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Kapitel IV.
Von der Schule nach Amerika

Anfang Januar hatten wir eine Vorstellung der Gerichtsszene aus dem Kaufmann von Venedig. Der Gutsbesitzer aus der Umgebung, einige Deputierte, der Vikar und seine Familie und natürlich auch Lucille gehörten zu den Eingeladenen. Der große Schulraum wurde als Theater eingerichtet, und die Estrade, auf der sonst der Schuldirektor bei offiziellen Gelegenheiten zu thronen pflegte, wurde in eine provisorische Bühne umgewandelt und mit einem großen Vorhang drapiert.

Ich bekam die Rolle des Shylock, die mir sehr lag, und nun gab ich mir alle Mühe, mich vor E. und Lucille im besten Lichte zu zeigen. Meine knabenhafte, romantische Version dieser Rolle war im wesentlichen dieselbe wie Irvings. Bei meinen ersten Worten fühlte ich, wie die jüngeren Zuhörer sich umdrehten, als ob sie fragen wollten, ob eine solche Deklamation gestattet sei. Langsam wurde jedoch einer nach dem andern durch den leidenschaftlichen Fluß hingerissen. Ich endete mitten im allgemeinen Applaus, an dem sich zu meinem Entzücken auch Lucille beteiligte.

Nach der Vorstellung wurde ich von allen Seiten umringt. »Wo haben Sie das gelernt, wer hat es Ihnen beigebracht?« Schließlich kam Lucille an mich heran: »Ich wußte ja, daß Sie irgendwer sind, quelqu'un,« meinte sie auf ihre niedliche Weise, »aber es war doch außergewöhnlich. Ich bin sicher, daß aus Ihnen ein großer Schauspieler wird.«

»Und doch verweigern Sie mir einen Kuß«, flüsterte ich, als ich merkte, daß uns keiner zuhörte.

»Ich verweigere Ihnen nichts«, meinte sie und drehte sich um. Ich blieb durchbohrt von Hoffnung und Entzücken zurück. »Nichts!« sagte ich zu mir selbst. »Nichts heißt alles!« Tausendmal wiederholte ich es in meiner Freudenekstase.

Das war meine erste glückliche Nacht in England. Selbst der Doktor lobte mich. Zu meiner Verblüffung schadete mir jedoch mein Triumph bei den anderen Knaben. Manche höhnten, und alle waren sich einig, daß ich mich hervortun wollte. Jones und seine Kollegen begannen, mich wieder zu boykottieren. Es machte mir jedoch nicht viel aus, denn ich erlebte schwerere Enttäuschungen und hegte größere Hoffnungen.

Das Schlimmste war die Schwierigkeit, Lucille bei dem schlechten Wetter zu sehen. Edwards lud mich oft in das Haus des Vikars ein. Sie hätte mich dort einige Male treffen können, ging jedoch anscheinend dem Wiedersehen aus dem Wege. Ich war krank vor Enttäuschung und zerrissen von dem unerfüllten Verlangen. Es wurde März oder April, bis ich sie wieder allein traf. Ich war zu verärgert, um mehr als höflich zu sein. Plötzlich sagte sie: »Vous me boudez!« Ich zuckte die Achseln.

»Sie mögen mich ja nicht,« sagte ich, »was hat es also für einen Sinn?«

»Ich mag Sie sehr sogar,« meinte sie, »aber ...«

»Nein, nein«, erwiderte ich und schüttelte den Kopf. »Wenn ich Ihnen nicht gleichgültig wäre, würden Sie mich nicht meiden und –«

»Vielleicht tue ich es, weil ich Sie zu gern habe –«

»Dann würden Sie mich glücklich machen«, unterbrach ich sie.

»Glücklich?« wiederholte sie, »wie kann ich's denn?«

»Indem Sie sich von mir küssen lassen und –«

»Ja und?« wiederholte sie bedeutungsvoll.

»Was schadet es Ihnen denn?« fragte ich.

»Was es mir schadet?« wiederholte sie. »Wissen Sie denn nicht, daß man es nicht tun darf? Man sollte es nur mit seinem eigenen Gatten tun. Sie wissen das doch.«

»Ich weiß nichts dergleichen«, rief ich aus. »Das ist alles Unsinn. An so was glauben wir heute nicht mehr.«

»Ich glaube daran«, meinte sie ernsthaft.

»Aber wenn Sie's nicht glaubten, würden Sie sich nicht wehren? Sagen Sie's doch, Lucille? Das würde mir zeigen, daß Sie mir ein klein wenig gut sind.«

»Sie wissen, daß ich Sie sehr gern habe.«

»Dann küß' mich, dabei ist doch nichts Schlimmes.« Und als sie mich küßte, schlang ich meinen Arm um sie. Ich erschauerte, als ich ihren festen Körper fühlte. Sie entwand sich ruhig und entschlossen meiner Umarmung.

»Nein, nein«, sagte sie mit einem halben Lächeln.

»Bitte«, bettelte ich.

»Ich kann nicht«, meinte sie und schüttelte den Kopf. »Ich darf nicht. Lassen Sie uns von anderen Dingen reden –« Aber ich konnte von nichts anderem sprechen, als ich sie so vor mir stehen sah. Zum ersten Male erriet ich durch ihre Kleider fast alle Schönheiten ihres Körpers. In Tantalusqualen tasteten meine Augen die kühnen Linien ihrer Hüften und Brüste ab. Eine entschlossene Abwehr lag auf ihrem ausdrucksfähigen Gesicht.

Warum habe ich diese Einzelheiten nicht früher bemerkt? War ich denn blind? Oder war Lucille so gekleidet, um ihre Gestalt zu betonen? Sicherlich waren ihre Kleider besser dazu geeignet, die Form des Körpers zu enthüllen, als die der englischen Frauen, aber ich war auch neugieriger, beobachtender geworden. Sollte mir das Leben immer neue Schönheiten zeigen, von denen ich mir nicht einmal träumen ließ?

Meine Erfahrungen mit E. und Lucille machten mir die Tretmühle des Schullebens fast unerträglich. Nur durch den Gedanken an die Notwendigkeit, den zweiten Preis in der Mathematik zu gewinnen, um nach Amerika durchbrennen zu können, zwang ich mich zum Lernen.

