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13.

Der Winter fing schlimm an für Gohlungen.

Der See war so weit abgelassen, daß der Grund offen zutage lag. Mitten durch den Modder sah man den tiefen Graben, den die von der neuen Firma Schirnau in Elbing gelieferte Baggermaschine ausgehoben harte, und vorn an der Wasserstraße war ein großes Bassin angelegt, damit die Stadtbauern ihr Vieh zur Tränke führen konnten. Die Arbeit der Ingenieure war beendet, aber nun zeigte sich, daß der Postvorsteher recht gehabt hatte. Es war kein ordentlicher Untergrund vorhanden. Die Kühe wollten nicht einmal mehr aus dem Bassin trinken, und das Ganze bot einen überaus trüben Anblick. Dicker schwarzer Morast lag giftig glänzend da, spiegelte in schmutzigen Lachen den leeren Himmel. Und mit dem Graben war es auch so eine Sache. Die Ränder sackten ein. Das Wasser floß nicht in ihm, es stand fest und fraß sich glucksend in die Breite.

Zu der Kommission, die das vollendete Werk begutachten sollte, war auch Willy Amende als Herausgeber der »Gohlunger Kreiszeitung« zugezogen. Die Herren konnten nicht mehr tun, als am Ufer entlanggehen und mit ihren Spazierstöcken in dem dunklen Grund herumstochern. An dem Landweg nach Gnuschkenhof, wo der Abzugsgraben begann, kletterte man in ein großes Boot und fuhr, soweit es ging, durch den Morast. Aber es ging nicht weit. Wären die Herren, außer den beteiligten Ingenieuren, nicht samt und sonders gute Gohlunger gewesen, hätten sie vielleicht sogar verlautbaren lassen, daß die kaffeegrundähnliche Masse bereits entsetzlich stank. So beschränkte man sich auf kurze Bemerkungen, daß da noch viel zu tun wäre. Der leitende Ingenieur von der Berliner Firma, deren Spezialität es war, auf die hier angewandte Weise dem Vaterland guten Wiesenboden zu gewinnen, verbreitete sich des längeren über die Güte des Grundes. Jetzt müßte man die ganze Geschichte erst einmal gründlich durchfrieren lassen. Frost täte in solchem Falle immer Wunder. Und dann müßte man im Frühjahr sobald als möglich mit den Anpflanzungen beginnen. Die Ränder des Grabens, der wohl noch einmal nachgebaggert werden könnte, müßten mit festen Rasenstücken belegt werden. Die übrige Fläche wäre wohl am besten anzusäen.

»Aber wie?« fragte der Kaufmann Knabe. »Wie kommt man überhaupt da hinauf, um zu säen?« Das war das erste laute Wort des Zweifels und Widerspruchs. Ein dumpfes Gemurmel unter den Herren folgte. Man wußte noch nicht, wohin es führen würde. Von dem nächsten Wort hing alles Weitere ab. Vielleicht setzte sich der Kahn in schwankende Bewegung und schaukelte den Geist des Aufruhrs. Herr Bürgermeister Wilcke setzte eine undurchdringliche Amtsmiene auf, beruhigte und fand sogar Töne des Vorwurfs: »Ja, meine Herren, wenn Sie das Werk, das hier vollendet ist, nur bekritteln wollen!« Aber man wollte es gar nicht bekritteln, man hätte es viel lieber laut gepriesen. Der Widerspruch in Gestalt des Kaufmanns Knabe duckte sich, der Aufruhr war für den Augenblick niedergeschlagen. Man setzte die Hoffnung auf den Frost.

Nachher wurde die Angelegenheit in Winklers Hinterstube durchgesprochen. Das Schlimme war, daß alle Welt am nächsten Tag einen Bericht über die Tätigkeit der Kommission in der Zeitung erwartete. Amende sah die Sache zunächst nicht einmal bedenklich an. Er versteifte sich darauf, daß der gute Boden sich schon allmählich heraufarbeiten würde. Natürlich würde es Jahre und Jahre dauern, aber dann würden doch schließlich fette Viehherden auf grünen Triften dort weiden. »Nur nicht nachlassen!« Heinz Winkler gab ihm nicht unrecht, aber auch nicht recht. Die Geschichte hatte ein Heidengeld verschlungen. Soviel Steuerzuschlag wie in den letzten drei Jahren hätte man seit Menschengedenken nicht mehr zahlen müssen. Aber schließlich: Berlin war eine große Stadt, und wenn Berliner Ingenieure die Sache in die Hand genommen hätten, würden sie doch wissen, wozu! Das Schlimme aber war die geradezu hohnvolle Ablehnung des Kreissekretärs. »Wozu?« donnerte er bismärckisch. »Um einen großen Klumpen Gold zu verdienen! Was schert sich die Gesellschaft darum, was nachher aus dem stinkenden Morast wird?« Die durchaus feindselige Ablehnung des Landratsamts war damit ein für allemal ausgesprochen. Winkler und Amende suchten zu beruhigen. »Aber Herr Kreissekretär, was haben Sie nur auf einmal gegen den See?«

