Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel IX.
Studentenleben und Liebe

Diese Eisenbahnfahrt nach Lawrence Kansas ist so lebendig in meiner Erinnerung, als ob es gestern gewesen wäre, und doch sind bereits mehr als fünfzig Jahre verflossen. Es war ein glühend heißer Tag, und mir gegenüber saß ein alter, grauhaariger Mann, den die Hitze furchtbar zu plagen schien. Er bewegte sich rastlos hin und her, betupfte sich die Stirn, zog die Jacke aus und ging schließlich hinaus, wahrscheinlich auf die offene Plattform, und ließ zwei Bücher auf seinem Sitz zurück. Ich nahm sie achtlos in die Hand. Das eine war »Das Leben und der Tod Jasons« von William Morris. Ich las einige Seiten, staunte über die spielerische Leichtigkeit der Reime, war jedoch nicht genug interessiert und griff daher nach dem anderen Bande. »Laus Veneris«, Gedichte und Balladen von Algernon Charles Swinburne. Es blätterte sich bei der Anactoria auf, und im Augenblick war ich vollkommen überwältigt. Nie vorher oder nachher hatte die Poesie auf mich einen derartigen Eindruck gemacht. Venus selbst sprach in den Zeilen:

»Ach, daß nicht Mond, nicht Schnee, nicht Tau mich ganz
Durchschauern kann, noch sonst kühlweißer Glanz
Mich leise lindernd sanft und kühl umfaßt,
Bis tiefer Schlaf mir bringt blutlose Rast,
Bis Zeit in eigner Fülle sich ertränkt,
Bis Schicksal auch der Götter Fesseln sprengt
Und mir, wie Tau mich klärt und ganz durchträuft,
Lotus und Lethe auf die Lippen häuft
Und auf und über mich gießt, und um mich her
Grabdunkle Nacht und unbezwinglich Meer.« Übersetzt v. Walter Unus. A. Ch. Swinburne: Balladen. Verlag Erich Reiß, Berlin.

Die Musik und Leidenschaft dieser Verse rührte an die tiefsten Tiefen meiner Seele, die letzten Zeilen des »Leprösen« brachten mir heiße Tränen in die Augen, und im Garten der Proserpina hörte ich meine eigene Seele mit göttlicher, wenn auch hoffnungsloser Überzeugung sprechen. Hat es je etwas Ähnliches gegeben? Ich war bis ins Innerste ergriffen. Ich brauchte die Verse nicht zweimal zu lesen. Ich habe sie seitdem nie wieder gesehen. Ich werde sie nie vergessen, solange mein Mechanismus arbeitet. Meine Augen waren voll Tränen, mein Herz von leidenschaftlicher Bewunderung überflutet. In diesem Zustand fand mich der alte Herr, mich, einen Cowboy, allem Anschein nach, mit tränenfeuchten Augen in Swinburne verloren.

»Ich glaube, das ist mein Buch«, sagte er, mich in die Wirklichkeit zurückrufend. »Selbstverständlich,« verneigte ich mich, »wie herrlich sind diese Gedichte! Ich hatte nie vorher von Swinburne gehört.« – »Es ist, glaube ich, sein erstes Buch,« meinte der alte Herr, »es freut mich, daß seine Gedichte Ihnen gefallen.« »Gefallen,« rief ich aus, »wer sollte nicht davon erschüttert sein!« Die Zeilen aus der »Proserpina« drängten sich auf meine Lippen:

»Von zuviel Lebensliebe,
Von Angst und Hoffen frei,
Wollen wir danken und beten,
Zu welchem Gott es sei,
Daß Leben nicht währt ewig,
Daß Tote nie erstehn
Und selbst die trägsten Flüsse
Zum Meere sicher gehn.«

»Sie haben es auswendig gelernt?« rief der alte Mann erstaunt aus. »Gelernt!« erwiderte ich, »ich kenne das halbe Buch auswendig. Wenn Sie eine halbe Stunde länger weggeblieben wären, hätte ich das Ganze gekonnt«, und ich fuhr fort zu rezitieren.

»So etwas ist mir noch nie vorgekommen: ein Cowboy, der Swinburne nach einmaligem Lesen auswendig kennt. Es ist erstaunlich! Wohin fahren Sie?« – »Nach Lawrence«, erwiderte ich. »Wir sind schon da, erlauben Sie mir, Ihnen das Buch zu geben. Ich kann mir ein anderes Exemplar beschaffen, und Sie sollten wirklich eins besitzen.«

Ich dankte ihm von Herzen, und einige Minuten später stand ich auf dem Bahnhof in Lawrence, der damals ebenso weit außerhalb der Stadt lag wie heute, und hielt meinen Swinburne in der Hand. Ich führe diese Geschichte an, und zwar nicht, um mich meines Gedächtnisses zu rühmen – denn alle Talente sind einem nur Hindernisse im Wege –, sondern um zu zeigen, wie gut die westlichen Amerikaner der Jugend gegenüber waren, und um die unwiderstehliche, einzigartige Wirkung Swinburnes auf die Jugend zu schildern, die, soweit es mir bekannt ist, nie vorher in diesem Ausmaß dargestellt worden ist.

