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6.

Frau Steinbock erhob in allen wichtigen Dingen die entscheidende Stimme, und niemand widersprach ihr. Seltsamerweise blieb diese Stimme manchmal ohne Einfluß auf die Begebenheiten. Frau Steinbock gefielen die Ambrus' nicht. Wahrscheinlich hätten sie sein können wie immer, und Frau Steinbock hätte sich gegen sie gesträubt. Sie wollte überhaupt nicht, daß außer den Verwandten und allenfalls noch Nachbarn Menschen da wären. Menschen bringen Verwicklungen und Unruhe. Wußte man, was alles man sich von diesen Ambrus' eines Tages zu versehen haben würde? Und solche langen Freundschaften aus der Jugendzeit waren überhaupt außer der Ordnung und eine künstliche Geschichte. Aber Herr Steinbock fand, daß die Ambrus' nun einmal da wären, und so waren sie da.

»Was willst du das viele Geld für die städtische Jagd ausgeben?« sagte er zu Herrn Ambrus. »Dir ist es doch nur um das Herumstrolchen zu tun, und die Tiere tun dir zu leid zum Abschießen. Komm mit deiner Flinte nach Schwenkendorf. Ich geb dir im Jahr zwei Böcke; und Hasen, Enten und Rebhühner, soviel du willst. Aus der städtischen Jagd holst du die Pacht nicht heraus.«

Aber Herr Ambrus wollte doch lieber die städtische Jagd pachten, wo ihm keiner dreinredete. »Du weißt nicht, was alles im Amt zu mir gelaufen kommt. Da will der das und der das. Man kommt keinen Augenblick zur Ruh. Dann gehe ich eben mit meinem Hund los und bin mein eigener Herr.« Außerdem gefiel ihm der Stadtwald, und er hatte gehört, daß im Herbst einige Hirsche hindurchwechselten. Vielleicht könnte er einen zum Schuß bekommen. »Aber du bist zu gut zu mir, alter Kerl«, sagte er ganz gerührt über Steinbocks Entgegenkommen. »Viel zu gut zu mir.«

»Aber Mensch«, sagte Herr Steinbock, »hast du denn ganz vergessen, wie du mir damals die Fischermarjell aus Trautzig abgetreten hast?«

»Ach die!« sagte Ambrus und lachte. Er hatte die Liebesepisode aus der Jugend des Freundes tatsächlich vergessen, und jetzt stellte es sich heraus, daß diese Geschichte der eigentliche Grund von Steinbocks Anhänglichkeit war. Es handelte sich um eine sehr alltägliche Geschichte von einem Mädchen, das zunächst dem Eleven Ambrus nachlief und dann, da sich Ambrus aus ihr nichts machte, mit dem Eleven Steinbock einen Wonnemond verlebte. Den einzigen, den Steinbock seinen strengen Grundsätzen abgetrotzt hatte und an den er als an die eigentliche Blütezeit seines Lebens zurückdachte. Dieses Fischermädchen vom Trautziger See war die Ursache, aus welcher Frau Steinbock gegen die Familie Ambrus nicht ankonnte. Sie ahnte nicht, welche Palisaden sie vergeblich bestürmte.

Alle anderen Glieder der beiden Familien waren durchaus für Aufnahme eines freundschaftlich-nachbarlichen Verkehrs, und Regine legte sogleich Hand ans Werk, um hier nichts einschlafen zu lassen, bevor es recht begonnen hatte. Sie hatte sich wenige Tage nach Richards Abreise zu vergewissern gewußt, daß einer Mischehe nicht unüberwindliche Hindernisse in den Weg gelegt sind. Es war nicht leicht gewesen, diese Wissenschaft zu erlangen, da sie keinen der Ihrigen, so kurze Zeit, nachdem der gewaltige Richard dagewesen war, zu fragen wagte. Sie konnte auch nicht ihrem Seelsorger im Beichtstuhl auch nur eine Silbe von ihren Zweifeln verraten, da alles noch so fern und ungewiß war. So war sie auf einen merkwürdigen Plan verfallen. Eines Morgens fuhr sie mit Anna und Erwin zur Stadt hinein, besuchte Paula Ambrus, um die Zeit bis zur großen Pause unterzubringen, und ging dann sichern Schritts zu der Privatschule, wo die Zöglinge um zehn Uhr herum eine Viertelstunde im Garten spazierten und Herr Kandidat Ollech hochgereckten Hauptes unter ihnen auf und ab ging. Der Garten lag nach der Straße zu, und es ging ganz natürlich so einzurichten, als käme sie zufällig vorbei. Herr Ollech, der die ganzen Pausen über auf Vorbeigehende spitzte, sah sie sogleich und grüßte tief und ehrerbietig, und wie einer augenblicklichen Laune folgend, trat Regine an den Zaun, um den Kandidaten nach den Fortschritten Annas und Erwins zu fragen.