Herr Schäfer hatte allerhand dagegen. Zunächst einmal war zu betonen, daß er mit dem Herrn Bürgermeister nicht hätte tauschen wollen, auch wenn der selbständig war und nicht bei jeder Gelegenheit, wie er sich so vornehm ausdrückte, den Vorgesetzten fragen mußte, wie er, der Kreissekretär. Als ob er es nicht an Selbständigkeit mit jedem Bürgermeister aufnähme! Und schließlich war man doch die vorgeordnete Aufsichtsbehörde, die doch denn etwas besser in den Akten und den Paragraphen Bescheid wüßte. Und was das Gehalt anbetraf, so wollte man erst recht nicht mit dem Herrn Bürgermeister tauschen, besonders nicht, seit noch die Kreissparkasse allerhand abwarf. Dies alles setzte Herr Schäfer noch einmal ausführlich auseinander, damit man nicht etwa denken sollte, daß ein Rivalitätsverhältnis zwischen ihm und Herrn Wilcke bestünde. Davon konnte keine Rede sein. Aber was der Magistrat unternahm, fand noch lange nicht die Billigung des vorgeordneten Landratsamtes. Man hätte bei der ganzen Seegeschichte ein Auge zugedrückt, trotz mancherlei Warnungen.

»Ihr habt gar nicht gewarnt!« warf Heinz Winkler ein.

Aber Herr Schäfer bestand darauf, daß gewarnt worden wäre, wenn auch natürlich in feiner kameralistischer Weise. Herr Schäfer gebrauchte dieses Wort selten, dann aber um so eindrucksvoller, und dagegen war nichts mehr einzuwenden. Die Wahrheit aber war, daß sich der neue Landrat, Herr von Sack, gegen das Seeprojekt ausgesprochen hatte, und Herr von Sack war ein schneidiger und scharfer Herr, in allem das Gegenteil von dem gemächlich breiten Grafen Kanitz. Seit Herr von Sack im Dohnaschlößchen residierte, hatte Herr Schäfer noch weniger Veranlassung, mit Herrn Bürgermeister Wilcke zu tauschen, und seit dieser Zeit achtete er auch genauer darauf, daß Herr Wilcke, wenn sie sich trafen, zuerst mit der Hand nach der Hutkrempe fuhr. An Bismarckähnlichkeit hatte Herr Schäfer in letzter Zeit entschieden zugenommen.

Willy Amende verließ, durch diese Zuspitzung der Situation bedrückt, Heinz Winklers Hinterstube. Er wußte nicht, wie er sich zu dem Konflikt stellen sollte. Sein Herz gehörte der Bürgerschaft, die auf die Zeitung abonnierte, inserierte und Druckaufträge vergab. Die Behörden aber hatten noch mehr Druckaufträge zu vergeben. Jedenfalls konnte es nichts schaden, wenn man in vorsichtiger Form darauf hinwies, daß der ausgetrocknete See auch im nächsten Frühjahr noch keine saftiggrünen Triften darbieten würde. Gedankenvoll setzte er sich an Tannenbergs Sekretär und nahm mit bedächtiger Hand eine Prise aus der Dose. Es war genau die Handbewegung des seligen Herrn Amende. Er hatte sich das Schnupfen schon ordentlich angewöhnt.

