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Kapitel XI.
Schwere Zeiten

Soweit hatte ich mehr Glück, als es sonst jungen Menschen im Anfang ihres Lebens zufällt. Jetzt sollte ich die Pechsträhne erleben und die Feuerprüfung durchmachen. Ich war mit meinen eigenen Angelegenheiten so beschäftigt, daß ich mich kaum um die öffentlichen Ereignisse gekümmert hatte. Nun war ich gezwungen, mein Blickfeld zu erweitern.

Eines Tages sagte mir Kate, Willie sei mit den Zahlungen im Rückstande. Er sei wieder zum Diakon Conklin auf der andern Seite des Kaw-Flusses gezogen, und ich nahm natürlich an, daß er vorher alles bezahlt hatte. Ich stellte nun fest, daß er Gregorys sechzig Dollar für sich und noch mehr für mich schuldig blieb.

Ich stürzte wütend zu ihm hin. Wenn er es mir offen gesagt hätte, wäre es nicht so schlimm gewesen. Aber ich haßte ihn, weil er es Gregorys überließ, es mir mitzuteilen. Und damals kannte ich nicht einmal das ganze Ausmaß seines Egoismus. Jahre später erzählte mir meine Schwester, daß er immer wieder an meinen Vater geschrieben hatte, um von ihm unter der Vorspiegelung, daß ich studierte und nichts verdienen konnte, Geld herauszuziehen. »Willie hat uns arm gegessen, Frank«, sagte sie. Wenn ich es nur damals gewußt hätte ...

Ich fand ihn in einer üblen Situation. Er hatte sich in seinem Optimismus vergaloppiert, hatte in den Jahren 1871 und 1872 Grundstücke gekauft, hohe Hypotheken aufgenommen, und, da die Konjunktur günstig war, wiederholte er dieses Spiel, bis er auf dem Papier hunderttausend Dollar besaß. Dies hatte er damals ausgerechnet, und ich war sehr froh um seinetwillen. Es war leicht ersichtlich, daß die Konjunktur und die Inflationsperiode zuerst auf dem außerordentlichen Wachstum des Landes durch die Einwanderung und den Handelsverkehr nach dem Bürgerkriege basiert war. Aber der deutsch-französische Krieg hatte das Vermögen verwüstet, den Verkehr gestört und den Handel in neue Kanäle geleitet. Frankreich und später England fühlten zuerst die Erschütterung. London mußte das Geld zurückverlangen, das in amerikanischen Eisenbahnen und anderen Unternehmungen steckte. Langsam bröckelte sogar der amerikanische Optimismus ab, denn die Einwanderung ließ in den Jahren 1871 und 1872 nach, und die Kreditkündigungen erschöpften unsere Banken. Der Krach kam im Jahre 1873. Etwas Ähnliches haben die Staaten erst im Jahre 1907 erlebt, als der Zusammenbruch zu der Gründung der Federal Reserve Bank führte.

Willies Vermögen schmolz im Nu. Diese und jene Hypothek mußte zurückbezahlt werden, und zwar mußten Zwangsversteigerungen stattfinden, bei denen die Häuser zu Minimalwerten fortgingen. Er war verzweifelt: Kein Geld, keinen Besitz, alles war verloren! Das Ergebnis der dreijährigen, harten Arbeit und der erfolgreichen Spekulation war hinweggefegt. Könnte ich ihm denn helfen? Wenn nicht, so war er verloren. Er sagte mir, er hätte schon alles aus unserm Vater herausgepreßt, was er konnte. Selbstverständlich versprach ich, ihm zu helfen. Aber zuerst mußte ich den Gregorys bezahlen. Und zu meiner Verblüffung bat er mich, statt dessen ihm das Geld zu geben. »Frau Gregory und die andern haben dich so gern, sie können warten, ich nicht. Ich kenne ein Geschäft, an dem ich wieder reich werden könnte.«

Ich begriff, wie durch und durch egoistisch er war, wie gewissenlos in seinem Eigennutz. Ich gab die letzte Hoffnung auf Rückzahlung auf. Von jener Stunde an war er für mich ein Fremder, den ich nicht einmal achten konnte, obwohl er gewisse einschmeichelnde Eigenschaften besaß.

Als ich nach Hause ging, traf ich Rose. Sie sah hübscher denn je aus, und ich ging ein Stück mit ihr und begeisterte mich für ihre Schönheit. Und sie verdiente das Lob wirklich. Ich erinnere mich noch heute daran, wie ihre kurzen grünen Ärmel ihre runden, weißen Arme hervorhoben. Ich versprach, ihr einige Bücher zu schicken, und war über ihre warme Dankbarkeit erstaunt. In ihren Blicken lag eine Andeutung einer wärmeren Beziehung für die Zukunft.