Bald nach den Weihnachtsferien machte ich den entscheidenden Schritt. Die Winterprüfung war bei weitem nicht so bedeutend wie die Prüfung im Sommer, aber sie wurde epochemachend für mich. Ich war durch meine Strafen gezwungen, zwei oder drei Bücher Vergil auswendig zu lernen und ganze Kapitel von Cäsar und Livius, und habe mir auf diese Weise einige Kenntnisse im Lateinischen angeeignet. In der Prüfung hatte ich nicht nur meine Klasse, sondern dank der Trigonometrie, dem Latein und der Geschichte auch die beiden nächsten Klassen geschlagen. Sobald die Schule wieder beisammen war, wurde ich nach Obersekunda versetzt. Alle Knaben, die zwei oder drei Jahre älter waren als ich, machten bittere Bemerkungen über mich und vermieden es, mit mir zu sprechen. Dies alles bestärkte mich in meinem Entschlusse, nach Amerika zu gehen, sobald es sich ermöglichen ließ.

Inzwischen arbeitete ich, wie ich nie gearbeitet hatte, an meinem Latein und Griechisch sowohl wie an der Mathematik, aber hauptsächlich am Griechischen, denn da war ich noch sehr im Rückstand. Um Ostern herum hatte ich die Grammatik beherrscht, die ganzen unregelmäßigen Verben, und war der Erste in der Klasse. Mein Geist war auch durch die religiösen Zweifel, das Herumtasten und die Lektüre erstaunlich gewachsen. Eines Morgens schrieb ich einen lateinischen Aufsatz, der die Besten in der Klasse verblüffte, und der Doktor nickte mir anerkennend zu. Dann kam der Schritt, der entscheidend werden sollte.

Kaum war die Frühandacht an einem bitteren Morgen vorbei, als der Doktor aufstand und uns die Bedingungen der Sommerprüfung mitteilte. Der erste Preis war ein Stipendium von achtzig Pfund jährlich für drei Jahre in Cambridge, der zweite zehn Pfund für den Ankauf von Büchern. »Alle Schüler, die sich daran beteiligen wollen, sollen jetzt aufstehen und ihre Namen nennen.« Ich dachte, daß nur Gordon sich melden würde, aber als ich sah, daß Johnson, Fawcett und zwei oder drei andere aufstanden, meldete ich mich auch ... Ein höhnisches Lachen ging durch die Schule. Aber Stackpole nickte mir lächelnd zu, als wollte er sagen: »Sie werden schon sehen!« und ich faßte Mut und nannte sehr deutlich meinen Namen. Ich fühlte, daß es ein entscheidender Schritt war.

Ich hatte Stackpole sehr gern, und in diesem Semester ermutigte er mich, in sein Zimmer zu kommen, um mit ihm zu sprechen, so oft ich Lust hatte, und da ich entschlossen war, alle freien Nachmittage für die Arbeit zu verwenden, war für mich die Verbindung mit ihm sehr wertvoll und seine Hilfe unschätzbar.

Eines Tages, als er gerade in sein Zimmer hineinkam, lief ich ihm mit einer Frage entgegen, und er blieb stehen und legte seinen Arm um meine Schulter, während er mir antwortete. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich es damals schon begriff. Durch irgendeinen Instinkt fühlte ich eine Zärtlichkeit in der scheinbar unschuldigen Geste heraus. Ich wollte mich nicht der Umarmung entziehen oder ihm zeigen, wie lästig sie mir war. Ich vergrub mich jedoch fieberhaft in der Trigonometrie, und er nahm seinen Arm weg.

So oft ich später daran dachte, fiel es mir auf, daß seine unterstrichene Vorliebe für mich nach meinem Kampf mit Jones begonnen hatte. Ich war früher oft nahe daran, ihm meine Liebessehnsucht zu beichten, aber jetzt war ich froh, daß ich es für mich behalten hatte, denn ich merkte, wie seine Zuneigung für mich von Tag zu Tag wuchs, oder – besser gesagt – die Schmeicheleien, mit denen er mich überschüttete. Ich wußte kaum, was ich tun sollte. Das Arbeiten mit ihm, in seinem Zimmer, war für mich eine Gnade Gottes, und trotzdem empfand ich keine wirkliche Zuneigung oder Bewunderung für ihn.

Er war in gewissem Sinne seltsam beschränkt. Er hielt das Schulleben für das glücklichste und gesündeste. Da wäre ein guter moralischer Ton, meinte er, keine Lügen, keine Betrügereien, kein Klatsch. Es war viel besser als das Leben draußen. Ein moralischer Ton, wahrhaftig! Es fiel mir schwer, ihm nicht ins Gesicht zu lachen. Wenn der Doktor in schlechter Laune herunter kam, galt es allgemein bei den Knaben, daß er mit seiner Frau nachts geschlafen hatte und sich daher körperlich nicht ganz auf der Höhe befand.

Obwohl Stackpole ein wirklich guter Mathematiker und ein erstklassiger Lehrer war, geduldig und sich alle Mühe gebend, mit der Gabe klarer Exposition, schien er mir dumm und beschränkt und ich fand bald heraus, daß, wenn ich über seine Komplimente lachte, ich seine unwillkommenen Zärtlichkeiten verhinderte.

Einmal küßte er mich. Aber als er mein Lächeln sah, wurde er rot und stotterte verwirrt: »Du bist ein merkwürdiger Kerl!« Dabei wußte ich genau, daß er sich bei der geringsten Ermutigung noch andere Freiheiten herausnehmen würde.

Eines Tages sprach er von Jones und Henry H. Er hatte offensichtlich von den Vorgängen in unserem Schlafsaale gehört. Aber ich tat so, als ob ich es nicht verstünde. Und als er mich fragte, ob keiner der großen Jungen an mich herangekommen wäre, verschwieg ich die schmutzigen Angriffe von Fawcett, sagte »nein« und fügte hinzu, daß ich mich für Frauen und nicht für schmierige Jungen interessierte. Aus irgendeinem Grunde schien mir Stackpole jünger als ich und nicht zwölf Jahre älter, und es war für mich nicht schwer, ihn bis zur mathematischen Prüfung in den Grenzen zu halten.