Eigentlich war es der neue Landrat, der ihn beunruhigte. Willy verlangte von sich selbst, daß ihm Herr von Sack gefiel. Er war tüchtig, und man merkte überall seine Hand. Im Frühling würde die neue Chaussee nach Elbing über die Zölp und Schmalbitten nach der Kreisgrenze durchgeführt sein. Es wehte ein neuer Wind. Aber man mußte sich ordentlich heranhalten. Da durfte es nicht vorkommen, daß sich das amtliche Kreisblatt mit den Verordnungen auch nur um einen Tag verspätete, und als es einmal einige Druckfehler gegeben hatte, wurde Amende aufs Schloß gebeten und bekam zu hören, daß man keineswegs auf ihn angewiesen war. Man könne ebensogut in Königsberg oder Elbing drucken lassen. Herr von Sack hatte, an seinem Schreibtisch sitzend, das Monokelauge scharf gegen ihn gewandt, der mitten im Zimmer stand. Herr Schäfer, der mit einem Aktenstoß hereintrat, wagte nicht die mindeste Begrüßung, nicht einmal mit einem Augenzwinkern. Die Atmosphäre klirrte von Stahl und Eisen. Willy zwang sich zur Anerkennung. Es war Rhythmus der neuen Zeit, und unwillkürlich zog er in seinem eigenen Betrieb die Zügel fester an.

Mutter Amende bemerkte zuerst die Veränderung, die mit ihm vorging. Vielleicht überarbeitete er sich. Außer der Tätigkeit des alten Herrn Amende behielt er alles in der Hand, was ihm früher oblegen hatte. Eine neue Kraft einzustellen, erschien nicht angängig. Aber es war nicht die Arbeit allein, die ihn ernster und heftiger werden ließ. Es war »der Rhythmus der neuen Zeit«, dem er selbst entgegengedrängt hatte und gegen den seine weiche Natur sich im Grunde sträubte. Alte Träume von einem stillen Gelehrtenleben, wie er es sich in seiner Gymnasiastenzeit vorgestellt hatte, wurden wieder lebendig. Er erwog den Plan, wenigstens für sich weiterzuarbeiten, Bücher zu lesen, vielleicht philosophische. Kants »Kritik der reinen Vernunft« mußte man wohl gelesen haben. Eines Tages nahm er den kleinen dicken Reclamband in sein Schlafzimmer hinauf. Aber er verstand nichts, ebensogut hätte er zufällig durcheinandergewürfelte Wörter lesen können. Es war nichts mit der Philosophie. Das ruhige Land der Wahrheit hatte sich ihm verschlossen, ihm blieb nur übrig, zu tun, Fabrik zu werden, »Willy, der Macher« zu sein. An diese kleine Entgleisung in die Wissenschaft mußte er jetzt denken, als er am Schreibtisch saß und für die morgige Zeitung seinen Bericht über die Seekommission aufsetzte.

Als er eine Weile geschrieben hatte, fiel ihm ein, was ihm eigentlich schon den ganzen Tag im Sinn gelegen hatte. Schon als er mit den Herren den Kahn bestieg, hatte er gewußt, daß er mit seinem Bericht gegen Abend bei dem Herrn Postvorsteher vorsprechen würde, um ihn um Rat zu fragen. Es sollte sich natürlich nur um eine kurze sachliche Unterredung handeln, denn Herr Ambrus schien von diesen Dingen etwas zu verstehen. Aber vielleicht machte es sich auch, daß man mit Fräulein Paula über Regine plaudern konnte. Er hatte seit Wochen weder Regine noch einen der Ambrus' gesehen, obwohl Richard schon mehrmals von Braunsberg herübergekommen war.

Gegen sechs ging er die kurze Bergstraße hinunter und die polnische Vorstadt entlang. Im Wohnzimmer des weißen Hauses mit den vier Edeltannen brannte Licht. Stine, die ihn kannte, führte ihn ohne Umstände hinein. Da saßen alle vier Ambrus' um die Hängelampe. Die O-chen in ihrem Korbstuhl, Herr Ambrus bastelte an einem Gewehrschloß, Mutter Ambrus besserte Wäsche aus, Paula schrieb einen Brief an eine Elbinger Freundin.

»Entschuldigung!« sagte Amende. »Das Mädchen führte mich hier so hinein.« Sein Eintreten verursachte eine kleine Revolution. Frau Ambrus ließ schnell einige diskret zu behandelnde Wäschestücke im Nähkorb verschwinden und überlegte sich, was man zum Abendessen da hatte. Man bat Herrn Amende Platz zu nehmen, bis die Lampe im Salon angesteckt wäre. Er aber wollte »nur etwas ganz Sachliches und Unpersönliches« mit dem Herrn Postvorsteher besprechen. »Die Damen können natürlich ruhig zuhören, aber es wird sie langweilen.« Paula war für Zuhören, aber Herr Ambrus meinte, daß man ernste Angelegenheiten ohne Frauen besprechen müßte, und gab Anweisung, die Lampe in seinem Arbeitszimmer in Ordnung zu bringen.