An diesem Abend zahlte ich Gregorys meine und Willies Schuld und – schickte ihm nicht den Rest des Geldes, wie ich versprochen hatte, schrieb ihm nur, daß ich es vorgezogen hätte, seine Schuld bei Gregorys zu tilgen.

Am nächsten Tage kam er an und versicherte mir, daß er auf mein Versprechen hin sich zu Zahlungen verpflichtet und ungefähr hundert Lattenkisten Küken gekauft hätte, um sie nach Denver zu verschicken. Er war bereits im Besitz eines Angebots vom Bürgermeister von Denver, der ihm das Doppelte zahlen wollte. Nachdem ich die Briefe und das Telegramm gelesen hatte, gab ich ihm vierhundert Dollar, mein letztes Geld, und mußte mich nun in den nächsten Monaten kümmerlich durchschlagen. Das Geschäft mit den Küken nahm eine üble Wendung, Willie wurde von dem Verkäufer betrogen, und ich habe nicht einen Pfennig von meinem Gelde wiedergesehen.

Wenn ich zurückblicke, verstehe ich, daß es wahrscheinlich die Geschäftsstille des Jahres 1873 war, die Mayhew dazu brachte, nach Denver zu gehen. Nach ihrer Abreise erging es mir sehr übel. Ich konnte keine Arbeit finden, trotzdem ich alles versuchte. Überall traf ich auf die Entschuldigung: »schwere Zeiten, schwere Zeiten«. Schließlich verdingte ich mich als Kellner im Eldridge-Haus – es war die einzige Beschäftigung, die ich finden konnte, um meine Nachmittage für die Universitätsarbeit frei zu haben. Smith war sehr unzufrieden über diese neue Wendung und wollte für mich bald etwas Besseres finden. Frau Gregory nahm es mir sehr übel – wohl aus Snobismus. Von diesem Augenblick an hatte ich es mit ihr verdorben, und sie versuchte auch meinen Einfluß bei Kate zu unterminieren. Ich wußte, daß ich auch in der öffentlichen Meinung gesunken war, aber es sollte nicht lange dauern.

Eines Tages im Herbst stellte mich Smith Herrn Rankin vor, dem Kassierer der First National Bank, der mir sofort die Vermietung der Liberty Hall überließ, des einzigen Saales in der Stadt, der tausend Leute faßte. Der Saal hatte auch eine Bühne und konnte für Theatervorstellungen verwendet werden. Ich gab meine Stellung im Eldridge-Haus auf und saß nun jeden Nachmittag von zwei bis sieben im Bureau der Liberty Hall und gab mir alle Mühe, den Saal an die Agenten verschiedener Wandertruppen oder Vortragenden so günstig wie möglich zu vermieten. Ich bekam dafür sechzig Dollar monatlich, und eines Tages kam mir ein Erlebnis in den Weg, das mein ganzes Leben veränderte, denn es zeigte mir, wie ein intelligenter Mensch auf dieser Welt zu Geld kommen kann.

Eines Tages kam der Agent der Hatherly-Truppe in mein Zimmer und warf mir seine Karte auf den Tisch.

»Dieses schäbige Nest sollte sich doch begraben lassen.«

»Was ist denn los?« fragte ich. – »Was los ist!« brauste er auf. »Ich glaube nicht, daß in dieser ganzen gottverdammten Stadt eine Stelle ist, auf der wir unser Geld loswerden können. Und ich wollte doch zehntausend Dollar für die Reklame der großen Hatherly-Truppe, der größten Truppe der Welt, ausgeben. Sie wird hier ganze vierzehn Tage gastieren – und bei Gott, die Leute wollen mein Geld nicht haben. Sie wollen kein Geld in diesem gottverlassenen Loch ...«

Der Kerl machte mir Spaß. Er war so von sich durchdrungen, daß er mir gefiel. Ich war an jenem Tage zufällig lange auf der Universität geblieben und hatte das Essen bei Gregorys versäumt. Ich hatte einen Bärenhunger und fragte Herrn Dingwall, ob er gegessen hätte.