Ich wurde einmal gefragt, ob ich glaubte, daß Shaddy, wie wir den Aufsichtslehrer nannten, je eine Frau berührt hatte. Die Idee von der Jungfräulichkeit Shaddys brachte uns zum Lachen. Es war jedoch noch komischer, wenn man ihn sich als Liebhaber vorstellte. Er war ungefähr vierzig Jahre alt, groß und stark. Er hatte seinen Grad in einem College in Manchester bekommen, aber für uns kleine Snobs war er nicht vollwertig, weil er weder in Oxford noch in Cambridge studiert hatte. Er war jedoch ein ziemlich fähiger Mensch.

Aus irgendeinem Grunde hatte er etwas gegen mich, und ich beantwortete seine Abneigung mit Haß und dachte nur daran, was ich ihm antun könnte. Meine neue Gewohnheit der geschärften Beobachtung kam mir zu Hilfe. Fünf oder sechs polierte Eichenstufen führten zu unserem Schlafsaal. Shaddy gab uns eine halbe Stunde Zeit zum Ausziehen, kam dann herein, stellte sich an das Gaslicht und fragte: »Habt ihr schon gebetet?« Wir antworteten: »Jawohl, Herr Lehrer!« was er mit einem »Gute Nacht, Kinder!« quittierte und unsere stereotype Antwort bekam: »Gute Nacht, Herr Lehrer!« Dann pflegte er das Licht auszudrehen und in sein Zimmer hinunterzusteigen. Die Eichenstufen waren in der Mitte abgenutzt, und ich hatte bemerkt, daß, wenn man eine Treppe hinuntersteigt, man auf den äußersten Rand einer Stufe tritt.

Eines Tages brachte mich Shaddy zur Verzweiflung, indem er mir hundert Zeilen Vergil zum Auswendiglernen für irgendeinen geringen Fehler aufbrummte. An diesem Abend nahm ich mir ein Stück brauner Seife, rannte vor den andern Knaben nach oben, bestrich den Rand der obersten Stufe reichlich mit Seife und fing an mich auszuziehen.

Als Shaddy das Licht auslöschte und auf die zweite Stufe trat, glitt er aus und fiel mit großem Krach die Treppe herunter. Mein Bett stand dicht an der Tür, und ich war im Augenblick herausgesprungen, öffnete die Tür und half ihm mit unzusammenhängenden Ausrufen des Mitgefühls wieder auf.

»Ich habe mir die Hüfte zerschlagen«, meinte er und betastete sich. Er konnte sich diesen Sturz nicht erklären.

Ich grinste lautlos, als ich die Treppe heraufging, wischte mit meinem Taschentuch die Stufe ab und legte mich mit unterdrücktem Kichern über meinen erfolgreichen Streich wieder ins Bett. Er hatte nur das bekommen, was er reichlich verdiente.

Schließlich war das lange Semester zu Ende. Die Prüfung fand statt, und Stackpole war sicher, daß ich den zweiten Preis bekommen würde. »Ich glaube,« sagte er mir, »daß dir der zweite Preis lieber wäre als der erste, nicht wahr?« – »Bedeutend lieber«, erwiderte ich gedankenlos.

»Warum?« drang er in mich, »warum?« Ich hielt mich gerade noch zurück, sonst würde ich ihm den wahren Grund verraten haben. »Du hast viel mehr Chancen, den Preis zu gewinnen,« sagte er schließlich, »als es sich irgendeiner von ihnen träumen läßt.«

Nach den Prüfungen kamen die gymnastischen Übungen, die mich mehr interessierten als diese verdammten Studien. Ich gewann zwei erste Preise und Jones vier, aber ich sicherte mir fünfzehn zweite Preise, was einen Rekord darstellte, denn meinem Alter nach gehörte ich noch in die Unterschule.

Ich war mir des Geheimnisses meines Erfolges vollkommen bewußt, und seltsamerweise beeinträchtigte es mein Selbstgefühl, statt es zu stärken. Ich hatte gesiegt, aber nicht durch natürliche Vorteile, sondern durch Willenskraft und Übung. Ich wäre viel stolzer gewesen, wenn ich durch natürliche Gaben gewonnen hätte. Da war zum Beispiel ein Knabe namens Reggie Miller, der mit sechzehn Jahren fünf Fuß zehn maß, während ich noch nicht einmal fünf Fuß hatte. Was ich auch tun mochte, er konnte höher springen als ich, obwohl er nur bis zur Kinnhöhe sprang, während ich über eine Stange in meiner Kopfhöhe springen konnte. Ich glaube, daß Reggie mich bei fleißiger Übung noch mehr übertroffen hätte. Ich sollte es noch im Leben lernen, daß ein auf den Erfolg gerichteter Wille mehr bedeutet als ein natürlicher Vorteil. Aber diese Lehre war mir noch vorbehalten. Von Anfang an schlug ich die Heerstraße zum Erfolge ein, indem ich meinen Willen sogar mehr als meinen Körper stärkte. So wird jedes Hindernis einer natürlichen Unzulänglichkeit bei einem mutigen Menschen zu einem Vorteil im Leben, während jede natürliche Begabung zum Hindernis wird. Die Sprachschwierigkeit des Demosthenes, die er zu überwinden suchte, machte ihn zum größten aller Oratoren.

Schließlich kam der letzte Tag heran, und um 11 Uhr sammelte sich die ganze Schule mit den Gästen und Freunden, um die Ergebnisse der Prüfungen und hauptsächlich die Verteilung der Preise zu hören. Die meisten Knaben schlichen um die schwarze Tafel herum, auf der die offiziellen Zahlen standen, ich hielt mich jedoch fern, bis mir ein kleiner Bub scheu sagte: »Du bist der Erste in deiner Klasse, und du kannst sicher sein, daß du versetzt wirst.«

Es stimmte, aber es machte auf mich keinen Eindruck. Ein Cambridgeprofessor war höchst persönlich angekommen, um die Ergebnisse der Mathematikprüfung zu verkünden.