»Wissen Sie, was mir eingefallen ist, Herr Amende?« sagte Paula, »Sie müssen sich für Ihren Laden zu Weihnachten Christbaumschmuck bestellen. Es gibt in der ganzen Stadt keinen vernünftigen. Chenilleäffchen, Lamettaketten, goldene Sterne und Engel.«

»Aber Paula!« rief Frau Ambrus entsetzt. »Du kannst doch Herrn Amende keine Ratschläge erteilen.« Willy aber war sehr für den Weihnachtsschmuck. Es passe sehr gut zu seinem Geschäft, und es wären ja auch im Grunde Papierwaren. Paula war Feuer und Flamme. Wenn er Weihnachtskarten verkaufe, wie sie gesehen hätte, müsse er auch geklebte Krippen aus Pappe und Baumschmuck führen, und ein ganzes Weihnachtsschaufenster müsse er einrichten.

Stine hatte die Lampe gefüllt und in das Arbeitszimmer gestellt. Die Herren gingen hinüber.

Der Postvorsteher fand den Bericht viel zu vorsichtig. Die Stadt wäre Betrügern zum Opfer gefallen. Niemals würde aus dem See Weideland werden, nicht einmal Torf könnte man dort stechen. Wahrscheinlich aber würde der Morast eine Brutstätte für Mückenschwärme und schädliche Insekten werden, ein Malariapestherd. »Da wachsen diese Schwindelfirmen wie Pilze aus der Erde. In Berlin und den anderen großen Städten ist die verdammte Terrainspekulation nun zusammengebrochen, und man stürzt sich auf die Provinz. Im Grunde sind das alles noch die fünf Milliarden, die uns die Franzosen gezahlt haben, mein lieber Herr Amende. An diesem Geld verreckt jetzt ganz Deutschland. Was herauskommt, das sehen Sie hier einmal: ein Stück Dreck!«

Willy hatte bisher nur dunkel von Gründerjahren und Terrainspekulation gehört. Es imponierte ihm sehr, daß der Herr Postvorsteher mit diesen Worten schaltete, als entblößte er die tiefsten Zusammenhänge. Aber es leuchtete ihm ein. Natürlich, da warfen ein paar Berliner Ingenieure mit großen Worten von rationeller Bodenausnützung um sich, fanden Dumme und entrierten große Projekte, an denen sie Tausende und Tausende verdienten, gleichgültig, welche Werte dabei zerstört wurden. Es wollte Willy Amende dunkel schwanen, als wenn auch solche Geschäftsmethoden zum »Rhythmus der neuen Zeit« gehörten, nicht nur der scharfe Monokelblitz des Herrn Landrats. Ihm fiel ein, was der selige Vater über die »Rechenmeister« gesagt hatte. Wenn das »die neue Zeit« war, konnte einen ein Grausen ankommen.

Aber er konnte sich nicht entschließen, seinem Bericht eine schärfere Tonart zu geben. Herr Ambrus redete auf ihn ein: wer unterstützt denn einen solchen Wahnsinn? Er sollte doch gefälligst einmal darüber nachdenken! Da wären die Arbeiter, die Arbeit bekämen. Da wären die Unternehmer, die ihre Arbeiter gottsjämmerlich bezahlten und den Gewinst in die Tasche steckten. Da wäre der Pächter der Kantine, der den Arbeitern wieder ihre kümmerlichen Groschen abnähme. Da wären die Lieferanten, die verdienen wollten. Zehn, zwölf Menschen hätten ein Interesse daran, redeten zu, sprächen von allgemeinem Nutzen, schüfen eine öffentliche Meinung, bearbeiteten die Stadtverordneten, wenn sie es nicht selbst wären. Und da sollten die Berliner nicht mit ihren Schwindelprojekten durchdringen!

Herr Ambrus hatte sich ins Zeug gelegt. Aber als er zum Ende kam, ließ er den Kaiser-Friedrich-Bart auf die Brust sinken und hatte traurige Augen. Er sah immer, was vorging, aber er konnte nicht helfen.

Natürlich sollte Willy zum Abendessen dableiben, und er wäre so gern geblieben. Aber was er eben von dem Postvorsteher gehört hatte, regte ihn doch zu sehr auf, als daß er den Abend gemütlich verplaudern konnte, selbst wenn der Name Regine des öfteren fallen sollte. Er versprach, an einem der nächsten Abende wiederzukommen und auch das Ladenfenster, in dem für gewöhnlich nur Drucksachen ausgestellt waren, mit Hilfe von Fräulein Haase in eine Weihnachtsausstellung zu verwandeln. Dann ging er zum Bürgermeister, um auch mit diesem noch schnell über den See zu sprechen.