»Nein, mein Herr,« antwortete er, »kann man denn in diesem Nest was zu essen kriegen?«

»Ich nehme an«, erwiderte ich. »Wenn Sie mir die Ehre geben, mein Gast zu sein, will ich Ihnen wenigstens ein gutes Beefsteak verschaffen.« Und ich nahm ihn ins Eldridge-Haus herüber. Ich gab ihm das beste Essen, das ich auftreiben konnte, und holte allmählich alles aus ihm heraus. Er war wirklich ein Quecksilber, wie er sich selber nannte. Und plötzlich, angesteckt von seinem Optimismus, kam mir der Gedanke, daß, wenn er die zehntausend Dollar, von denen er gesprochen hatte, deponieren würde, ich auf allen leeren Grundstücken in der Massachusetts Street Zäune aufstellen lassen könnte, um die Plakate der verschiedenen in Lawrence gastierenden Truppen anzuschlagen. Es war nicht zum ersten Male, daß ich herangezogen wurde, um dieser oder jener Unternehmung bei der Propaganda zu helfen. Ich wagte mich schüchtern mit meiner Idee heraus, aber Dingwall nahm sie sofort auf. »Wenn Sie mir eine gute Sicherheit geben können, werde ich Ihnen fünftausend Dollar zurücklassen. Ich habe eigentlich kein Recht dazu, aber Sie gefallen mir, und ich will es riskieren.«

Ich nahm ihn zu Herrn Rankin, dem Bankier, mit, der mir ein gütiges Ohr lieh und schließlich die Garantie für mich übernahm, daß ich auf allen Hauptstraßen, auf sofort zu errichtenden Bauzäunen, tausend Plakate innerhalb von vierzehn Tagen anschlagen lassen würde, unter der Bedingung, daß Herr Dingwall die fünftausend Dollar im voraus auszahlte.

Dingwall fuhr mit dem nächsten Zuge nach dem Westen ab, und ich ging daran, die Bauzäune zu errichten, nachdem ich mir von den Grundstücksbesitzern durch meinen Bruder Willie, der sie alle kannte, die Erlaubnis verschafft hatte. Dann nahm ich mir einen kleinen, englischen Zimmermann und ließ die Bauzäune aufstellen, und schon drei Tage vor dem verabredeten Datum waren die Plakate angeschlagen. Die Hatherly-Truppe hatte einen großen Erfolg, und jeder war zufrieden. Von diesem Augenblicke an bezog ich trotz der schlechten Konjunktur fünfzig Dollar in der Woche als Reingewinn von der Vermietung der Bauzäune.

Plötzlich bekam Smith eine schwere Erkältung. Lawrence liegt ungefähr tausend Fuß über dem Meeresspiegel, und im Winter kann es dort so eisig kalt sein wie am Pol. Er begann zu husten es war ein häßlicher, trockener, abgehackter Husten. Ich brachte ihn endlich dazu, einen Arzt aufzusuchen, der Tuberkulose konstatierte und eine sofortige Veränderung des Klimas empfahl. Da man Smith eine Redakteurstellung in der »Press« in Philadelphia anbot, verließ er Lawrence sofort und ließ sich in der Quäkerstadt nieder.

Seine Abreise übte eine seltsame Wirkung auf mich aus. Sobald er abgereist war, revidierte ich in Gedanken alles, was ich von ihm gelernt hatte, hauptsächlich in der Nationalökonomie und Metaphysik. Ich kam allmählich zu der Schlußfolgerung, daß sein marxistischer Kommunismus nur die Hälfte der Wahrheit, und wahrscheinlich die weniger wichtige Hälfte, bildete. Auch sein Hegelianismus, den ich kaum erwähnt hatte, war meiner Ansicht nach reiner Mondschein, zuweilen von außerordentlicher Schönheit, wie der Mond, wenn er von silbergesäumten, violetten Wolken umgeben ist: »Die Geschichte ist die Entwicklung des Geistes in der Zeit, die Natur die Projektion der Idee im Raume«, klingt wunderbar, aber es ist Mondscheinflimmer, der nicht viel zum Verständnis beiträgt.

In den ersten drei Monaten nach Smiths Abreise schoß meine Individualität hervor wie ein Sproß, der zu lange von einem übermäßigen Gewicht überwuchtet worden war, und ich wuchs mit erneuter Jugendfülle. Nun zum ersten Male, mit neunzehn Jahren, erreichte ich mein Selbstbewußtsein als Frank Harris und begann mein Leben auf meine eigene Weise und unter dem Namen Frank zu leben.

Ich sollte es bald erfahren, wie unangenehm das Leben sein konnte.