Er hielt uns eine lange Rede über die große Schwierigkeit des Entschlusses, denn beide Knaben waren sich fast vollkommen gleich. Er wäre sogar im Begriff gewesen, den ersten Preis Nr. 9 zu erteilen (meine Nummer) statt Nr. 1, wenn er bloß nach der Arbeit zu urteilen hätte, aber nachdem er herausgefunden hatte, daß der eine Knabe noch nicht fünfzehn Jahre alt war, während der andere achtzehn zählte, also im Universitätsalter stand, neigte er zu der Ansicht des Direktors, dem älteren den ersten Preis zu verleihen, denn der jüngere würde ihn sicher im nächsten Jahre bekommen, und selbst im nächsten Jahre wäre er noch zu jung für die Universität. Er erteilte daher Gordon den ersten und Harris den zweiten Preis zu. Gordon stand auf und verneigte sich dankend, während die ganze Schule in jubelnden Beifall ausbrach. Dann rief der Examinator meinen Namen. Ich hatte die ganze Situation erfaßt. Ich wollte mit soviel Geld wie möglich und so schnell wie möglich von da wegkommen. Es hieß jetzt, mich möglichst unbeliebt zu machen. Ich stand daher auf, dankte dem Examinator, sagte, ich hätte keinen Zweifel an der Gerechtigkeit seines Ausspruchs, fügte jedoch hinzu, daß, wenn ich gewußt hätte, daß das Ergebnis vom Alter bestimmt werden würde, ich mich nie zur Prüfung gemeldet hätte. Unter diesen Umständen würde ich es nie wieder tun.

Die Sensation, die meine kleine Rede hervorrief, war tausendmal größer, als ich es erwartet hatte. Atemloses Schweigen! Man saß wartend da. Der Professor aus Cambridge drehte sich zu dem Schuldirektor um und sprach mit ihm sehr ernsthaft mit offensichtlicher Verärgerung und stand wieder auf.

»Ich muß sagen,« begann er, »ich wollte sagen,« wiederholte er sich, »daß ich das größte Mitgefühl für Harris empfinde. Ich war noch nie in einer so peinlichen Lage. Ich muß daher die ganze Verantwortung dem Schuldirektor überlassen. Ich kann leider nichts tun.« Und er setzte sich dann wieder höchst verärgert hin.

Der Doktor stand auf und hielt eine lange, hypokritische Rede. Es sei einer dieser schwierigen Entschlüsse, zu denen man manchmal im Leben gezwungen ist. Er sei der allgemeinen Zustimmung sicher, da er sich bemüht habe, gerecht zu handeln. Er würde es, so weit es geht, an dem jüngeren Schüler gutmachen. Er würde ihm im nächsten Jahre das Stipendium mit einem ebenso freudigen Herzen zuerteilen, wie er ihm heute den Scheck gab. Und er schwenkte das Papier in der Luft.

Die Lehrer riefen mich, und ich ging auf das Podium und nahm den Scheck mit einem freudigen Lächeln entgegen, und als der Cambridger Professor mir die Hand reichte und sich noch entschuldigen wollte, flüsterte ich scheu: »Ich bin ganz froh, Herr Professor, daß Sie es so entschieden haben.« Er lachte laut auf, legte den Arm um meine Schulter und sagte:

»Ich bin Ihnen sehr verbunden. Sie verstehen es, mit Anstand zu verlieren, ich hätte eigentlich sagen sollen, zu gewinnen. Sie scheinen mir ein beachtenswertes Kerlchen zu sein. Sind Sie wirklich noch nicht sechzehn?«

Ich nickte lächelnd, und die Preisverteilung ging ohne weiteren Zwischenfall vor sich, nur als ich auf dem Podium erschien, um mir den Klassenpreis zu holen, lächelte er mir freundlich zu und gab das Zeichen zum Beifall.

Ich habe den ganzen Vorfall ausführlich beschrieben, denn er ist meiner Ansicht nach für den englischen Wunsch, fair zu sein, bezeichnend. Er ist wirklich der leitende Impuls bei den Engländern, mit dem man rechnen kann, und soweit meine Erfahrung reicht, ist er in ihnen vielleicht stärker als in irgendeiner anderen Rasse. Wenn ihre religiöse Heuchelei, ihre kindischen Konventionen und in erster Linie ihr unwahrscheinlicher Snobismus nicht wäre, würde sie ihre Liebe für das fair play allein zu den würdigsten Führern der Menschheit machen. Ich fühlte es schon als Knabe so klar, wie ich es heute sehe.

Ich wußte nun, daß der Weg mir offen stand. Am nächsten Morgen meldete ich mich bei dem Direktor. Er war sehr entgegenkommend. Ich tat jedoch beleidigt und enttäuscht. »Mein Vater«, sagte ich, »rechnet auf meinen Erfolg, und ich möchte ihn sehen, bevor er die schlechte Nachricht von irgend jemand anderem hört. Würden Sie mir, bitte, das Geld für meine Reise geben und mich heute schon fahren lassen? Es ist mir nicht sehr angenehm, jetzt hier zu sein.«

»Es tut mir leid,« sagte der Doktor (und ich glaube, daß es ihm leid tat), »ich werde selbstverständlich alles tun, um deine Enttäuschung zu erleichtern. Es traf sich sehr unglücklich, aber du darfst nicht niedergeschlagen sein. Professor S. sagt, daß deine Zeugnisse dir den Erfolg im nächsten Jahre sichern, und ich – ich will alles tun, was in meiner Macht steht, um dir zu helfen.«

Ich verneigte mich. »Ich danke Ihnen, Herr Direktor. – Könnte ich heute abreisen? Es gibt um die Mittagszeit einen Zug nach Liverpool.«

»Selbstverständlich, wenn du willst, werde ich sofort den Auftrag geben.« Und er wechselte mir auch den Scheck für zehn Pfund ein mit der Bemerkung, daß das Geld eigentlich für Bücher bestimmt wäre, aber daß es wohl nicht so ernst damit gemeint sei.

Um die Mittagszeit saß ich im Zug nach Liverpool mit fünfzehn Pfund in der Tasche – fünf Pfund betrug mein Reisegeld nach Irland. Ich zitterte vor freudiger Erregung. Endlich kam ich in die wirkliche Welt hinaus und konnte leben, wie es mir gefiel. Ich spürte kein Bedauern, keinen Abschiedskummer, war von farbigen Hoffnungen und glücklichen Ahnungen erfüllt.