In einem bequemen Zimmer im Eldridge-Haus in der Hauptstraße von Lawrence traf ich meinen Bruder. Willie war über mein Aussehen betrübt. »Du bist ja gelb wie ein Dukaten – aber wie du gewachsen bist!« rief er aus. »Du bist viel größer, aber du siehst krank aus, sehr krank.«

Er sah wie die leibhaftige Gesundheit aus und noch hübscher, als ich ihn in Erinnerung hatte. Fünf Fuß zehn hoch, eine gute Gestalt und ein hübsches, dunkles Gesicht. Das Haar, der kleine Schnurrbart und das Ziegenbärtchen jettschwarz, eine schmale, dünne Nase und herrliche, lange, haselnußbraune Augen mit schwarzen Wimpern. Er hätte Modell für einen griechischen Gott stehen können, wenn nicht seine Stirn zu schmal und die Augen zu eng aneinandergesetzt gewesen wären.

In drei Monaten war er zu einem begeisterten Amerikaner geworden. »Amerika ist das größte Land der Welt«, versicherte er mir aus seiner abgründigen Unkenntnis heraus. »Jeder junge Mensch, der arbeitet, kann hier zu Geld kommen. Wenn ich etwas Kapital hätte, würde ich in wenigen Jahren reich sein. Es ist das Kapital, das mir fehlt, nichts weiter.« Nachdem er von mir meine Geschichte entlockt hatte, hauptsächlich die letzte Phase der Geldteilung unter die Cowboys, erklärte er mich für verrückt. »Mit fünftausend Dollar«, rief er aus, »könnte ich in drei Jahren reich sein und in zehn ein Millionär. Du mußt verrückt sein. Weißt du denn nicht, daß jeder auf dieser Welt für sich selbst zu sorgen hat? Großer Gott, ich habe so etwas Irrsinniges noch nicht erlebt. Wenn ich es nur gewußt hätte!«

Einige Tage lang beobachtete ich ihn genau und kam zu der Schlußfolgerung, daß er sich vollkommen für seine Umgebung eignete und alle Voraussetzungen besaß, darin Erfolg zu haben. Er war ein gläubiger Christ, in einer Baptistenkirche bekehrt und getauft, er hatte eine ganz hübsche Tenorstimme und war Vorsänger im Chor, er schluckte ohne weiteres jeden Blödsinn des unwahrscheinlichen Glaubens hinunter, aber er verdankte ihm auch wertvolle moralische Stützen, er trank und rauchte nicht, war Nazarener und hatte die Keuschheit geschworen.

Die Lehre Jesu selbst hatte kaum eine praktische Wirkung auf ihn. Er tat sie als Ratschläge für eine unmögliche Vollkommenheit ab, und wie die große Mehrheit der Amerikaner bekannte er sich zu einer kindischen, paulinisch deutschen Moral, während er die Pflicht der Vergebung verachtete und das Evangelium der Liebe für lächerlich hielt.

Einige Tage nach unserer ersten Begegnung schlug mir Willie vor, ihm tausend Dollar gegen fünfundzwanzigprozentige Zinsen zu leihen. Als ich mich gegen diesen Wucherzins wehrte, da zwölf Prozent der höchste staatliche Diskontsatz war, sagte er mir, er könnte gut eine Million Dollar, wenn er sie hätte, zu drei bis fünf Prozent monatlich gegen vollkommene Sicherheit verleihen. »Ich kann dir ohne weiteres«, schloß er, »zweihundertfünfzig Dollar jährlich für deine tausend Dollar zahlen. Man kann hier Grundstücke kaufen, die in dem einen Jahr um fünfzig Prozent steigen. Und das Land steht gerade im Beginn seiner Entwicklung«, und so weiter im wildesten Optimismus. Das Ende davon war, daß er meine tausend Dollar bekam und mir fünfhundert zurückblieben. Da ich jedoch in einer guten Pension für vier Dollar die Woche leben konnte, rechnete ich damit, daß ich schlimmstenfalls ein sorgenfreies Jahr vor mir hatte, und wenn Willie wirklich sein Versprechen hielt, konnte ich auf Jahre hinaus leben, wie es mir gefiel.