Die Universität von Kansas war von den ersten westlichen Auswanderern gegründet worden, die wie die meisten Pioniere Geist und Mut besaßen und infolgedessen in die Statuten aufnehmen ließen, daß kein religiöser Unterricht auf der Universität erteilt werden sollte, geschweige denn die Religionsfrage zu einem Prüfstein oder einer Qualifikation erhoben werden.

Aber allmählich überschwemmten die Yankees aus Neu-England Kansas, um es zu verhindern, zu einem Sklavenstaat zu werden, und diese Yankees waren alle fanatische Christen jeder erdenklichen Sektenfärbung. Sie zeichneten sich jedoch ohne Unterschied durch eine Bigotterie und Intoleranz in allen religiösen und geschlechtlichen Dingen aus. Ihre Ehrlichkeit war keinesfalls so auffallend, wie sie es verkündeten. Jede Sekte hatte ihren eigenen Professor. Die Geschichte fiel einem anglikanischen Geistlichen zu, der nichts von Geschichte wußte, das Latein einem Baptisten, der, als Smith ihn auf Latein begrüßte, rot wurde und ihn bat, seine schamlose Ignoranz nicht bloßzustellen, die Dame, die Französisch lehrte, war ein Witz, aber sonst eine gute Methodistin, und so weiter. Die Ausbildung wurde von Sektenneid und Eifersüchteleien degradiert.

Sobald Professor Smith die Universität verlassen hatte, nahm die Fakultät eine Resolution an, die in Nachahmung einer englischen Universitätssitte die Gründung einer sogenannten College-Kapelle empfahl. Ich schrieb sofort an die Fakultät und protestierte dagegen unter Anführung der Statuten der Begründer. Die Fakultät gab auf meinen Brief keine Antwort. Statt jedoch die Kapelle formell zu gründen, versammelte man die Studentenschaft zu einer Verlesung der Namen, und als sämtliche Hörer beim namentlichen Aufruf beisammen waren, verschloß man die Türen und begann mit Gebeten, die in einem Hymnus endeten.

Nach dem Namensaufruf stand ich auf, ging zur Tür und versuchte vergeblich, sie aufzumachen. Glücklicherweise bestand die Tür auf dieser Seite des Saales aus dünnen, zerbrechlichen Holzbrettern. Ich trat einen Schritt zurück und wendete mich noch einmal an die Professoren auf dem Podium, da sie jedoch nicht auf mich achteten, stürzte ich auf die Tür, schlug mit dem Fuß gegen die Klinke, und die Tür sprang krachend auf.

Am nächsten Tage wurde ich durch einmütigen Beschluß der Fakultät aus der Universität ausgewiesen und konnte mich nun der praktischen Rechtsanwaltsarbeit widmen. Der Richter Stevens sagte mir, er würde an meiner Stelle eine Klage gegen die Fakultät einbringen, denn er sei sicher, daß man mich wieder aufnehmen und mir Genugtuung geben würde. Aber die Universität ohne Smith bedeutete für mich weniger als nichts, und warum sollte ich meine Zeit im Kampf gegen hirnverbrannte Frömmler verschwenden? Damals wußte ich noch nicht, daß es das Hauptwerk meines Lebens bilden sollte. Aber zuerst überließ ich meinen Feinden den Sieg und das Feld, wie es vielleicht letzten Endes bei dem ganzen Kampf meines Daseins der Fall sein wird.

Ich beschloß, mich der Jurisprudenz zu widmen, und bat Barker von »Barker und Sommerfeld«, mich in seinem Bureau studieren zu lassen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich ihn kennenlernte; aber Barker, ein gewaltiger, fetter Kerl, berühmter Advokat, war ohne jede besondere Ursache immer sehr liebenswürdig zu mir gewesen. Sommerfeld war ein schlanker, blonder, deutsch aussehender Jude, seltsam einsilbig und schweigsam; aber er war ein ausgezeichneter Rechtsanwalt und ein gütiger, anständiger Mensch, der sich der Achtung aller Deutschen und Juden in der Grafschaft Douglas erfreute, wohl auch, weil sein dicker, kleiner Vater zu den frühesten Siedlern in Lawrence gehörte und als Kaufmann einen großen Erfolg buchen konnte. Er hatte in diesen frühen Kampftagen einen großen Lebensmittelladen eröffnet und half seinen Landsleuten mit Rat und Tat immer aus.