Nichts erinnerte bei Herrn Wilcke mehr an dessen siegesgewisse Haltung vom Vormittag. Willy sah nach den ersten Sätzen, daß Herr Ambrus mit allem recht gehabt hatte. Hinter dem Stadtverordneten Sowieso standen der Unternehmer, der die Arbeiter besorgt hatte, und der Pächter der Kantine. Der Zimmermeister, der die Balken geliefert und zugeschnitten hatte, war selbst Stadtverordneter, ein anderer Stadtvater hatte sonstige Lieferungen vergeben.

»Und was mag bei der Sache verdient worden sein?« fragte Amende.

Der Bürgermeister zuckte die Achseln. Natürlich war verdient worden, aber es ging alles mit rechten Dingen zu. Sollte man etwa die Sache nicht den Fachleuten der Stadt in die Hand geben? Nur der See war futsch!

Ob sich denn niemand gegen das Projekt ausgesprochen hätte?

Natürlich nicht! Denn an so einem Unternehmen verdienen doch schließlich alle, die Kaufleute, die Arbeiter, die Unternehmer, die Lieferanten, alle Gewerbe, die ganze Stadt. Ob denn die Firma Amende nicht auch ihren Nutzen von der Sache gehabt hätte? Amende sollte nur nachdenken: die Arbeiter lasen die Zeitung, schrieben Briefe und brauchten Briefpapier, der Unternehmer hätte mehrfach inseriert und was dergleichen Dinge mehr wären.

Es war keine »Affäre«, kein Skandalpunkt. Nirgends waren übermäßige Gewinne gemacht. Niemand war bestochen worden. Es hatte nur eben niemand ein Interesse daran gehabt, daß das Projekt nicht ausgeführt würde. Die Berliner Firma hätte den Plan ausgearbeitet und unterbreitet. In öffentlicher Stadtverordnetenversammlung wäre die Sache durchberaten und besprochen worden. Jetzt sollte man einmal einen Schuldigen ermitteln! Die Sache lag vier Jahre zurück. Man hatte eben Pech gehabt. Ebensogut hätte der See ja den besten Weidegrund geben können.

Tief bekümmert ging Willy nach Hause. Von den verschiedensten Seiten aus betrachtet, war die Angelegenheit niederschmetternd. Geradezu niederschmetternd. Da hatte man gerechnet und gerechnet, Projekte entworfen, drei Jahre gearbeitet, geglaubt, der Allgemeinheit einen großen Wert zuführen zu können, und das Ergebnis war dieser Riesensumpf. Vielleicht war es doch nicht richtig, den Gewinn erjagen zu wollen. Er dachte an den Abschiedsbrief seines Vaters. Vielleicht waren jetzt alle Menschen zu sehr »Macher«. Wo er hinsah, dasselbe rastlose Arbeiten auf den Erfolg hin. Das Konfektionshaus A. E. Seidel, sein Freund Heinz Winkler, der Kaufmann Knabe, der Kolonialwarenhändler Scheffler – alle, alle arbeiteten sie mit dem ganzen Aufgebot ihrer Kräfte, suchten sich zu vergrößern und den Umsatz zu steigern. Wo sich eine Verdienstmöglichkeit zeigte, rannten sie wie die Besessenen hin, und er selbst war nicht anders. Als er die Treppe zur Wohnung hinaufging, leistete er den großen Schwur, stets in allererster Linie das Wohl der Gesamtheit ins Auge zu fassen. Aber den Bericht über die Seekommission mußte man doch vorsichtig halten!