Da sie die Geschwister bei den Schulaufgaben beaufsichtigte, wußte sie über alle Einzelheiten Bescheid und konnte ein Gespräch darüber beliebig in die Länge ziehen und leiten. Es stellte sich aber heraus, daß Herr Ollech die nächste Stunde frei hatte und sich ihr für diese Zeit zu allen nur möglichen Auskünften gern zur Verfügung stellte, und so ging sie denn nach einigen Minuten an der Seite des Herrn Ollech die Wasserstraße hinunter, bog im Gespräch in die Seestraße ein und ging hier, zwischen dem Burggarten des Dohnaschlößchens und dem See, dessen Wasserspiegel bereits erheblich gesenkt war, hin und her. Die schlimmste Lästerzunge Gohlungens hätte hierbei nichts Unschickliches gefunden, denn es waren ja im Grunde nicht ein junger Herr und eine junge Dame, die hier auf und ab gingen, sondern ein Lehrer und gewissermaßen eine Mutter seiner Schüler, eine Brotherrin von ihm, und dieser Spaziergang trug amtlichen Charakter. Zum erstenmal hatte sie eine heimliche Freude daran, daß ihr jetzt aus ihrer jahrelangen Emsigkeit Früchte erwuchsen. Sie hatte nicht nur himmlische Schätze dort oben gehäuft, es hatte sich auch ein stattliches Kapital von Vertrauenswürdigkeit auf Erden angesammelt, das für ihre Zwecke auszunutzen sie entschlossen war. Ganz heimlich und tief unten auf dem Grunde ihrer Seele ward sie auf einmal inne, wie weit sie sich schon von ihrem bisherigen Leben gelöst hatte. Mit der Kälte einer großen Dame lenkte sie das Gespräch, sprach zum Beispiel davon, wie schwer es für ihre Geschwister wäre, unter lauter protestantischen Kindern aufzuwachsen. Es gäbe doch hier, außer ihrer Familie, kaum Katholiken. Sie selbst hätte ja Freundinnen und befreundete Familien noch aus dem Ermland her, wo sie die Schule besuchte. Aber was sollten ihre armen Geschwister machen, wenn sie erwachsen wären? Sie kennten doch fast nur Menschen, die sie zum Beispiel nicht einmal heiraten könnten?

»Nein, nein«, sagte Herr Ollech, in die Seele seiner Schüler hinein bekümmert.

Nun hatte Regine allerdings gerade diese Antwort nicht hören wollen, und so drückte sie sich noch einmal deutlicher aus und behauptete geradezu, daß eine Ehe zwischen Protestanten und Katholiken doch ausgeschlossen wäre.

»Ja freilich«, stimmte Herr Ollech ihr bei. Er wußte über diesen Punkt nichts Bestimmtes auszusagen, aber unter allen Umständen lag es ihm fern, Fräulein Steinbock zu widersprechen. So hätte Regines ganze Veranstaltung zu keinem Ergebnis geführt, und ihr wollten schon die Tränen in die Augen treten, als zufällig Willy Amende des Weges kam.

Willy hatte wie jeden Morgen so auch heute dem Schwenkendorfer Schulwagen von seinem Laden aus aufgelauert. Das Vorbeifahren dieses Wagens war ihm der tägliche Morgengruß von dem geliebten Wesen. Vielleicht hatte ihn heute der Umstand, daß die Kinder auf den Rückplätzen saßen, auf den Gedanken gebracht, daß Regine mit in die Stadt gekommen sein müsse. Zur Sicherheit hielt er sich daraufhin vorzüglich im Laden auf, um den Marktplatz zu überblicken, und sah sie auch richtig gegen zehn Uhr in die Wasserstraße einbiegen. Gleich darauf nahm er die Aktenmappe unter den Arm, um »Druckaufträge einzusammeln«, stand eine Weile mit Heinz Winkler vor dem Laden und erwartete jeden Augenblick, daß Regine zurückkäme. Er konnte sich nicht denken, was sie in der Wasserstraße lange zu tun haben konnte. Als sie nach einer ganzen Weile nicht kam, schien es ihm notwendig, beim Tischlermeister Tannenberg vorzusprechen. Vielleicht war der geneigt, sich neue Rechnungsformulare mit Firmenaufdruck anfertigen zu lassen, die man ja mit einem neuen Regal – er brauchte eines für das Kontor von Fräulein Haase – verrechnen konnte. In der Seestraße traf er dann Regine im Gespräch mit dem Kandidaten Ollech, und wie ein Blitz durchzuckte ihn die Möglichkeit, daß sich zwischen den beiden etwas angesponnen haben könnte. Ihm fiel ein, daß es Ollech gewesen war, der ihn dem Fräulein Steinbock vorgestellt hatte. Immerhin wurde auch das Furchtbarste durch das Glück aufgewogen, nunmehr mit vollster und auch ganz unbestreitbarer Berechtigung grüßen zu dürfen, ja zu müssen. Aber alle Erwartungen, die man an einen solchen Augenblick anknüpfen konnte, wurden übertroffen, denn Regine hatte sich im Augenblick überlegt, daß Herr Amende als ein Mann, der mit einer Zeitung zu tun hatte, sicher in allen Fragen die beste Auskunft erteilen konnte, und sie machte mit solcher Korsarenkühnheit fast einige Schritte auf ihn zu, daß Herr Ollech ihn heranwinken mußte, obwohl er es ungern tat, und so gingen sie denn zu dritt zwischen See und Dohnaschlößchen hin und her und sprachen über die schwierige Lage katholischer Kinder, die im protestantischen Oberland aufwuchsen.