Sobald ich nach Liverpool gelangte, fuhr ich zum Adelphi-Hotel, sah mir die Dampfer an und fand bald, daß ein Schiff nur vier Pfund für die Zwischendecküberfahrt nach Newyork verlangte, und stellte zu meiner Freude fest, daß dieser Dampfer schon am nächsten Tage um zwei Uhr abfahren würde. Um vier Uhr hatte ich schon meine Überfahrt bezahlt. Der Beamte sagte etwas über Bettzeug, aber ich hörte gar nicht zu; denn als ich in das Bureau eingetreten war, sah ich ein Theaterplakat der »Zwei Rosen«, eines romantischen Dramas, das an diesem Abend gespielt wurde. Ich entschloß mich, mir ein Billett zu kaufen und hinzugehen. Man stellt sich kaum vor, welchen Mut das erforderte, mehr als ich brauchte, mich von allem, was mir lieb und teuer war, loszulösen und nach Amerika zu gehen, denn mein Vater war ein Erzpuritaner und bezeichnete das Theater als »eine offene Tür zur Hölle«.

Ich hatte jeden Glauben an Hölle oder Himmel verloren, aber kalte Schauer rannen mir den Rücken herunter, und in den nächsten vier Stunden war ich wiederholt entschlossen, das Billett verfallen zu lassen. Vielleicht hatte mein Vater doch recht? Die Angst überfiel mich wie ein Schwindelgefühl von Schwäche.

Und doch saß ich auf meinem Platz, als der Vorhang hochging, und saß drei Stunden wie verzaubert da. Es war eine gewöhnliche, romantische Liebesgeschichte, aber die Heldin war wunderschön, liebevoll und treu; und ich verliebte mich in sie auf den ersten Blick. Als das Stück zu Ende war, kam ich auf die Straße mit dem festen Entschluß, mich für eine solche Frau wie die Heldin rein zu halten. Keine Morallehre, die ich vorher oder seither bekam, kann mit dieser ersten Theatervorstellung verglichen werden. Die Wirkung hielt monatelang an. Die Prediger mögen diese Tatsache in Ruhe verdauen.

Am nächsten Morgen aß ich ein gutes Frühstück im Adelphi-Hotel und war vor zehn an Bord des Schiffes, verstaute meinen Koffer, postierte mich neben meiner Schlafstelle, die mit Kreide auf Deck eingezeichnet war. Um die Mittagszeit machte der Doktor die Runde, ein junger, groß gewachsener Mensch mit nonchalanten Manieren, rötlichem Haar, römischer Nase und einem höchst unkonventionellen Benehmen.

»Wessen Schlafstelle ist dies?« fragte er, auf meinen Schlafplatz hinweisend.

»Meine«, erwiderte ich.

»Sagen Sie Ihrem Vater oder Ihrer Mutter,« sagte er kurz und bündig, »daß Sie eine solche Matratze haben müssen wie diese.« Und er wies auf eine hin, »und auch zwei Decken«, fügte er hinzu.

»Ich danke Ihnen«, sagte ich und zuckte die Achseln über seine Einmischung. In einer Stunde kam er wieder.

»Warum ist hier noch immer keine Matratze?« fragte er.

»Weil ich sie nicht brauche«, erwiderte ich.

»Sie müssen sie haben«, schnauzte er mich an. »Es ist Vorschrift, verstehen Sie?« Und er hastete weiter in seiner Inspektion. In einer halben Stunde war er wieder da.

»Sie haben noch immer keine Matratze«, schimpfte er los.

»Ich brauche keine«, erwiderte ich.

»Wo ist Ihr Vater oder Ihre Mutter?«

»Hab' ich nicht!«

»Wie kann man solche Kinder wie Sie allein nach Amerika gehen lassen?« schrie er, »wie alt sind Sie?«

Ich war wütend auf ihn, weil er mir hier vor allen Leuten meine Jugend vorwarf. »Was kümmert Sie das? Sie sind – Gott sei Dank – nicht für mich verantwortlich!«

»Ich bin's doch,« erwiderte er, »bis zu einem gewissen Grade wenigstens. Gehen Sie wirklich ganz allein nach Amerika?«

»Ja«, gab ich unwillig zurück.

»Was wollen Sie dort tun?« war seine nächste Frage.

»Was gerade vorkommt«, antwortete ich.

»Hm,« brummte er, »ich muß mich darum kümmern!«

Zehn Minuten später kam er wieder zurück. »Kommen Sie mit«, sagte er, und ich folgte ihm in seine Kabine, eine bequeme Offizierskabine, mit einer guten Schlafkoje rechts und einem Sofa gegenüber.

»Sind Sie wirklich allein?« fragte er.

Ich nickte, denn ich hatte ein wenig Angst, er könnte meine Fahrt verhindern, und ich beschloß, so wenig wie möglich zu sagen.

»Wie alt sind Sie?« war seine nächste Frage.

»Sechzehn«, log ich drauf los.

»Sechzehn?« wiederholte er. »Sie sehen nicht so aus. Aber nach Ihrer Sprache zu urteilen, müssen Sie eine gute Erziehung genossen haben.« Ich lächelte, denn ich hatte schon die ganze Dummheit der Bauern im Zwischendeck erfaßt.

»Haben Sie Freunde in Amerika?« fragte er.

»Warum fragen Sie mich aus? Ich habe meine Überfahrt bezahlt und tue keinem was zuleide.«

»Ich will Ihnen helfen,« sagte er, »wollen Sie hierbleiben, bis wir abfahren und ich etwas mehr Zeit habe?«

»Gern,« erwiderte ich, »ich würde viel lieber hier sein als mit diesem ganzen Gesindel. Und wenn Sie mir erlauben, Ihre Bücher zu lesen ...«

Ich hatte bemerkt, daß zwei kleine Bücherschränke zu beiden Seiten des Waschtisches untergebracht waren und kleinere Bücher und Bilder herumlagen.

»Selbstverständlich«, erwiderte er und öffnete die Tür des Bücherschränkchens. Ein Band Macaulay sprang mir in die Augen.