Es war jedoch geschrieben, daß ich in Lawrence etwas viel Bedeutungsvolleres erleben sollte als die Begegnung mit meinem Bruder. »Die Ereignisse werfen ihren Schatten voraus«, ist ein poetisches Sprichwort, das jedoch nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, denn große Ereignisse brechen plötzlich herein.

Eines Abends ging ich zu einer politischen Versammlung in der Liberty Hall in der Nähe meines Hotels. Senator Ingalls und ein Kongreßmitglied sollten über die Granger-Bewegung sprechen, den ersten Versuch der westlichen Farmer, politisch auf die Ausbeutung der Wall-Street zu reagieren. Der Saal war gedrängt voll. Gerade hinter mir saß ein Mann zwischen zwei hübschen, grauäugigen Mädchen. Das Gesicht des Mannes zog mich auf den ersten Blick an. Ich wäre imstande, ihn zu malen, denn während ich diese Worte schreibe, steht sein Gesicht so lebendig vor mir, als ob die vielen Jahre, die uns trennen, nur ein momentanes Schließen der Augen wären.

Er hatte große, haselnußbraune Augen, weit gestellt unter den weißen, überhängenden Brauen, und die Koteletts waren kastanienbraun mit rötlichen Lichtern. Es waren jedoch seine Augen, die mich anzogen und faszinierten, denn sie leuchteten, wie ich noch nie Augen leuchten sah, ehrliche offene Augen von einer unsagbaren, unveränderlichen Güte. Aber sein Anzug, ein schwarzer Gehrock, mit einem niedrigen, weißen Kragen und einer schmalen, schwarzen Seidenkrawatte, rief meine ganze englische, snobistische Verachtung heraus. Beide Mädchen, Schwestern dem Anscheine nach, umschwärmten ihn mit aller Liebenswürdigkeit, die ihnen zu Gebote stand, wie ich mit neidisch scheelen Blicken feststellte.

Senator Ingalls hielt die gewöhnliche Rede. Die Farmer hätten recht, sich zusammenzuschließen, aber die Geldgeber seien übermächtig, und schließlich seien Farmer wie auch Bankiers Amerikaner. Amerikaner in erster Linie, Amerikaner über alles. (Großer Applaus!) Das Kongreßmitglied servierte denselben patriotischen Unsinn, und dann wurde im ganzen Saal laut nach Professor Smith gerufen. Ich hörte, wie hinter mir eifrig geflüstert wurde, und als ich mich halb umdrehte, erriet ich, daß der gutaussehende junge Mann Professor Smith war, denn seine beiden Bewunderinnen versuchten, ihn zu überreden, auf das Podium zu steigen, um die Hörer zu faszinieren. Nach kurzer Zeit stand er inmitten eines großen Applauses auf. Er war groß und schlank, mit breiten Schultern. Er sprach mit dünner Tenorstimme. Es sei ein »offensichtlicher« Interessenkonflikt zwischen den verarbeitenden östlichen Staaten, die einen hohen Zoll auf den gesamten Import fordern, und dem landwirtschaftlichen Westen vorhanden, der billige Waren und billige Frachten verlangte. Im wesentlichen sei es eine bloße arithmetische Frage, ein mathematisches Problem, das nach einem Kompromiß verlangt. Denn jedes Land sollte eigene verarbeitende Industrien haben und Selbstversorger sein. Die nötige Reform liegt auf der Hand. Die Bundesregierung sollte die Eisenbahnen übernehmen und sie für die Farmer in Betrieb halten, und die Konkurrenz zwischen amerikanischen Fabrikanten wird letzten Endes schon die Preise herunterdrücken.

Keiner in der Halle schien diese auf der Hand liegende Reform zu verstehen. Aber man begrüßte die Rede mit stürmischem Beifall, und ich schloß daraus, daß sich viele Studenten aus der Staatsuniversität im Saale befanden.

Ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt, als ich plötzlich, nachdem Smith auf seinen Platz zurückgekehrt war und die Mädchen ihn bis in alle Himmel priesen, aufstand und auf das Podium zuging. Ich wurde mit stürmischem Lachen begrüßt, und ich muß wirklich einen komischen Anblick geboten haben. Ich war in der Cowboykleidung, wie sie Reece und Dell trugen. Ich hatte lose Kordkniehosen, bis zum Knie reichende Stulpenstiefel und eine wildlederne Bluse, die in die Kniehosen gesteckt war. Regen und Sonne hatten Spuren auf dem Wildleder zurückgelassen, das an Hals und Armen zusammengeschrumpft war.

Durch das Lachen angespornt, eilte ich die vier Stufen bis zum Podium herauf und fragte den Bürgermeister, der Vorsitzender war, ob ich sprechen könnte.