Der Dezember kam und brachte noch immer keinen Frost. Wie eine trostlose Mondlandschaft lag die schwarze moorige Fläche da. Die Straßenjungen bekamen heraus, daß man mit Brettern, die man immer weiter vorschob, bis zum Abzugsgraben gelangen konnte. Sie wunderten sich, daß weder die Polizisten Daniel und Geball noch andere Herren, nicht einmal der Herr Bürgermeister sie anschnauzten, wenn sie sich mit ihren Brettern auf dem Morast vergnügten, sondern stehenblieben und sie gar ermunterten. Sie zeigten den einzigen Weg, wie man im nächsten Frühjahr Gras ansähen konnte, um wenigstens zu vermeiden, daß der Modergeruch die ganzen anliegenden Straßen verpestete. Es stand schon jetzt fest, daß dieses Gras natürlich niemals zu gebrauchen sein würde, aber der Blick schweifte dann doch wenigstens über weite grüne Flächen. Wenn man die Wahrheit sagen wollte, so mußte man schon gestehen, daß es unten am See, besonders in der Seestraße, mörderlich stank. Keiner der Anwohner ließ je ein Wort darüber verlautbaren, wenn sie auch alle unter der Hand versuchten, ihre Häuschen zu verkaufen und weiter hinauf in die Stadt zu ziehen. Auch die »Gohlunger Kreiszeitung« berichtete nichts über den Gestank, um die Häuschen nicht vollends zu entwerten, ja einmal erschien sogar eine kurze Notiz, daß der Wert dieser Häuser beträchtlich steigen würde, weil man erwarten durfte, daß wenigstens am Rand des ehemaligen Sees prachtvolles Gartenland zu gewinnen wäre. Amende hatte sich diese Notiz in vielen Kämpfen abgerungen. Der Tischler Tannenberg und der Gemüsehändler Kloß, die dort wohnten, wollten sich mit einigen Inseraten und Druckaufträgen erkenntlich zeigen, aber es wurde ihnen abgewinkt.

Willy Amende ging jeden Tag einmal die Wasserstraße hinunter zum See und stand lange an der Stelle, wo er einst Regine über die Möglichkeiten der Mischehe beraten hatte. Wie schön war es früher hier gewesen, wenn das Wasser zwischen den Häuschen und Gartenzäunen hindurchblänkerte. Rechts und links der Wasserstraße lagen auf kleinen Bodenerhöhungen, die sich jedoch kräftig aus der Landschaft heraushoben, Dohnaschlößchen und Schloß und schauten das eine wie eine Trutzburg, das andere in lieblicher Rundheit, weithin über die Fläche bis zu den dunklen Wäldern am Horizont. Jetzt standen sie trostlos am Rand einer Wüste. Es war, als ob der entsetzliche Sumpf seine Schmutzfarbe bis zum Himmel aufwarf, wo die Winterwolken drohend mit hängenden Bäuchen dahinzogen. Willy konnte das Bild nicht loswerden. Vor dem Einschlafen überfiel es ihn jetzt ständig. Er sah dann die ganze Erde durch die Betriebsamkeit der Menschen in einen solchen Sumpf verwandelt, malte sich aus, wie der Morast weiter und weiter fraß, ekles Gewürm darin wimmelte, giftige Dämpfe in schillernden Blasen aus der Tiefe stiegen und zerplatzten. Manchmal sah er in seinen Gedankenphantasien Menschen dort umkommen, ganze Scharen von Menschen, mit den Händen um sich schlagen, angefressen von der sauren Schärfe des Schmutzes und hilflos versinken. Es war wie eine Vision, die ihn jeden Tag von neuem überfiel, obgleich er glaubte, seine Gedanken lenken zu können. Die Unterhaltungen mit Herrn Ambrus und dem Bürgermeister hatten etwas in ihm aufgewühlt, was nur langsam zur Ruhe kommen wollte. Wäre von Unterschlagung, Bestechung und allen Sorten von Korruption die Rede gewesen, hätte es ihn nicht einmal derartig beunruhigt. Aber daß ein solches Resultat heraussprang, wo brave Geschäftsleute nur innerhalb der durchaus erlaubten Grenzen gehandelt und verdient hatten, das erschütterte ihn im Tiefsten, und es dauerte Wochen, bis er sich damit abgefunden hatte.