»Ich kenne seine Gedichte«, sagte ich, als ich sah, daß das Buch seine Essays enthielt und in Prosa geschrieben war. »Ich möchte dies gern lesen.«

»Dann schießen Sie los,« sagte er lächelnd, »in ein paar Stunden bin ich zurück.«

Als er zurückkam, fand er mich zusammengerollt auf seinem Sofa, in selige Märchenstimmung eingesponnen. Ich hatte gerade den Essay über Clive zu Ende gelesen und war atemlos. »Gefällt es Ihnen?« fragte er. – »Das sollt' ich meinen, es ist sogar besser als seine Gedichte.« Und plötzlich schloß ich das Buch und begann zu rezitieren.

»Mit allen seinen Fehlern, die weder gering noch unbedeutend waren, schien nur eine Begräbnisstätte würdig, seine sterblichen Überreste aufzunehmen ...«

Der Doktor nahm mir das Buch aus der Hand. »Rezitieren Sie aus Clive?« fragte er.

»Ja,« erwiderte ich, »aber der Essay über Warren Hastings ist ebenso gut.« Und ich begann von neuem.

»Er sah wie einer der Großen aus, man hätte ihn nie für einen schlechten Menschen halten können. Eine kleine, eingetrocknete Gestalt und doch mit einer Würde der Haltung, die neben dem ganzen Respekt vor dem Gericht die Gewohnheit der Selbstbeherrschung und Selbstachtung verriet. Eine hohe, intellektuelle Stirn, Augenbrauen versonnen und doch nicht düster zusammengezogen, ein Mund von unbeugsamer Entschlußkraft, ein Gesicht, auf dem es so klar wie unter dem großen Bilde in dem Ratssaal zu Kalkutta geschrieben stand: Mens aequa in arduis. So sah der große Prokonsul aus, der sich seinen Richtern stellte.«

»Haben Sie das alles auswendig gelernt?« rief der Doktor lachend.

»Ich brauche so etwas nicht zu lernen«, erwiderte ich. »Es genügt mir, es einmal durchzulesen.«

Er starrte mich an.

»Ich sehe jetzt, wie recht ich hatte, daß ich Sie hierher brachte. Ich wollte Ihnen eine Kabine auf dem Passagierdeck verschaffen, aber es gab da keine. Wenn Sie sich mit diesem Sofa begnügen wollen, sage ich dem Steward, er soll hier für Sie ein Bett machen.«

»Wie gut Sie sind,« rief ich aus, »darf die ganzen Bücher lesen?« – »Alles, was Ihnen gefällt, und ich glaube, Sie werden einen möglichst guten Gebrauch davon machen.«

Das Ergebnis war, daß er in einer Stunde einen Teil meiner Geschichte mir entlockt hatte und wir uns sehr anfreundeten. Er hieß Keogh. »Selbstverständlich ist er ein Ire«, sagte ich mir, als ich mich schlafen legte. »Kein anderer würde sonst so nett sein.

Man wird glauben, daß ich mit meinem Gedächtnis prahle. Es ist nicht der Fall. Swinburnes Gedächtnis hauptsächlich für Poesie war viel, viel besser als das meine, und ich habe meine Gabe später bedauert, denn ein gutes Gedächtnis hindert einen am selbständigen Denken. Ich werde noch einmal auf diese Ansicht zurückkommen, denn ich glaube, daß alles Originelle, was ich in mir haben mag, auf das Fehlen von Büchern zurückzuführen ist. Ein gutes Gedächtnis und Bücher in erreichbarer Nähe sind die beiden größten Gefahren der Jugend und bilden an sich eine furchtbare Fessel. Aber das gute Gedächtnis ist wie alle andern Talente ein erfreuliches Mittel, einem unter den Denkfaulen Freunde zu verschaffen, hauptsächlich, wenn man sehr jung ist.

Nun ging Dr. Keogh herum und erzählte Wunder von meinem Gedächtnis und meiner deklamatorischen Begabung, bis sich einige Passagiere der ersten Klasse für den merkwürdigen Schulknaben zu interessieren anfingen. Ich wurde daher eines Abends gebeten, im Salon zu rezitieren, worauf man eine Sammlung für mich veranstaltete. Von der eingegangenen Summe bezahlte man eine Überfahrt erster Klasse, und es blieben mir noch zwanzig Dollar zurück. Außerdem bot sich ein alter Herr an, mich zu adoptieren, aber ich war nicht dazu einen Vater losgeworden, um mir einen zweiten auf den Hals zu laden. Und so hielt ich mich von ihm fern, soweit es ging.

Aber hier greife ich schon wieder meiner Geschichte voraus. Am zweiten Abend auf Deck wurde die See unruhig, und die meisten Menschen wurden seekrank. Dr. Keogh wurde aus seiner Kabine herausgerufen, und während er weg war, klopfte jemand an die Tür. Ich öffnete und fand mich einem hübschen Mädel gegenüber.

»Wo ist der Doktor?« fragte sie. Ich sagte ihr, daß er zu einem Passagier gerufen wurde.

»Sagen Sie ihm, wenn er zurückkommt, daß Jessie Kerr, die Tochter des Oberingenieurs, ihn sehen möchte.«

»Ich werde ihn holen, Fräulein Jessie, wenn Sie wollen,« meinte ich, »ich weiß, wo er ist.«

»Es ist nicht so wichtig«, erwiderte sie. »Aber ich fühle mich etwas schwindlig, und er sagte mir, er wüßte ein Mittel dagegen.«

»Frische Luft ist das beste Mittel«, meinte ich. »Der Wind bläst Ihnen alles weg. Sie werden wie ein Murmeltier schlafen, und morgen geht es Ihnen ganz gut. Kann ich Sie aufs Deck begleiten?« Sie willigte gern ein, und zehn Minuten später gab sie zu, daß die leichten Übelkeiten in dem scharfen Winde verflogen waren. Während wir am spärlich beleuchteten Deck auf und ab gingen, mußte ich sie von Zeit zu Zeit stützen, denn das Schiff rollte ein wenig unter dem südwestlichen Winde. Jessie erzählte mir einiges über sich selbst, daß sie nach Newyork ging, um einige Monate bei einer älteren, verheirateten Schwester zu verbringen, als Entgelt bekam sie meine ganze Geschichte zu hören und konnte kaum glauben, daß ich nur sechzehn Jahre alt war. Mit sechzehn Jahren hätte sie es nie fertiggebracht, ein Gedicht nach dem andern zu deklamieren, wie ich es tat. Sie hielt es für »einfach wunderbar«.