*

Regine konnte freilich nicht ahnen, aus welchem Grunde Willy Amende über die sie bewegende Frage die beste Auskunft zu geben imstande war, und da ihn im Augenblick der Gedanke, wenn auch als Unmöglichkeit, durchzuckt hatte, daß die Bestimmungen über die Mischehe für Fräulein Steinbock und den Kandidaten von aktueller Bedeutung wären – womit er der Wahrheit sehr nahe und sehr fern zugleich war –, verstand er, wohinaus Regine wollte, und sagte: »Ausgeschlossen nicht! Eine katholische Dame darf einen Protestanten heiraten, wenn die Trauung in der katholischen Kirche vollzogen wird und der andersgläubige Mann sich verpflichtet, dafür zu sorgen, daß die – Verzeihung! – eventuell zu erwartenden Kinder im katholischen Glauben erzogen werden.«

»Wie ist das?« sagte Regine lachend. Aber sie merkte, daß ihr das Blut zum Herzen strömte. »Wenn die Trauung in der katholischen Kirche stattfindet und – und?« Willy Amende wiederholte: »Und wenn der Mann sich verpflichtet, die Kinder im katholischen Glauben zu erziehen.« Da keine noch so große Liebe ihn veranlassen konnte, seine mannhafte protestantische Überzeugung Mißdeutungen auszusetzen, fuhr er fort, daß er persönlich eine solche Verpflichtung niemals eingehen würde.

»Das sollen Sie auch gar nicht!« sagte Regine. »Aber jetzt muß ich leider gehen.« Ihr eiliger Abschied war ein Fehler, der leicht verhängnisvoll ausgehen konnte, und die beiden jungen Männer sahen ihr verdutzt nach.

»Habe ich Sie gestört?« fragte Willy und wurde über und über rot.

»Um Gottes willen nein!« antwortete Herr Ollech und traute sich kaum, Willys Gedankengang zu erraten. »Aber es war merkwürdig, wie Fräulein Steinbock gleich wegging, als Sie kamen. Sie hätten vielleicht doch nicht kommen sollen.« Auch Willy, der fast schon glaubte, Fräulein Steinbock aus eigener Initiative tollkühn angesprochen zu haben, hielt diese ganze Unterredung für ein bedenkliches Unterfangen, dem sich die Dame kaum anders als durch die Flucht habe entziehen können. Im übrigen fand er nunmehr, daß es ziemlich überflüssig war, Herrn Tannenberg nun noch zu einem Druckauftrag zu überreden, und verabschiedete sich vor der Schule von Herrn Ollech. Während er durch die Wasserstraße schlenderte – er hatte jetzt keine Geschäftigkeit mehr vorzutäuschen –, ging ihm mit einem Mal der Zusammenhang auf. Er sah Richard Ambrus vor dem Lakiesschen Haus stehen und den Schwenkendorfer Wagen vorfahren, entsann sich, wie er Regine hatte grüßen wollen und wie sie zu Richard Ambrus hinübergeblickt hatte. Mit der Hellsichtigkeit des Liebenden durchschaute er auf einmal alles. Er dachte an die kühne Jünglingsgestalt mit dem hochgezwirbelten Schnurrbart und den braunen Locken über dem zerhiebten Gesicht. »Regine – Richard«, flüsterte er vor sich hin. Ein weihevolles Gefühl ergriff ihn, und mit einer gehobenen Feierlichkeit, als handle es sich um die Erfüllung eigener Liebeshoffnung, gelobte er sich unverbrüchliches Schweigen. Wie ein Wächter vor den Toren eines heiligen Tempels kam er sich vor. Er zitterte fast vor Erregung, und die Brille über der ein wenig zu großen Nase funkelte, als er über den Markt seinem Geschäft zustrebte.