»Sicherlich,« erwiderte er, »wie heißen Sie?«

»Mein Name ist Harris«, gab ich zur Antwort. Und der Bürgermeister, der sich anscheinend einen großen Spaß versprach, verkündete, daß ein gewisser Herr Harris eine Ansprache an die Versammlung halten möchte, und er hoffte, daß die Anwesenden ihn anhören würden, selbst wenn seine Ansichten etwas merkwürdig sein sollten. Als ich auf die Mitte des Podiums kam, schrien die Anwesenden vor Lachen auf. Das Haus konnte sich nicht beruhigen. Ich wartete eine ganze Minute lang und sagte dann: »Ganz den Amerikanern und den Demokraten ähnlich, einen Mann nach den Kleidern zu beurteilen, die er trägt, nach der Menge von Haar, die er im Gesicht hat, oder nach den Dollars in der Tasche.«

Im Augenblick entstand ein Schweigen, mindestens das Schweigen der Überraschung. Ich legte mit dem los, was ich von Mill gelernt hatte, daß die freie Konkurrenz ein Lebensgesetz sei, ein anderer Name für Existenzkampf, daß jedes Land seine Energien darauf konzentrieren sollte, jene Erzeugnisse zu schaffen, für die es sich am besten eignet, und sie gegen die Produkte anderer Nationen auszutauschen. Das sei das große ökonomische Gesetz, das Gesetz der territorialen Arbeitsteilung.

Die Amerikaner sollten Korn, Weizen und Fleisch für die Welt produzieren, sagte ich, und diese Produkte gegen die billigsten englischen Wollwaren, französische Seiden und irisches Leinen austauschen. Das würde den amerikanischen Farmer bereichern, das brachliegende amerikanische Land entwickeln und für das ganze Land tausendmal besser sein, als den Konsumenten hohe Einfuhrzölle aufzuerlegen, um einige Fabrikanten im Osten zu bereichern, die zu unfähig sind, mit Europa zu konkurrieren. Die amerikanischen Farmer sollten sich mit den Arbeitern zusammen organisieren, denn ihre Interessen sind identisch, um den Ostfabrikanten zu bekämpfen, der nichts als ein Schmarotzer sei, der sich von dem Hirn und der Arbeit anderer nährt. Und ich schloß mit folgenden Worten: »Dieses gemeinverständliche, vernünftige Programm wird weder euren Senatoren, noch euren Kongreßmitgliedern gefallen, die billige Schlagworte den Gedanken vorziehen, oder euren überklugen Professoren, die den Klassenkampf für ein ›bloßes arithmetisches Problem‹ halten« (ich imitierte die dünne Stimme des Professors), »aber es müßte mindestens von den amerikanischen Farmern angenommen werden, die genug davon haben, vom Yankee-Fabrikanten gemelkt zu werden, und es sollte als erstes Kapitel in dem neuen Evangelium der Granger-Bewegung stehen.«

Ich verneigte mich vor dem Bürgermeister und trat vom Podium. Aber die Zuhörer jubelten mir zu, und Senator Ingalls kam zu mir herüber, schüttelte mir die Hand und sagte, er hoffe mich näher kennenzulernen, und der Beifall dauerte an, bis ich auf meinen Platz zurückgelangt war. Einige Minuten später legte sich eine Hand auf meine Schulter. Als ich mich umdrehte, sagte mir Professor Smith lächelnd: »Sie haben mir eine gute Lehre gegeben! Ich eigne mich nicht zum öffentlichen Redner, und was ich sagte, klang zweifellos absurd und inkonsequent. Aber wenn Sie mal mit mir sprechen, hoffe ich, Sie zu überzeugen, wie standfest meine Theorie ist.«

»Ich zweifle nicht daran«, unterbrach ich ihn zu tiefst beschämt, daß ich einen Mann verspottet hatte, den ich nicht kannte. »Ich habe Ihre Absicht nicht erfaßt, aber ich wäre froh, mit Ihnen zu sprechen.«

»Sind Sie frei heute?« fragte er. Ich nickte. »Dann kommen Sie mit mir. Diese Damen« (er stellte mich vor) »wohnen außerhalb der Stadt. Wir werden sie in einer Droschke unterbringen und können dann miteinander sprechen.« Ich verneigte mich, wir verließen den Saal, und als die Schwestern abgefahren waren, ging ich mit Professor Smith.

