zu schreiben, aber ich fürchte, daß er trotz Bobs Hilfe von Fehlern wimmelte. Ich greife hier jedoch meiner Geschichte voraus.

Wir bekamen bald die Herde zusammen. Anfang Januar wandten wir uns nordwärts und trieben ungefähr sechstausend Stück vor uns, die uns kaum fünftausend Dollar gekostet hatten. In diesem ersten Jahre ging alles gut ab. Wir sahen nur eine kleine Bande Prärie-Indianer, die wir an Stärke übertrafen. Der Chef erlaubte mir, fünfhundert Stück Vieh auf meine eigene Rechnung hinüberzubringen; er wollte mich, wie er sagte, für meine dauernde, schwere Arbeit belohnen. Aber ich bin sicher, daß es Reece und Dell waren, die ihm diese Idee gesteckt hatten.

Die Tatsache, daß mir ein Teil des Viehs gehörte, machte aus mir einen höchst aufmerksamen und unermüdlichen Hirten. Mehr als einmal konnte meine Aufmerksamkeit, durch Bobs Instinkt geschärft, rettend eingreifen. Als wir an das indianische Territorium gelangten, warnte mich Bob davor, daß eine kleine Bande oder sogar ein einzelner Indianer eines Nachts versuchen könnte, eine wilde Panik in unsere Herde hineinzutragen. Eine Woche später bemerkte ich, daß das Vieh unruhig wurde. »Indianer,« sagte Bob, als ich ihm von den Anzeichen erzählte, »schlaue Biester!« In dieser Nacht war ich frei, aber ich ritt trotzdem streifend umher, als ich plötzlich um Mitternacht eine weiße Gestalt mit einem unirdischen Gekreisch vom Boden aufspringen sah. Das Vieh begann sich zusammenzurotten, ich nahm die Flinte in die Hand und zielte. Obwohl ich den Indianer nicht traf, hielt er es für geraten, unter Zurücklassung seiner Hülle das Weite zu suchen. In fünf Minuten hatten wir das Vieh beruhigt, und es ereignete sich nichts mehr, bis wir Wichita, den damaligen Vorposten der Zivilisation, erreichten. Zehn Tage später verluden wir in Kansas City unser Vieh, von dem wir ein Viertel zu ungefähr fünfzehn Dollar pro Kopf schon an Ort und Stelle verkauft hatten. Wir erreichten Chicago gegen den ersten Oktober und stellten das Vieh im Viehhof des Michigan-Depots unter. Am nächsten Tage verkauften wir mehr als die Hälfte unserer Herde, und ich hatte das Glück, dreihundert meiner Tiere zu fünfzehn Dollar pro Kopf zu verkaufen. Hätte der Chef das Pfund nicht für drei Cents ausgeboten, dann hätte ich alles verkauft, was ich besaß. Auch so besaß ich nun fünftausend Dollar auf der Bank und fühlte mich wie ein Krösus. Meine Freude sollte jedoch höchst kurzlebig sein.

Selbstverständlich wohnte ich im Fremont-Haus und wurde ausgezeichnet empfangen. Die Verwaltung ließ viel zu wünschen übrig, aber ich war froh, daß ich nicht mehr dafür verantwortlich war und bequem in den Restaurants essen konnte. Die sechs Monate in der Prärie hatten meinem ganzen Wesen ein neues Gepräge gegeben. Ich bin da erst zum wirklichen Arbeiter geworden, und ich hatte in erster Linie gelernt, daß eine gespannte Entschlossenheit und Willenskraft der wichtigste Faktor des Erfolges im Leben ist. Ich beschloß, meinen Willen durch Übung zu trainieren, wie man einen Muskel trainiert, und an jedem Tage unterwarf ich mich einer neuen Probe. Da ich Kartoffeln gern aß, beschloß ich, sie eine Woche lang nicht anzurühren, oder schwor für einen Monat den Kaffee ab, den ich liebte, und hielt meinen Entschluß durch. Ein französisches Sprichwort fiel mir ein, das mich in meinem Entschluß bestärkte: »Celui qui veut, celui-là peut.« Ich beschloß, mich von meiner Vernunft und nicht von meinen Begierden leiten zu lassen.


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