Es war eine wunderbare Partnerschaft. Sommerfeld verhandelte mit den Klienten und bereitete die Schriftsätze vor, während Barker die Vertretung vor dem Gericht übernahm, wo er mit einem gewissen unerschütterlichen Humor sprach, den ich später nur noch einmal bei einem berüchtigten Engländer, Bottomley, gesehen hatte. Barker spielte vor dem Gerichtshof den allgemeinen Menschenverstand und die Gutmütigkeit aus und gewann auf diese Weise selbst verzweifelte Fälle.

Etwas später bekam ich traurige Nachrichten von Smith. Sein Husten hatte sich nicht gebessert, und er entbehrte unser Zusammensein. Aus seinem Briefe klang eine Hoffnungslosigkeit heraus, die mich tief rührte. Aber was konnte ich tun? Ich konnte nur weiter in meinem Bureau so schwer, wie es ging, arbeiten und jeden freien Moment dazu verwenden, mein Einkommen zu erhöhen.

Eines Abends rannte ich Lily fast in die Arme. Kate war damals verreist, und so freute ich mich über die Begegnung, denn Lily hatte mich ja immer interessiert. Nach der ersten Begrüßung sagte sie mir, sie ginge nach Hause. »Meine Leute sind alle ausgegangen«, fügte sie hinzu. Ich bot ihr daher sofort meine Begleitung an. Es war im Anfang des Sommers, jedoch schon warm genug, und als wir in den Salon kamen und Lily sich aufs Sofa setzte, zeichneten sich unter dem dünnen, weißen Kleide ihre schlanken Glieder verführerisch ab.

»Was tun Sie denn jetzt,« fragte sie boshaft, »nachdem die liebe Frau Mayhew fort ist? Sie müssen sie sehr vermissen.«

»Ja, das tue ich auch«, sagte ich kühn. »Ich möchte gern wissen, ob Sie Mut genug haben, um mir die Wahrheit zu sagen.«

»Mut?« Sie faltete die Stirn und kräuselte ihre breiten Lippen. »Und ob ich Mut habe!«

»Haben Sie je an der Tür von Frau Mayhews Schlafzimmer gestanden, als ich mir dort einmal ein Buch holte?« fragte ich. Ihre schwarzen Augen tanzten, und sie lachte ein wissendes Lachen. »Frau Mayhew sagte mir, sie hätte Sie nach oben genommen, um Ihnen nach dem Tanzen Umschläge zu machen,« erwiderte sie verächtlich, »aber ich kümmerte mich nicht darum. Es geht mich ja nichts an, was Sie machen.«

»Selbstverständlich«, sagte ich, zum Angriff übergehend. – »Wie denn?« fragte sie. – »Sie haben mich doch am ersten Tage allein gelassen, als es mir wirklich schlecht ging, und so glaubte ich, daß Sie mich nicht ausstehen könnten, obwohl ich Sie so schön finde.«

»Ich bin nicht schön, mein Mund ist zu groß, und ich bin zu schlank.«

»Lästern Sie nicht«, erwiderte ich ernst. »Gerade darum wirken Sie so aufreizend auf Männer.«

»Wirklich?« rief sie aus, während ich mir mein Hirn zermarterte, um eine Gelegenheit auszusinnen, und dabei in ständiger Angst vor der Rückkehr ihrer Eltern war. Als ich auf keinen Ausweg kam, stand ich auf, wütend auf mich selbst, und verabschiedete mich. Sie begleitete mich bis an die Treppe. Ich ging eine Stufe herunter, wandte mich dann um und packte sie in die Arme.

»Lassen Sie mich los«, schrie sie, jedoch ohne großen Zornaufwand.

Ich zog ihren Kopf an mich heran. »Wie ich dich begehre«, flüsterte ich brennend vor Verlangen. (Ich fühlte, wie erregt sie war.) Meine Hände wanderten an ihrer schmalen, fast kindlichen Gestalt entlang, und mir fiel auf, daß die gewisse Kindlichkeit ihres Geistes im Einklang mit den bezaubernden, unentwickelten Linien ihres Körpers stand. Wir verabredeten, uns am nächsten Tag in der Nähe der Kirche zu treffen. Ich wußte, ich würde sie von dort leicht dazu bringen können, mit mir auf mein Zimmer zu kommen, und so verabschiedete ich mich, denn es war spät, und es lag mir nicht besonders daran, ihren Angehörigen zu begegnen.

Am nächsten Tage traf ich Lily an der Kirche und nahm sie auf mein Zimmer mit. Sie lachte auf vor Freude, als wir eintraten. Sie war fast wie ein kleiner Bub in ihrer übermütigen Abenteuerlust. Sie gestand mir, daß es meine Herausforderung ihres Mutes war, die sie gewonnen hatte. »Ich hab' mich nie richtig getraut«, und sie schüttelte ihr blauschwarzes Köpfchen.