Wenn ich hier eine vollkommene Schilderung dieses Gespräches geben könnte, würde diese arme Seite in Staunen, Bewunderung und liebender Ehrfurcht erglühen. Wir sprachen – oder besser gesagt, Smith sprach –, denn ich fand bald, wieviel er mehr wußte als ich. Er war imstande, meine Theorien als die Ideen Mills zu etikettieren, »eines bürgerlichen, englischen Nationalökonomen«, wie er ihn mit einer gewissen Verachtung nannte. Unvergeßlich ja heilig ist mir dieses erste Gespräch mit dem Manne, der meinem Leben eine neue Wendung gab und es mit seinem eigenen hohen Streben inspirierte. Er machte mich mit dem Kommunismus von Marx und Engels bekannt und überzeugte mich mit Leichtigkeit, daß der Boden und seine Produkte, Kohlen und Petroleum, der Allgemeinheit gehören sollten, die auch alle Industrien, die für das öffentliche Wohl notwendig sind, verwalten müßte.

Atemlos lauschte ich auf die einfache Darlegung der Theorie. Ich war von der Leidenschaft in seiner Stimme erschüttert, obwohl ich sogar damals nicht vollkommen überzeugt war. Jedes Thema, das er berührte, erschien in einem neuen Lichte. Es kam mir vor, daß er alles wußte, Deutsch und Französisch, und er konnte Latein und Griechisch so fließend wie Englisch sprechen. Ich hatte solche Kenntnisse nicht für möglich gehalten. Als ich einige Gedichte von Swinburne als den Ausdruck meines Glaubens rezitierte, kannte er sie auch. Und er trug sein Wissen so leicht wie eine bloße Hülle seines leuchtenden Geistes. Und er war schön, schön wie ein Sonnengott. Ich hatte noch nie jemanden getroffen, der sich im entferntesten mit ihm vergleichen konnte.

Die Morgendämmerung traf uns noch im Gespräch. Er erzählte mir, er sei Professor des Griechischen auf der Staatsuniversität, und er hoffte, ich würde bei ihm studieren, wenn sich die Universität im Oktober wieder eröffnete. »Ich kann Sie mir gar nicht als Cowboy vorstellen. Ein Cowboy, der Vergil und Swinburne auswendig kennt – das ist absurd. Sie müssen Ihrem Hirn die Möglichkeit des Studiums geben.«

»Ich habe zu wenig Geld«, sagte ich und bedauerte, daß ich meinem Bruder das Geld gegeben hatte.

»Ich sagte Ihnen, ich sei Sozialist,« erwiderte Smith lächelnd, »ich habe drei- oder viertausend Dollar auf der Bank. Nehmen Sie die Hälfte davon und fangen Sie an zu studieren.« Seine leuchtenden Augen ruhten auf mir. Es war dennoch wahr! Mein Herz schwoll in jubelnder Freude. Es gab noch edle Menschen auf dieser Welt, die das Geld gering achteten und für Besseres als Gold lebten.

»Ich nehme Ihr Geld nicht an«, sagte ich und fühlte Tränen in meinen Augen brennen. »In diesen demokratischen Tagen sollte jeder Hering an seinem eigenen Kopf hängen. Wenn Sie jedoch genug von mir halten, um mir diese Hilfe anzubieten, will ich anfangen. Aber ich fürchte, Sie werden enttäuscht sein, wenn Sie merken, wie wenig ich weiß. Ich bin seit meinem vierzehnten Jahre nicht auf der Schule gewesen.« – »Sie werden es schon einholen.«

Er brachte mich zur Haustür, und wir trennten uns. Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich die große, schlanke Gestalt, die leuchtenden Augen, und ich ging in eine neue, verwandelte Welt mit dem Gefühl, als ginge ich auf Wolken.

Wieder wie damals auf der Brücke waren meine Augen für die Schönheit der Natur geöffnet. Jetzt traf mich der Glanz eines einzigartigen Geistes. Welch ein Glück, einem solchen Mann begegnet zu sein. Es schien mir wirklich, als ob ein Gott mich mit seinen himmlischen Gaben verfolgte, und es kam mir der Gedanke: Dieser Mann hatte dich erwählt und gerufen, wie Jesus seine Jünger rief: »Folget Mir nach, ich will euch zu Menschenfischern machen!« Ich war bereits mit Leib und Seele dem neuen Evangelium verfallen.