Regine hatte von den Klauseln zunächst nur begriffen, daß nicht jede Möglichkeit ausgeschlossen war. Sie wiederholte krampfhaft Tonfall und Wortlaut von des freundlichen Herrn Amende Auskunft, vergewisserte sich, daß sie es noch auswendig wußte, und begann dann erst über den Sinn der einzelnen Bestimmungen nachzudenken. Sie fand alles natürlich und in der Ordnung. »Wenn er mich liebt, ist alles ganz einfach«, sagte sie zu sich. Erst jetzt wurde es ihr ganz klar, was sie gewonnen hatte, und jetzt, erst in diesem Augenblick, faßte sie den großen Entschluß. Sie stand einen Augenblick dazu still, es war wie ein Gelübde, das sie tat. Sie fühlte, wie eine Kraft in ihr, durch Jahre zurückgehalten, gewissermaßen zur federnden Spirale aufgerollt, sich nun auf einmal entspannte und losrollte. Sie wollte ja nichts als neues Dienen, neue Entsagungen, neue Pflichten – das schwor sie sich und ihren Schätzen oben im Himmel feierlich in diesem Augenblick zu –, aber mit ihm und um ihn! Und dieser Wille brach wie eine fremde unwiderstehliche Macht über sie und verwandelte sie. Mit großen Schritten ging sie davon.

Das Schicksal arbeitete ihr herrlich in die Hand, daß sie in Richards monatelanger Abwesenheit ihre Vorbereitungen treffen konnte. Sie wünschte seine Rückkunft nicht einmal, bevor hier sicherer Boden geschaffen war. Mit Paula zum Beispiel war Freundschaft zu schließen und alles so einzurichten, daß sich zwischen dem Gut und dem Stadthaus ein zwangloses Hin und Her ergab. Sie handelte mit dem unbewußten Raffinement der Nachtwandlerin, überlegte sich, was alles sie zu ihren Gunsten in die Waagschale zu legen hatte, und fand, daß es viel wäre, soweit das Gut und die Pferde und die Jagd in Betracht kamen, aber wenig, soweit es ihre eigene geringe Person betraf. Zum erstenmal betrachtete sie sich mißtrauisch im Spiegel.

»Bin ich nicht eigentlich häßlich?« fragte sie Paula.

Die sah sie an, als ob es ihr jetzt erst auffiel, daß Regine auch ein Äußeres hätte. »Häßlich? Nein!« meinte sie, aber in einem so langgezogenen Ton, daß Regine begriff, wie Paula nur aus Gutmütigkeit nicht das vernichtende Urteil sprechen wollte, und da Regine sie noch fragend ansah, fuhr sie fort: »Sie müßten sich anders anziehen und sich die Haare anders machen.« Und führte sie in ihr Zimmer.

Sie teilte es mit der alten Großmutter, der »O-chen«, die sich nicht mehr recht in der Welt zurechtfand und immer jemanden um sich brauchte. Gewöhnlich saß sie in ihrem Korbstuhl und rührte sich nicht, aber sie verfolgte alles mit großen neugierigen Blicken. Wenn sie Kindern und jüngeren Menschen Gutes tun wollte, schlürfte sie mit langsamen Schritten zum »Schaff«, um »Bomchens« zu holen. Sie hielt sich in ihrer Glasbüchse immer einen Vorrat von Süßigkeiten. Von den Ihrigen behielt sie noch alles, aber wenn neue Menschen auftauchten, konnte sie sie nicht mehr recht unterbringen. Regine fragte sie jedesmal: »Wer sind Sie doch, mein liebes Fräulein?« und wenn Regine ihren Namen nannte und sagte, daß sie eine Freundin von Paula wäre, schüttelte sie den Kopf: »Die kleine Paula hat solch eine feine große Dame zur Freundin?«

»Aber O-chen«, mischte sich Frau Ambrus ein, »unsere Paula ist doch auch schon groß!«

O-chen besah sich die Enkelin verwundert: »Ja richtig, die ist ja auch schon ein großes Mädchen.«

In dem Zimmer, wo die Betten von O-chen und Paula an der Wand standen und O-chen mit großen Augen im Korbstuhl saß, machte sich Paula daran, Regine zu frisieren. Sie mußte immer gleich frisch zupacken. »Mein Gott, Regine, was haben Sie bloß für prachtvolles Haar!« und sie löste ihr die Zöpfe, kämmte die langen schwarzen Flechten durch und behielt sie eine Weile neidisch in der Hand. »Man denkt zuerst, wenn man Sie sieht, daß Sie gar nicht hübsch sind, und auf einmal entdeckt man an Ihnen immer neue Schönheiten. – Aber Ponys mag ich nun schon gar nicht leiden. Einen Scheitel müssen Sie tragen, sehen Sie so! Und dann hinten einen einfachen griechischen Knoten, und dann dürfen Sie keine Kämme dazu nehmen, sondern Sie müssen ein paar schwere silberne Nadeln durchstecken. Mutti!« rief sie, »du hast doch da noch von den großen Nadeln.«