Bevor sie herunter ging, sagte ich ihr, sie sei das schönste Mädel an Bord, sie küßte mich und versprach mir, am nächsten Abend zu kommen, um einen Spaziergang zu machen. »Wenn Sie nichts Besseres zu tun haben,« sagte sie, als wir uns trennten, »können Sie auf das kleine Promenadendeck der zweiten Klasse kommen, und ich werde einen unserer Leute bitten, uns Sitze in einem Boot zurechtzumachen.« Ich war über den Vorschlag begeistert und verbrachte den nächsten Nachmittag mit Jessie im Achtersitz der großen Barkasse, wo wir sowohl außer Seh- wie Hörweite waren.

Wir lagen nun da in zwei Decken eingehüllt wie in einer Wiege zwischen Himmel und Meer. Der pfeifende Wind verstärkte noch das Gefühl der vollkommenen Einsamkeit. Jessie war ein sehr hübsches Mädel, obwohl etwas klein, mit großen, haselnußbraunen Augen und hellem Teint.

Ich legte meinen Arm um sie und küßte sie, bis sie mir sagte, sie habe nie einen Mann gekannt, der so hungrig auf Küsse war wie ich. Ich empfand es als unerhörte Schmeichelei, daß sie von mir als von einem Manne sprach, und ließ meinen Mund wie verzückt über ihre Augen, ihre Lippen und ihren Leib wandern. Während ich ihre linke Brust streichelte, sagte ich ihr, sie müßte einen herrlichen Körper haben. Ich hielt mit der Hand ihre Knie umspannt, aber sie wehrte mir und sagte:

»Dazu müßten wir erst verlobt sein. Liebst du mich wirklich?«

Ich schwor natürlich alle Eide, aber als sie meinte, sie müßte es ihrem Vater sagen, daß wir verlobt seien und uns heiraten wollten, rannen mir kalte Schauer den Rücken herunter.

»Ich kann noch lange nicht heiraten,« meinte ich, »ich muß mir erst eine Existenz schaffen, und ich weiß eigentlich nicht, wie ich es anfangen soll.« Aber sie hatte gehört, daß ein alter Herr mich adoptieren wollte, von dem man allgemein behauptete, er sei sehr reich, und selbst ihr Vater schien mich vielversprechend zu finden.

Der nächste Tag war wolkig und regenschwer, aber wir hatten uns schon um zwei Uhr in das Boot geflüchtet, sofort nach dem Mittagessen, und wir hofften, daß uns keiner gesehen hatte. Eine Stunde verging in Zärtlichkeiten und Umarmungen, in Liebesworten und Liebesversprechungen.

Ich fragte Jessie über Newyork und das Haus ihrer Schwester aus, und während wir noch besprachen, wo wir uns treffen sollten, tauchte ein großer Kopf und ein Bart über dem Rand der Barkasse auf, und eine tiefe Stimme mit stark schottischem Akzent sagte: »Ich brauche dich, Jessie, ich suche dich überall.«

»Ich komme sofort, Vater«, sagte sie.

»Mach' schnell!« ließ sich noch die Stimme vernehmen, während der Kopf verschwand.

»Ich werde ihm sagen, daß wir uns lieben, und er wird nicht böse sein«, flüsterte Jessie. Aber ich hatte meine Zweifel. Ihre Augen lächelten mir über die Schulter zu, und sie eilte weg – mit ihr schien alles Licht verschwunden.

Ich erinnere mich heute noch an die tiefe Enttäuschung, als ich allein im Boote zurückblieb. Also das Leben hatte wie die Schule seine Schattenseiten, und während das Glücksgefühl stärker wurde, waren auch die Nackenschläge heftiger und die Enttäuschungen bitterer. Zum ersten Male in meinem Leben stieg in mir die dunkle Sorge auf, ein herzaufwühlender Verdacht, daß alles Schöne und Freudige im Leben bezahlt werden müsse. Ich versuchte die Angst zu verscheuchen. Wenn man zahlen mußte, dann würde ich zahlen, schließlich kann man einem die Erinnerung an die Seligkeit nicht wegnehmen, während der Kummer sich verflüchtigt. Und an diesem Glauben halte ich bis zum heutigen Tage fest.

Am nächsten Tage bekam ich eine Kabine mit einem siebzehnjährigen englischen Seekadetten, der zu seinem Schiff nach Westindien herausfuhr, zugewiesen. William Ponsonby war kein schlechter Kerl, aber er sprach nur von Frauen von früh bis spät. Er behauptete, daß Negerinnen ihm besser gefielen als weiße Frauen, denn sie seien viel leidenschaftlicher. Er erzählte mir, daß er ein Verhältnis mit einem Fräulein Le Breton, einer Gouvernante, die nach Pittsburg ging, anknüpfen wollte. Ponsonby öffnete nie ein Buch und war erstaunlich ungebildet. Er schien sich für nichts zu interessieren, was nicht mit Erotik zusammenhing. Er stellte mich an dem Abend Fräulein Le Breton vor. Ich sah zu meiner Verwunderung eine schöne, blonde Frau mit blauen Augen, und aus der Art, wie sie Ponsonby ansah, merkte ich, wie verliebt sie in ihn war. Er war etwas mehr als mittelgroß, kräftig und von gleichmütigem Wesen, und das war alles, was ich in ihm sehen konnte.