Aber selbst diese Begegnung mit Smith, in der ich das höchste Glücksgefühl erlebte, wurde von einem anderen Ereignis dieser Wunderwoche beinah übertroffen. Eines Tages im Eßzimmer fiel mir ein kleiner, müder Mann in mittleren Jahren auf, dessen Frühstück aus einem Glase kochenden Wassers und einem gebratenen Apfel bestand. Zu Mittag aß er meistens Hirn und Reis oder ähnliche leichte Speisen. Als ich ihn einmal erstaunt ansah, erzählte er mir, er müßte die Nächte durchwachen und hätte eine schlechte Verdauung. Er stellte sich mir vor und lud mich ein, bei ihm Karten zu spielen. Ich erwiderte lächelnd, ich könnte reiten und schießen, aber nicht Karten spielen. Einen Tag nach meinem Gespräch mit Smith waren Mayhew, wie mein neuer Bekannter hieß, und ich spät zum Abendessen gekommen. Ich ließ mir mein gutes Abendbrot schmecken, und als er, der früher fertig war, aufstand, fragte er mich, ob ich mit ihm in seine »Bude« kommen wollte. Ich hatte nichts anderes zu tun und ging mit. Der Spielsaal lag dem Eldridge-Haus direkt gegenüber. Es war ein sauberes Lokal mit einem farbigen Mixer und Kellner, ein langer, bequem eingerichteter und hell erleuchteter Raum.

Gerade als ich mir das Lokal ansah, kam eine Dame herein. Es war Mayhews Frau, und ich wurde ihr vorgestellt. Sie war damals vielleicht achtundzwanzig oder dreißig Jahre alt, hatte eine hohe, schlanke Gestalt und ein eher interessantes als hübsches Gesicht. Sie hatte gut geschnittene Züge und große, blaugraue Augen. Sie wäre sogar schön gewesen, wenn sie ausgesprochenere Farben gehabt hätte. Mit goldenem, rotem oder schwarzem Haar wäre sie eine Schönheit gewesen. Sie war immer geschmackvoll gekleidet, und ein großer Charme lag in ihrem Wesen. Ich stellte bald fest, daß sie gern las, und da Mayhew jetzt viel zu tun hatte, fragte ich sie, ob ich sie nach Hause begleiten könnte. Sie willigte lächelnd ein, und ich begleitete sie in ihre hübsche Villa.

Als ich die Stufen heraufschritt, fielen mir ihre schmalen Knöchel und ihre langen Glieder auf. Sie nahm Mantel und Hut ab, und als sie die Arme hob, spannte sich ihr Kleid über den kleinen, runden Brüsten. Mein Blut war in Flammen, mein Mund war vor Verlangen ausgetrocknet.

»Sie sehen mich so seltsam an«, sagte sie und drehte sich vor dem langen Spiegel mit einer Herausforderung auf ihren halbgeöffneten Lippen um. Ich machte irgendeine alberne Bemerkung. Ich traute mich noch nicht, offen zu sprechen. Aber ein Band natürlicher Sympathie wob sich zwischen uns. Ich erzählte ihr, daß ich studieren wollte, und sie fragte mich, ob ich tanzen könnte. Als ich es verneinte, versprach sie, es mir beizubringen. »Ich werde eine Freundin bitten, uns eines Tages vorzuspielen. Kennen Sie die Schritte?« Sie stand auf, hob ihr Kleid und zeigte mir die Polkaschritte. »Was für hübsche Knöchel Sie haben!« bemerkte ich. Aber sie schien es nicht gehört zu haben. Wir setzten uns aufs Sofa, und ich erfuhr, daß sie sehr einsam sei. Ihr Mann sei jede Nacht und fast den ganzen Tag über weg, und sie langweile sich zu Tode in diesem stillen Hause. »Darf ich Sie einmal besuchen?« fragte ich. »Wann Sie wollen«, war ihre Antwort. Als ich aufstand, um mich zu verabschieden, sagte ich: »In Europa ist es Sitte, daß, wenn ein Mann eine schöne Frau nach Hause bringt, sie ihn durch einen Kuß belohnt ...«

»Wirklich?« höhnte sie lächelnd, »es ist keinesfalls Sitte hier.«

»Ist man hier denn weniger großzügig als dort?« fragte ich. Und im nächsten Augenblick hatte ich ihr Gesicht zwischen meine Hände gefaßt und küßte sie auf die Lippen. Sie legte ihre Hände auf meine Schultern und senkte ihren Blick in meine Augen. »Wir werden Freunde sein,« sagte sie, »ich fühlte es, als ich Sie zum ersten Male sah. Bleiben Sie nicht zu lange weg.«

»Kann ich morgen nachmittag kommen? Ich freue mich auf die Tanzstunde.«

»Selbstverständlich,« erwiderte sie, »ich werde es meiner Freundin Lily sagen.« Noch einmal begegneten sich unsere Hände. Ich versuchte, sie wieder in meine Arme zu ziehen, sie wehrte mir lächelnd. »Morgen nachmittag.« – »Sagen Sie mir, bitte, Ihren Namen,« bat ich, »damit ich daran denken kann.« – »Lorna,« erwiderte sie, »Sie komischer Bub Sie!« Und ich ging weg mit hämmernden Schläfen, flammendem Blute und hoffnungsvollem Herzen.