Frau Ambrus, die immer eilig war, wenn sie etwas zu vergeben hatte, suchte aus ihrer Kommode die Nadeln hervor und steckte sie selbst ein. »Aber ja, Reginchen, nun lassen Sie sich einmal ansehen. Gut sehen Sie aus, viel besser!« Regine merkte, daß das »viel besser« das »gut« wieder zurückzog. Es war ihr ein kleiner Stich ins Herz. Sie wurde vor den Mahagonispiegel im Wohnzimmer geführt. »Das bin ich nun«, dachte sie, »ganz anders, hübsch geradezu.« Weshalb sagten sie ihr nicht, daß sie hübsch ist, einfach hübsch? Aber ihr kam dieses Spiegelbild auf einmal fremd vor, sie hatte nicht den Mut, sich anders zu machen. Es war ihr, als wäre ihr verboten, hübsch zu sein. Sie ärgerte sich über sich selbst, nahm die Nadeln heraus und flocht sich wieder ihre alten Zöpfe, die sie mit den Schildpattkämmen aufsteckte. Aber sie hatte sich doch Paulas Handgriffe gemerkt und wollte es zu Hause noch einmal versuchen.

Zu Hause zog sie Erich zu Rate. »Natürlich!« rief der, als sie sich ihm zeigte. »So wirst du dich von jetzt ab frisieren. Diese Paula ist ein gescheutes Frauenzimmer!« Er hatte sie übrigens noch immer nicht gesehen. Da behielt Regine die neue Haartracht bei. Nur die Ponys, die noch einwachsen mußten, machten ihr Schwierigkeiten, aber bis zum Spätsommer würde alles in Ordnung sein, und früher wurde Richard nicht zurückerwartet.

Eines Tages hatte sich Herr Ambrus vom Fuhrmann Günther Wagen und Pferde ausgeliehen und fuhr mit seiner Frau nach Schwenkendorf, um dort so etwas wie eine offizielle Visite abzustatten. Er wollte den Steinbocks zeigen, daß er, was Fuhrwerk und Jagd anbetrifft, durchaus nicht auf ihre Gefälligkeit angewiesen war. Paula konnte nicht mitgenommen werden, da jemand noch außer Stine bei der O-chen bleiben mußte. Für das junge Mädchen bot ja überdies täglich der Schulwagen Gelegenheit hinauszufahren. Paula schmollte, denn sie hätte gerade mit den Eltern gern eine offizielle Visite gemacht, und zum Hinausfahren mit dem Schulwagen kam es ja doch nie. Aber sie mußte sich schicken, und so fuhr das Ehepaar allein ab. Frau Ambrus strahlte vor Freude, es erinnerte sie an die Zeiten, da sie sich noch selbst Wagen und Pferde gehalten hatten. Zuerst ging es nach Gnuschkenhof, wo Frau Ambrus geboren war. Sie wollten sich den früheren Stammsitz der Gnuschkes wenigstens vom Wege aus betrachten und vielleicht auch in das Haus hineingehen, wenn es sich machte. Herr Ambrus war bei der Nähe von Gnuschkenhof mythisch bewegt, aber schon der Garten sah von außen verwahrlost aus, vom Haus bröckelte der Putz ab, und über den Hof schlich scheu und bösartig ein großer gelber Hund. Da fuhren sie weiter, ein wenig enttäuscht.

»Siehst du, Jettchen«, tröstete Herr Ambrus, »da sieht unser Häuschen schmucker aus als das ganze Gnuschkenhof.« Frau Ambrus gab sich zufrieden. Es war immerhin noch alles gut mit ihnen verlaufen.

Als sie in den Hof von Schwenkendorf einfuhren, tauchte Erichs Gestalt im Kälberstall auf, und wiederum mußte er feststellen, daß das hübsche Mädel von dem Familienbild nicht mitgekommen war. Frau Steinbock, die von dem Besuch hörte, verschwand für eine Viertelstunde und kam in dem schwarzen Seidenkleid wieder. Sie wollte den Städtern nichts nachgeben. Regine aber, die sich fast schon zu Ambrus' gehörig fühlte, sprang leichtfüßig die Verandatreppe hinab, umarmte Frau Ambrus, zog sie fast mit Gewalt vom Wagen und belegte sie den Tag über mit Beschlag. Sie ließ nicht Ruhe, bis sie Richards Eltern die Kinder und die Ställe gezeigt hatte, führte sie bis zur Fohlenkoppel und durch den Gemüsegarten und zerrte an ihren Landerinnerungen herum, um ihr Reich und sich selbst im schönsten Licht erstrahlen zu lassen.