Ganz gewiß war die Arbeitsleistung, die auf den Schultern des jungen Chefs lastete, zu schwer. Immer mehr mußte er durch Schärfe ersetzen, was ihm an Zeit fehlte. Da hatte Fräulein Haase einen Stoß weißer Druckkartons in einer Ecke des Ladens liegen und vergilben lassen. Die Ränder waren braun und wie angesengt. Der Maschinenmeister vergeudete Walzenmasse und beim Stereotypieren unverhältnismäßig viel Blei. Blei war kostbar. Wie, wenn der Mann allmählich Zentner und Zentner davon auf die Seite brachte? Es wäre ein lohnendes Geschäft gewesen. Willy Amende konnte nicht mehr hinten und vorn zugleich sein, aber wenigstens konnte er Stichproben machen und die Leute anranzen, damit sie sich beständig kontrolliert fühlten und Angst hatten. Er litt selber unter seiner Schärfe, aber eine unbestimmte Furcht trieb ihn vorwärts. Wenn das Amtliche Kreisblatt herauskam, las er drei-, viermal Korrektur, um nur ja keinen Druckfehler stehenzulassen. Er fühlte sich dann wie vor einem wichtigen Schulextemporale. Mitten in der Nacht fiel ihm ein, den Verbrauch des Maschinenöls überwachen zu müssen, oder er fragte sich nach dem Verbleib der Stricke, mit denen die ankommenden Papierballen umschnürt waren. Wenn er nicht aufpaßte, konnten Hunderte von Talern einfach versacken, und er mochte sich dann wundern, warum er die Miete nicht herauswirtschaftete, ganz zu schweigen von den viertausend Talern, die für die Schwestern noch aufzubringen waren. Er allein trug die Verantwortung für die ganze Familie und für die Firma Amende, die jetzt bald dreißig Jahre bestand. Wenn er versagte, konnte alles hinstürzen. Wer schützte ihn davor, daß er nicht vielleicht wie die Stadtverwaltung Tausende und Tausende in einen Sumpf warf. Wenn zum Beispiel die Elbinger Zeitung eine Filiale in Gohlungen errichtete und mit ihren größeren Mitteln seine Kreiszeitung an die Wand drückte? Wenn er sich mit dem Landrat überwarf und den Druck des Amtlichen Kreisblatts verlor? Solche Angstgesichte tauchten jetzt ständig vor ihm auf und hetzten ihn weiter. Noch war er lange, lange nicht unangreifbar. In einer Zeit der schonungslosen Wirtschaftsmethoden konnte er noch immer überrannt werden.

Er dachte an die Geschichte, wie sein Vater nach Gohlungen gekommen war. Da hatte in der Schmiedestraße die alte Pastorsche Druckerei bestanden. Eines Tages hatten sich einige Gohlunger Bürger mit Herrn Pastor überworfen, hatten an Breitkopf und Härtel in Leipzig nach einem tüchtigen Buchdrucker geschrieben, der Vater war angekommen, sie hatten ihm mit einigen hundert Talern die kleine Druckerei im Eckhaus am Markt eingerichtet, und zwei Jahre darauf konnte Herr Pastor seine Bude schließen und mußte noch froh sein, daß der Vater ihm wenigstens seine Druckpresse und die Schriften abkaufte. Wo mochte Herr Pastor jetzt stecken? Sein Sohn stand vielleicht irgendwo an einem Setzkasten und setzte, bis er alt und grau wurde, indes er, der junge Amende, mit Tausenden rechnete. Das Leben war grausam. Aber vielleicht schrieben in diesem Augenblick schon wieder einige Bürger nach Leipzig. Vielleicht hatten sich einige über seine Haltung bei der Seeangelegenheit geärgert. Wieviel brauchte man, um ihn aus dem Sattel zu heben? Er beruhigte sich damit, daß es nicht mehr so ganz einfach war. Es mußten schon viele Umstände zusammentreffen. Aber manchmal trafen viele Umstände zusammen. Es war nichts vorauszusehen.

Die Angestellten trugen die Schärfe und das ewig wache Mißtrauen des jungen Prinzipals mit Geduld. Es ging in anderen Betrieben schließlich nicht anders zu. Das Andenken an den seligen Herrn Amende erlosch allmählich. Von den Lehrlingen war es ausgegangen, dann schlossen sich die Setzer dem Brauch an und schließlich sprachen auch der Faktor und der Maschinenmeister von Willy nicht mehr anders als vom »Alten«. »Der Alte kommt!« hörte Willy einmal rufen, als er rasch in die Setzerei gekommen war. Man vergaß über dem ernsten, immer ein wenig beunruhigten Gesicht seine fünfundzwanzig Jahre. Der Zustand war endgültig geworden. Nun konnte Willy dreißig Jahre lang der »Alte« sein, bis man ihn vielleicht eines Tages aus dem Privatkontor in die Wohnung oben hinauftrug.