Am nächsten Morgen empfahl mir Willie eine Pension, die eine Frau Gregory, eine Engländerin, die Frau eines alten Baptistenpredigers, hielt. Zu meiner Freude stellte ich fest, daß die Pension ganz in der Nähe der Mayhewschen Villa lag. Frau Gregory war eine große mütterliche Frau, offensichtlich eine Dame, die diese Pension nur eröffnet hatte, um für ihren etwas schwächlichen Gatten, ihre beiden Kinder, ein hübsches Mädel Kate und einen noch jüngeren Knaben, zu sorgen. Frau Gregory war über meinen englischen Akzent entzückt und bewies mir ihre Freude, indem sie mir ein schönes Frontzimmer mit besonderem Eingange überließ. In einer Stunde hatte ich meine Rechnung im Eldridge-Haus bezahlt und zog ein. Ich zeigte einen Schatten von Vorsicht, als ich Willie versprechen ließ, Frau Gregory jeden Sonnabend fünf Dollar für meine Pension zu zahlen.

Ich werde noch später erzählen, wie er sein Versprechen hielt und sich seiner Schuld an mich entledigte. Für den Augenblick war alles geordnet. Ich ging zum Schneider und bestellte mir einen anständigen Anzug, warf mich in den besten blauen Rock, den ich hatte, und ging nach dem Frühstück zu Frau Mayhew hin. Ein farbiges Hausmädchen ließ mich ein. »Frau Mayhew kommt gleich herunter«, sagte es in seiner hübschen, singenden Stimme. »Ich werde Fräulein Lily rufen.« In einigen Minuten erschien Fräulein Lily, ein schlankes, schmales Mädel mit glänzend schwarzem Haare, großem, lachendem Munde und grauen, dicht bewimperten Augen. Wir hatten uns kaum begrüßt, als schon Frau Mayhew eintrat.

Bald setzte sich Fräulein Lily ans Klavier, ich legte den Arm um die schlanke, biegsame Gestalt meiner Inamorata und versuchte zu tanzen. Aber schon nach ein oder zwei Umdrehungen wurde ich schwindlig und mußte zugeben, daß ich nie imstande sein würde, zu tanzen.

»Sie sind sehr blaß geworden,« meinte Frau Mayhew, »setzen Sie sich einen Augenblick hin.« Langsam verging der Schwindelanfall. Fräulein Lily hatte sich inzwischen empfohlen, und Frau Mayhew brachte mir eine Tasse ausgezeichneten Kaffee. Als ich ihn getrunken hatte, war ich wieder vollkommen auf der Höhe.

»Sie sollten sich hinlegen«, sagte Frau Mayhew mitleidsvoll. Sie stand auf und öffnete eine Tür: »Hier ist unser Gastzimmer!« Ich sah, daß meine Gelegenheit gekommen war, und ging zu ihr hinüber. »Wenn Sie auch mitkommen«, flüsterte ich. »Wollen Sie mir nicht den versprochenen Kuß geben, Lorna?« Ich nahm ihr Gesicht und drückte meine Lippen auf ihren Mund. Nach einer Weile entwand sie sich meinen Armen und sagte: »Wir wollen uns setzen, und Sie müssen mir erzählen, was Sie alles tun.« Ich setzte mich neben sie auf das Sofa und erzählte ihr alle meine Neuigkeiten. Sie meinte, ich würde mich bei Gregorys wohl fühlen. »Frau Gregory ist ein guter Mensch«, sagte sie. »Ich höre, daß das Mädel verlobt ist. Finden Sie sie hübsch?«

»Nur dich finde ich hübsch, Lorna«, sagte ich, bog ihren Kopf auf die Sofalehne herüber und küßte sie. Ihre Lippen waren heiß. Sie wand sich in meiner Umarmung, und auf einmal sprang sie auf.

»Hier kann uns jemand finden,« flüsterte sie, »komm in mein Schlafzimmer.« Und sie huschte die Treppe hinauf. »Liebst du mich auch wirklich, Lieber?« – »Du weißt es ja«, antwortete ich, riß sie in meine Arme und hob sie aufs Bett – –.

Eine Stunde später saßen wir wieder auf dem Sofa. »Wie wunderbar du küssen kannst,« sagte sie, »das war es, was mich schon beim ersten Male so aufregte«, und sie seufzte wie entzückt in der Erinnerung auf.