»Ja, ja«, sagte Frau Ambrus zu Frau Steinbock, die aus Höflichkeit mitgehen mußte, »das ist ein gutes Kind!« Und Herr Ambrus fügte hinzu: »Wer die mal kriegt!« Regine wurde rot, sie ertappte sich wieder dabei, wie sie ihr ganzes angesammeltes Kapital von guten Werken ins Treffen führte.

Man muß nun aber nicht denken, daß die Freundschaft mit den Schwenkendorfern die einzigen Beziehungen der Familie Ambrus zu ihrer neuen Heimat blieben. Ganz Gohlungen lag auf der Lauer, um zu beobachten, was würde, und es wurde allerhand. Zunächst hatte sich eine seltsame Verbindung mit Kreisbaumeisters ergeben, die dem ehemals Lakiesschen Hause schräg gegenüber wohnten. Das kam so: Schon mehrere Male hatte man bemerkt, daß die junge Frau Bresgott eine herrliche Stimme hatte und allerhand schöne Lieder bei offenem Fenster sang, teils wegen der frischen Luft und teils, weil sie sich hören lassen konnte. Als sie nun wieder eines Tages die Allmacht von Schubert anfing, klappte Paula schnell den schon bereitgelegten Band auf, setzte sich ans Klavier und fiel mit der Begleitung ein. So sangen sie das ganze Lied zu Ende. Darauf begann Frau Bresgott mit dem Ganymed, und wiederum hatte Paula bald die Begleitung aufgeschlagen und akkompagnierte. Schließlich verständigte man sich durch das offene Fenster über die zu singenden Lieder, und bald sprang Paula über die Straße zu der Frau Kreisbaumeister hinüber, um sie in ihrem Zimmer zu begleiten, und auf diese Weise kam es zwischen beiden Familien zu einem Verkehr. Aber das war lange nicht alles. Nun erst mußten ja die offiziellen Visiten gemacht werden. Beim Bürgermeister wurde begonnen, dann kam der Steuerkontrolleur, dann der Kreissekretär Schäfer, dann der Rektor der Stadtschule, dann die beiden untergebenen Postmittelbeamten. Man war sehr neugierig in der Stadt, wie hoch sich der neue Postvorsteher seine Ziele steckte, und traute ihm in Anbetracht des Lakiesschen Hauses, des Klaviers, der Geweihe und der Freundschaft mit dem Rittergut Schwenkendorf allerhand zu. Selbst der vornehme Konfektionär Seidel, dessen Sohn zum 1. April glücklich Gefreiter geworden war und nun frisch auf den Unteroffizier losging, blieb am nächsten Sonntag um die Mittagszeit zu Hause und ließ im gelben Salon die Schutzüberzüge herunterziehen. Aber dann verging ein Sonntag nach dem anderen, ohne daß man Herrn Ambrus im Zylinder und seine Gattin in der schwarzseidenen Mantille gesehen hätte. Da war es klar, daß sie sich zunächst auf die Pflichtbesuche bei den Spitzen der Behörden beschränken wollten, und nur an verschiedenen Stellen sprach Herr Ambrus, wenn auch ohne Besuchsaufmachung, noch persönlich vor, um sich bekannt zu machen. Er suchte Herrn Seidel in seinem Privatkontor auf, gab seine Karte im Amtszimmer des aufsichtführenden Amtsgerichtsrats Vogel ab und hatte auch die Absicht, sich Herrn Amende in seinem Kontor vorzustellen. Aber Herr Amende stand vor seinem Laden und fertigte ihn draußen ab, denn ihm paßte Ambrus' Verkehr mit den »Katholischen« nicht. Eine Prise »Schniefke« aus seiner Dose bot er ihm an, nicht mehr.

Willy war entsetzt und sagte Schwierigkeiten bei der Expedition der Zeitung voraus. Herr Amende zuckte die Achseln, er war bereit, jeden Kampf aufzunehmen, und glaubte, über sichere Rückendeckung zu verfügen. Denn Herr Ambrus hatte einen Fehler begangen, er hatte sich eine furchtbare Blöße gegeben, ja wenn man ernsthaft nachrechnete, zwei Fehler und zwei Blößen.

Es war eine Sache, die Willy Amende mehrere schlaflose Nächte bereitete. Er fühlte sich auf Grand unbestimmbarer seelischer Beziehungen, die über Regines Person liefen, verpflichtet, Herrn Ambrus zu warnen. In Heinz Winklers Hinterzimmer hatte es Kreissekretär Schäfer zur Sprache gebracht: Der Postvorsteher hatte es unterlassen, dem Landrat einen Besuch zu machen, und manches verdichtete sich zu dem Verdacht, daß diese Unterlassung nicht ohne Absicht erfolgt wäre. Die drei Freunde und einige andere Herren stritten darüber hin und her. Willy ergriff offen die Partei Ambrus, Heinz Winkler, bei dem Frau Ambrus ihre Haupteinkäufe machte, schloß sich ihm unter Vorbehalt an, aber Herr Schäfer wiegte bedenklich den großen Bismarckschädel mit der Brille: Man wüßte noch nichts Genaues, aber man hörte Verschiedenes munkeln. Willy wurde sehr ärgerlich und sprach von kleinlichen Verwaltungsschikanen. Weder am Rhein noch in Leipzig wären solche haltlosen Verdächtigungen möglich.