Jessie mied mich den ganzen Abend hindurch, und als ich ihren Vater auf Oberdeck traf, blickte er mich finster an und ging wortlos an mir vorbei. Ich erzählte Ponsonby meine Geschichte, und er versprach mir, einen Matrosen aufzutreiben, der Jessie einige Worte von mir übermitteln würde. Er schlug auch vor, daß wir am Nachmittage die Kabine abwechselnd benutzen sollten. Er wollte sie schon für den nächsten Nachmittag haben, und wir vereinbarten, daß, wenn einer von uns die Tür geschlossen finden sollte, er seinen Kameraden nicht stören würde. Ich ging auf alles mit Begeisterung ein und legte mich voll Hoffnungsfieber ins Bett. Würde Jessie den Zorn ihres Vaters auf sich nehmen, um zu mir zu kommen? Vielleicht! Ich wollte ihr jedenfalls schreiben und sie darum bitten. In einer Stunde kam der Matrose mit folgender Antwort zurück: »Liebster! Vater ist wütend. Wir müssen in den nächsten Tagen sehr vorsichtig sein. Sobald es geht, komme ich! – Deine Jessie.«

An diesem Nachmittag kam ich an die Tür unserer Kabine, ohne an mein Abkommen mit Ponsonby zu denken, und fand sie verschlossen. Ich erinnerte mich sofort an unsere Abmachung und machte mich ganz leise von dannen. War er schon so schnell zum Ziele gelangt? Mein Herz klopfte bei dem Gedanken. An diesem Abend konnte Ponsonby seinen Erfolg nicht verheimlichen, aber da er mir Details von seiner Geliebten erzählte, vergab ich es ihm.

»Sie hat den schönsten Körper, den ich je gesehen habe,« erklärte er, »und sie ist ein so liebes Mädel. Sie will, daß ich sie heirate, aber ich kann ja noch nicht. Wenn ich reich wäre, würde ich wirklich bald heiraten. Es ist besser, als sich irgendeiner Ansteckung auszusetzen.« Und er fuhr fort, mir über einen seiner Kollegen zu erzählen, der sich bei einer Negerin mit Syphilis angesteckt hatte.

»Er hatte es drei Monate lang nicht bemerkt,« erzählte Ponsonby, »bis er ganz durchseucht war. Seine Nase war ganz zerfressen, und der arme Teufel wurde nach Hause geschickt. Diese schwarzen Weiber sind alle mehr oder minder krank – eine schmierige Bande.« Sein erotischer Kummer interessierte mich nicht, denn ich hatte mich entschlossen, nie, unter keinen Umständen, zu einer Prostituierten zu gehen.

Ich hatte einige solcher ungewöhnlichen Entschlüsse an Bord des Schiffes gefaßt, die ich hier in Kürze einfügen möchte. Ich hatte mich erstens entschlossen, jede Arbeit, die man mir überließ, so gut zu machen, wie es in meinen Kräften stand, damit keiner, der nach mir kam, sie besser machen sollte. Ich hatte im letzten Semester in der Schule erfahren, daß, wenn man sich einer Sache mit ganzer Seele hingab, man sie auch sehr schnell und gründlich lernte. Noch bevor es zur Probe kam, war ich sicher, daß meine erste Beschäftigung mir den Erfolg bringen würde. Ich hatte Männer an der Arbeit gesehen und wußte, daß es leicht sein würde, sie zu schlagen. Ich wartete nur zu gespannt auf die Probe. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem ich vergeblich auf Jessie gewartet hatte, und kurz bevor ich ins Bett ging, kletterte ich bis zum Bug des Schiffes, wo man allein mit Himmel und See war, und schwor mir den großen Eid, wie ich es in meiner romantischen Phantasie nannte: alles, was ich unternahm, bis zur äußersten Anspannung aller Kräfte zu leisten.

Wenn ich je einen Erfolg im Leben hatte oder irgendeine gute Arbeit leistete, so war es größtenteils auf diesen Entschluß zurückzuführen.

Meine Gedanken konnten sich nicht von Jessie trennen. Wenn ich sie mir aus dem Kopf schlagen wollte, bekam ich entweder von ihr einige Zeilen, oder Ponsonby bat mich, ihm die Kabine für den ganzen Tag zu überlassen. Schließlich bat ich sie voller Verzweiflung um ihre Adresse in Newyork, denn ich hatte Angst, sie für immer in diesem Strudel zu verlieren. Ich fügte hinzu, daß ich allein in meiner Kabine auf sie warten würde.

An diesem Tage kam sie nicht, und der alte Herr, der mich adoptieren wollte, bemächtigte sich meiner und erzählte mir, er sei Bankier und würde mich in die Harvard-Universität in der Nähe von Boston schicken. Nach dem, was ihm der Doktor von mir gesagt hatte, hoffte er Großes von mir. Er war wirklich gütig und gab sich die größte Mühe, aber er hatte keine Ahnung, daß mein Streben darauf hinausging, mich selbst durchzusetzen, meine eigene hohe Meinung von meinen Kräften im offenen Lebenskampfe zu rechtfertigen. Ich wollte keine Hilfe, und ich vertrug seine Gönnermiene nicht.

Am nächsten Tage klopfte es leise an der Tür, und Jessie flüchtete sich atemlos in meine Arme. »Ich kann nur einen Augenblick bleiben«, rief sie. »Vater ist furchtbar. Er sagt, du bist noch ein Kind. Er will nicht, daß ich mich verlobe, und er beobachtet mich von früh bis spät. Ich konnte jetzt nur wegkommen, weil er in den Maschinenraum gegangen war.«

Während sie sprach, hatte ich die Kabinentür verschlossen.

»Ich muß gehen,« rief sie, »ich muß wirklich. Ich kam nur, um dir meine Adresse in Newyork zu geben. Hier ist sie.« Und sie gab mir das Papier, das ich in die Tasche steckte. Ich umarmte sie, küßte sie in atemlosem Entzücken. Ihre Augen flatterten und verdrehten sich. Einen Augenblick später versuchte sie, sich meiner Umarmung zu entwinden.

»Wirklich, Lieber, ich habe eine solche Angst. Er könnte kommen und Krach schlagen – ich würde sterben vor Scham. Bitte, laß mich gehen! Wir haben ja so viel Zeit in Newyork.« – Aber ich konnte es nicht ertragen, sie gehen zu lassen. Ich preßte sie noch fester an mich. Plötzlich sah ich die Angst in ihren Augen aufsteigen, die mir so lieb geworden waren.

Ich ließ sie los. »Du bist so lieb, Jessie,« sagte ich, »wer kann dir etwas verweigern. Dann in Newyork! Aber gib mir jetzt noch einen langen, langen Kuß!«

Sie gab mir ihren Mund, und ihre Lippen wurden sofort heiß: ich habe damals gelernt, daß, wenn die Lippen eines Mädchens heiß werden, sie für die Umarmung bereit ist – – –


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