Im Nu fielen ihre Kleider zu Boden. Meine Pulse hämmerten, und mein Mund war wie ausgedörrt. Sie war von einer erregenden Schönheit, sehr schlank, mit kleinen Brüsten und schmalen, abfallenden Hüften. Sie war von dem jugendlichen Typus, der mich immer mehr reizen sollte. Je älter ich wurde, desto mehr nahm meine Liebe für üppige Frauengestalten ab, und die schlanken, jugendlichen Körper gefielen mir immer mehr. Welch einen ungesättigten Hunger gesteht Rubens in seinen Venusgestalten mit den großen, hängenden Brüsten und den ungeschlachten, rosigen, fetten Gliedern ein.

Ich hob Lilys kleinen Körper empor und zerdrückte ihren Mund mit meinen Lippen. Sie war seltsam tantalisierend und erregend wie ein berauschendes Getränk.

Die Hast dieser Erzählung hat viele unvorhergesehene Schattenseiten. Es scheint, als ob ich eine Eroberung nach der andern gemacht hätte, und von einem Siege zum andern geschritten wäre. In Wirklichkeit ist das halbe Dutzend meiner Liebessiege über fast ebenso viele Jahre verstreut, und immer wieder traf ich auf Zurückweisungen und Weigerungen, die genügten, um meine Eitelkeit in anständigen Grenzen zu halten. Ich will hier nur die Tatsache hervorheben, daß der Erfolg in der Liebe, wie auch der Erfolg überall im Leben, gewöhnlich dem zähen Menschen zufällt, der in seinen Bemühungen nicht ermüdet. Es ist nicht der hübscheste und nicht der virilste Mann, der den größten Erfolg bei Frauen hat, obwohl beide Eigenschaften einem den Weg erleichtern, sondern der unermüdlichste, der den Frauen am klügsten zu schmeicheln weiß, das Nein immer für eine Einwilligung nimmt und sich durch Zurückweisungen nicht verstimmen läßt. Und doch könnte ich ein Dutzend von Beispielen anführen, in denen Unermüdlichkeit und Schmeichelei und der ganze Apparat der Liebeswerbung erfolglos blieben. Ich würde nie mit Shakespeare sagen: »Der ist kein Mann, der nicht eine Frau zu gewinnen vermag.« Ich habe im allgemeinen gefunden, daß die Frauen, die am leichtesten zu gewinnen waren, sich auch als die wertvollsten für mich erwiesen; denn die Frauen haben einen feineren Sinn, für die gegenseitige Eignung in der Liebe als der Mann ...

Im Anfang des Herbstes kam Bradlaugh, um in der Liberty Hall eine Vorlesung über die französische Revolution zu halten. – Er war ein Riese von einem Menschen, mit einem großen Kopf, roh behauenen, unregelmäßigen Zügen und einer Stentorstimme. Man könnte sich keine bessere Gestalt eines Rebellen denken. Ich wußte, daß er jahrelang in der englischen Armee gedient hatte. Ich fand bald, daß er, trotz seiner leidenschaftlichen Empörung gegen die christliche Religion mit ihren ganzen billigen moralischen Konventionen, ein überzeugter Individualist war, der nichts Schlimmes in der Tyrannei des Geldes sah, die sich bereits in England festgewurzelt hatte und die Carlyle am Schluß seiner »Französischen Revolution« als das schlimmste Despotentum verurteilte. Bradlaughs Rede zeigte mir, daß ein bekannter und volkstümlicher Mensch, ernst, begabt und auch intellektuell ehrlich, in einer Hinsicht seiner Zeit um fünfzig Jahre voraus und auf einem anderen gedanklichen Gebiet um fünfzig Jahre im Rückstand sein kann. In dem großen Konflikt unserer Zeit zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen spielte Bradlaugh keine Rolle. Er verschwendete seine große Kraft auf einen vergeblichen Angriff der mürben Zweige des christlichen Baumes, während er besser getan hätte, den Geist Jesu zu assimilieren und durch ihn seine unerschrockene Wahrhaftigkeit zu stützen.

Als das Jahr fortschritt, wurden Smiths Briefe immer dringlicher. Und da ich nun durch meine Reklameplakate genug Geld zurückgelegt hatte, entschloß ich mich, zu ihm nach Philadelphia zu gehen.


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