Schließlich versprach der Kreissekretär, Herrn Ambrus ganz unter der Hand bei der nächsten Gelegenheit auf sein Versehen aufmerksam zu machen. Aber ein Tag nach dem andern ging hin, ohne daß sich eine solche Gelegenheit bot. Es wäre auch ganz außer der Ordnung gewesen, Herrn Ambrus aufzusuchen oder anzusprechen, bevor man den offiziellen Gegenbesuch gemacht hatte. Dieser war nun zwar am nächsten Sonntag fällig, aber bei einem Gegenbesuch konnte wieder ein solches peinliches Thema unmöglich angeschnitten werden. Herr Schäfer, der alle Bestimmungen beherrschte und alle gesellschaftlichen Formen bis auf das I-Tüpfelchen kannte, sah schwarz in die Zukunft.

Da zog sich Willy Amende eines Morgens kurz entschlossen seinen braunen Überrock und die neuen hellen Beinkleider an. Nicht den regelrechten Besuchsanzug, denn dazu fühlte er sich nicht berechtigt. Und gegen zwölf ging er die kurze Bergstraße hinunter, bog von der polnischen Vorstadt nach links in die Kaiserstraße ein und strebte geradewegs auf das Kaiserliche Postamt zu, nicht um Briefmarken oder ähnliches zu kaufen, auch nicht zu einer Auseinandersetzung mit den Postassistenten wegen der Expedition der »Gohlunger Kreiszeitung«, sondern um dem Herrn Postvorsteher die Höflichkeit seines verunglückten Besuchs bei Herrn Amende senior zu erwidern. Der Alte hatte trotz mannigfacher Erinnerungen von Frau und Sohn noch immer keine Anstalten gemacht, diesen Pflichtgang zum Postamt zu unternehmen. Willy konnte also sehr gut, auch wenn es ein wenig ungewöhnlich war, als Sohn und immerhin geschäftlicher Stellvertreter Herrn Ambrus einen Besuch oder auch gewissermaßen Gegenbesuch machen. Somit war alles in Ordnung, und nur das eine, die Hauptsache, konnte beunruhigen und das Herz bis zum Halse springen lassen, daß nämlich sich Willy fest vorgesetzt hatte, Herrn Ambrus auf den unterlassenen Landratsbesuch aufmerksam zu machen.

Es war sicher nichts Geringes, einen solchen Entschluß auszuführen. Dennoch ging Willy, noch ein wenig rascher, als es sonst seine Art war, geradezu auf den Seitengang des Postgebäudes los und klopfte an die Tür, an der das Schild »Postvorsteher« angeschlagen war. (Die Firma Amende hatte es gedruckt!) Ein Stein fiel ihm vom Herzen, als er die Schiffe hinter sich verbrannt hatte. Aber niemand meldete sich, und als er auf erneutes Klopfen keine Antwort erhielt und den Drücker leise probierte, stellte es sich heraus, daß die Tür verschlossen war. Nun hätte er vielleicht mit gutem Gewissen von weiteren Bemühungen Abstand nehmen, das Unterfangen vielleicht bis auf den nächsten Mittag vertagen können, aber, einmal im Zuge, hielt er sich für verpflichtet, alle Mittel zu erschöpfen, und stellte durch Anfrage im Dienstraum fest, daß der Herr Postvorsteher vor ungefähr zehn Minuten nach Hause gegangen wäre.

*

Es konnte ihm kaum etwas Unangenehmeres zustoßen. Denn außerdem, daß nun alle Entschlußkraft noch einmal zusammengerafft werden mußte – und wer weiß, ob sie überhaupt den ganzen weiten Weg bis zum Ambrusschen Haus aufrechterhalten werden konnte –, kamen nun noch die Zweifel, ob man es überhaupt wagen durfte, einen Kaiserlichen Postvorsteher so ohne weiteres in seinem eigenen Heim aufzusuchen. Wenn er allerdings an die Umständlichkeit des Kreissekretärs dachte, hielt er es noch immer für das Beste, einfach ohne Besehen hinzustürzen und erst einmal an dem weißen Hause die Glocke zu ziehen, selbst auf die Gefahr hin, daß Regine dort anwesend sein sollte.