Aber kurz vor Weihnachten wurde die Stimmung besser. Der Himmel heiterte sich auf. Eine Nacht und einen ganzen Tag lang und wieder eine Nacht war Schnee gefallen, und nun glänzte die Himmelsglocke in azurnem Blau. Das Thermometer zeigte fünf Grad unter Null. Der See lag als weite weiße Fläche, als ob unter dem Schnee die fruchtbarsten Weidegründe schliefen. Das Rollfuhrwerk von Günther hatte eine große Kiste angefahren, bei deren Öffnung der Chef persönlich zugegen war. Hervor kam der aus Leipzig verschriebene Christbaumschmuck. Fräulein Haase stieß lauter Achs und Ohs hervor. Mutter Amende wurde heruntergeholt, um zu bewundern. Da waren silberne und goldene Engel, lange Ketten aus bunten Glaskugeln mit silbernen Fransen dazwischen, goldene Sterne, Kerzenhalter mit neuartigen Scharnieren und endlich Äffchen, Zwerge, Chinesen aus weichhaariger Chenille. Ein Äffchen mit großem Schirm und verschiedene Kartons mit bunten Kugeln, eine große silberne Baumspitze und zwei große leuchtende Sterne nahm Willy zu privatem Gebrauch beiseite. In der Wohnstube sollte diesmal für die Mutter und die aus Königsberg mit ihren Familien erwarteten Schwestern ein besonders schöner Baum ausgeputzt werden, obwohl die Trauer um den Vater noch in allen Winkeln hing.

Am nächsten Tag schleppte Pörschke für das Ladenfenster einen kleinen Tannenbaum herbei. Mutter Amende, Willy und Fräulein Haase schmückten ihn gemeinsam. Man stellte ihn auf die rechte Seite ins Fenster. Links von ihm und um seinen Fuß herum ordnete man die schönste Weihnachtsausstellung, die man sich denken konnte. Da gab es Briefkartons mit aufgedruckten Tannenzweigen, Billetts, auf denen in goldener Schrift »Fröhliche Weihnachten!« zu lesen war, Karten mit Engeln und brennenden Christbäumen. Auch einige Bücher lagen da wie auf einem Weihnachtstisch. Das Schönste aber war der ausgestellte Baumschmuck. So etwas hatte man in Gohlungen noch nicht gesehen. Frau Bäckermeister Lagenpusch kam mit ihren beiden Enkeln an der Hand und sah lange zu, und auch die Wirtin des Apothekers Schnepper stellte sich vor dem Fenster auf und suchte die Preise zu entziffern. Am Mittag wurde Pörschke mit einer besonders schönen Karte in die polnische Vorstadt geschickt. »Die Firma Amende beehrt sich, Frau Postvorsteher Ambrus nebst Fräulein Tochter um vier Uhr zur Besichtigung ihrer Weihnachtsausstellung einzuladen.« Unterschrieben war die Einladung von Mutter Ernestine und Willy. Den Herrn Postvorsteher selbst wagte man nicht zu belästigen.

Punkt vier, als die Uhr vom Rathausturm die Stunde anzeigte, sah man die Damen Ambrus über den Markt kommen. Frau Ambrus hatte zum Schutz gegen die Kälte ein großes Tuch umgenommen, Paula aber trug ein blaues, pelzbesetztes Kostüm mit einer schwarzen Samtkappe. Sie hatte es im vorigen Jahr zu Weihnachten geschenkt erhalten und in Gohlungen noch nicht getragen. Daß sie es gerade jetzt anzog, war der Gipfelpunkt ihrer Rache an Erich Steinbock. Als sie, von Herrn Amende empfangen, in den Laden eintraten, hatte Fräulein Haase gerade zwei Kantons von den bunten Glaskugeln verkauft und zählte nun ein Dutzend von den neuen Lichthaltern für Frau Amtsrichter Eichholz ab. Das war das Schönste für Paula, daß sie vor der »dummen Pute« in dem Amendeschen Laden so recht vertraut und heimisch tun konnte. Oben durfte sie heute sogar die Spieldose aufziehen. Frau Amende hatte die Walzen mit den Weihnachtsliedern eingelegt. In dünnen, zitternden Blechtönen erklang »Stille Nacht, heilige Nacht«. Paula und Willy standen vor dem Apparat am Spiegel, und es sah fast so aus, als ob sie Arm in Arm dastünden. Mutter Ernestine goß Mutter Jettchen den Kaffee in die Meißener Tasse. »Ach ja, Frau Postvorsteher, man hat schon mit den Kindern was, wenn sie herangewachsen sind.«

»Jaja, meine liebe Frau Amende, bis da alles im Lot ist, wie man es haben möchte!« Mutter Ambrus dachte an Richard und Regine. Wenn doch nur mit Paula alles schön glatt ginge! Sie dachte, daß der junge Herr Willy ein netter Mensch zu sein schien. Die Spieldose spielte jetzt »O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!«


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