»Du kamst mir gar nicht aufgeregt vor«, sagte ich halb vorwurfsvoll, »denn als ich dich um noch einen Kuß bat, zogst du dich zurück und sagtest ›Morgen!‹ Warum sind Frauen so kokett und so verderbt?«

»Ich glaube wohl, weil wir uns begehrt fühlen wollen,« erwiderte sie, »und auch vielleicht, weil wir die Freude, das Glück des Begehrtwerdens, wirklich Begehrtseins, verlängern wollen. Es ist uns so leicht, uns zu geben, und es ist so herrlich, wenn man fühlt, wie einen das Verlangen des Mannes verfolgt. Und wie selten ist es«, seufzte sie leidenschaftlich, »und wie schnell geht es vorbei. Du wirst deiner Geliebten bald überdrüssig werden,« fügte sie hinzu, »jetzt, wo ich ganz dein bin und mich nur nach dir sehne.« Sie nahm meinen Kopf zwischen ihre Hände und küßte mich wehmütig und leidenschaftlich.

»Du küßt besser als ich, Lorna! Wo haben Sie denn diese Kunst gelernt, Madame?« fragte ich. »Sie sind wohl ein schlimmes Mädel gewesen?«

»Wenn ihr nur die Wahrheit wüßtet,« rief sie aus, »wenn ihr wüßtet, wie die Mädchen sich nach einem Liebhaber sehnen, wie sie sich vergeblich verzehren und sich fragen, warum die Männer so dumm und kalt sind und unser Verlangen nicht verstehen. Wenden wir denn nicht genug Tricks für euch an? Sind wir nicht mal hochmütig und kühl und im nächsten Augenblick verliebt, zärtlich und leidenschaftlich? Wir verkleiden den Angelhaken mit jedem Köder, und der Fisch beschnuppert ihn verächtlich und dreht sich um. Ach, wenn du wüßtest – ich fühle mich wie eine Verräterin an meinem Geschlecht, daß ich es dir sage –, wenn du nur ahntest, wie wir nach euch angeln und wie klug wir sind, auf welche Ideen wir kommen. Glaubst du denn,« fragte sie mich und wandte ihr blumenblasses, leidenschaftliches Gesicht halb ab, »daß, als ich am ersten Tage meinen Hut vor dem Spiegel abnahm und mich langsam umdrehte, das bloßer Zufall war? Du geliebte Unschuld! Ich wußte, daß diese Bewegung meine Brüste und schlanken Hüften herausholen würde, und ich tat es absichtlich, in der Hoffnung, dich zu erregen, und ich zitterte vor Freude, als ich merkte, wie es auf dich wirkte. Warum habe ich dir denn das Bett im Nebenzimmer gezeigt und die Tür offen gelassen, als ich zum Sofa zurückkam, wenn nicht, um dich in Versuchung zu führen? Wie froh war ich, als ich dein Verlangen in deinem Kuß fühlte. Ich gab mich dir schon, bevor du meinen Kopf auf die Sofalehne bogst und mir mein Haar in Unordnung brachtest.« Sie hob ihre Hände empor und schob ihre Haarflechten zurecht.

Unser Liebesgespräch dauerte stundenlang, bis ich plötzlich sah, wie spät es war, und auf meine Uhr blickte. Es war fast halb acht, ich kam zu spät zum Abendbrot, das um halb sieben begann.

»Ich muß gehen,« rief ich aus, »sonst bekomme ich nichts zu essen.«

»Ich könnte dir zu essen geben,« sagte sie, »aber er könnte hereinkommen, und ich möchte dich erst besser kennen, bevor ich euch zusammen sehe – einen jungen Gott und einen Mann – der Mann als Gottes Ebenbild in einer so armseligen Imitation.«

»Sag' so etwas nicht,« unterbrach ich sie, »du wirst dir dein Leben noch schwerer machen.«

»Schwerer?« wiederholte sie höhnisch. »Küß' mich, mein Lieb, und geh, wenn es sein muß. Werde ich dich morgen sehen? – Da hast du es,« rief sie wie mit einem unterdrückten Fluch, »ich hab' mich verraten. Ich kann mir nicht helfen. Ich werde dich so begehren, ich werde mich so nach dir sehnen und werde die langen, trägen Stunden zählen. Geh, geh, sonst lasse ich dich nicht!« und sie küßte mich und hielt mich fest umklammert.

»Auf morgen, Liebes«, sagte ich und riß mich los.

Es war mir vollkommen klar, daß mein Verhältnis mit Frau Mayhew kaum etwas mit Liebe zu tun hatte. Es war das jugendliche, dämonische, sexuelle Verlangen in mir und ein ähnlicher Hunger in ihr, und sobald das Verlangen befriedigt war, blieb mein Urteil über sie so unparteiisch und kühl, als ob sie mir immer gleichgültig gewesen wäre. Bei ihr gab es jedoch eine gewisse Anhänglichkeit und sehr viel Zärtlichkeit. In den intimen Beziehungen zwischen den Geschlechtern kommt es selten vor, daß der Mann so viel Liebe gibt wie die Frau.


 << zurück weiter >>