So kehrte er entschlossen um, überlegte sich noch, daß er unter allen Umständen betonen müsse, wie er natürlich die Absicht gehabt, den Herrn Postvorsteher in seinem Amtszimmer aufzusuchen, und strebte am Hotel Dorsch vorbei um die Ecke. Ließ sich nicht durch Zurufe des Kandidaten Ollech betören, der dort mit dem Amtsrichter Eichholz und dem Referendar Tießen beim Frühschoppen saß, sondern strebte auf das vertraute weiße Haus zu. öffnete die Gartenpforte, warf einen Blick auf die vier Edeltannen davor und stand, schneller als er gedacht, vor der Haustür, die offen war. Trat hinein, stand in einem Hausflur, in dem jederzeit die gefürchtetsten Menschen erscheinen konnten, zog die Glocke und stand vor Fräulein Ambrus.

»Herr Amende!« sagte sie überrascht, denn natürlich kannte sie ihn von Ansehen, was ihn aber keineswegs der Verpflichtung überhob, sich ihr vorzustellen.

»Sie wollen Papa sprechen? Einen Augenblick! Aber kommen Sie doch näher.« Sie war vollkommen unbefangen, so daß Willy daraus die günstigsten Rückschlüsse auf das erfolgreich bewahrte Geheimnis seiner Liebe zu Regine tun durfte. Sie führte ihn in einen Salon, in dem er mit einiger Beklemmung das Klavier vom Umzug wiedererkannte, und hieß ihn Platz nehmen. Man darf nicht denken, daß es ihr keine Sensation war, einen der, wie ihr gesagt war, wohlhabendsten und tüchtigsten jungen Herren Gohlungens vor sich zu sehen, und so zögerte sie mit dem Hinausgehen, bis sie sich seinen Anzug, die Stiefel und die Krawatte genau zum Bewußtsein geführt hatte. Er sah Noten auf dem Klavier und fragte sie, ob sie spiele. O ja, sagte sie, die Ambras' wären alle musikalisch. Er glaubte sich berechtigt, die Noten anzusehen. Es waren Schuberts Lieder, Heft 3.

»Ich begleite Frau Kreisbaumeister gegenüber«, erklärte sie. »Sie singt wundervoll.«

Er hatte davon gehört. Es imponierte ihm unsäglich, daß diese junge Dame Dinge trieb, die er nur aus der Ferne schweigend verehren konnte. Er wollte ihr sagen, daß er ihren Bruder von der Schule her kenne, nahm aber davon Abstand, weil er sich diese Bekanntschaft für das Gespräch mit Herrn Ambrus zurechtgelegt hatte.

»Ich werde meinen Vater rufen«, sagte sie schnell, machte eine Bewegung, als wollte sie ihm die Hand reichen, unterließ es aber, nickte ihm zu und war hinaus. Einen Augenblick später trat Herr Ambrus ein.

Willy entschuldigte sich, daß er es wage, in eine Privatwohnung einzudringen, aber er wäre vergeblich auf dem Postamt gewesen und wolle es nicht länger aufschieben, in seiner Eigenschaft als Sohn der Firma Amende Herrn Ambrus seine Aufwartung zu machen und zugleich im Namen seines Vaters für seinen kürzlich stattgehabten Besuch zu danken.

Herr Ambrus sagte, daß ihn das freue, und ließ den jungen Mann auf einem Sessel Platz nehmen. Willy fragte, wie er sich in dem neuen Wirkungskreis gefiele, und Herr Ambrus entgegnete, daß es sich ja so mache. Damit wäre das Gespräch auf den toten Punkt gekommen, wenn nicht Willy seine Bekanntschaft mit Herrn Richard Ambrus bereitgehalten und nachgeschoben hätte. Eigentlich wäre es ja keine Bekanntschaft, denn Richard wäre immer einige Klassen über ihm gewesen, aber er hätte ihn doch, wie alle Mitschüler, als Turner und Schwimmer und einige Male auch bei Schulfeiern als großen Klavierspieler bewundern dürfen. Auch hier hätte er ja neulich bereits während des Umzugs eine kleine Probe gegeben.

*

Ja, ja, meinte Herr Ambrus, Allotria hätte der Junge immer genug getrieben. Dieses Echo erschien Willy nur recht schwach für einen solchen Sohn. Das Gespräch drohte wieder zu versiegen, und um auf den Landratsbesuch zu kommen, erschien es Willy noch reichlich früh. Er wußte nicht recht, was er von der Einsilbigkeit des Postvorstehers halten sollte. Vielleicht hatte er den zurückhaltenden Empfang des Herrn Amende senior übelgenommen, aber fast wollte es Willy mehr scheinen, als ob dieser feine, bleiche Kopf von irgendeiner heimlichen Erkrankung in Anspruch genommen würde, und er erinnerte sich seines ersten gleichen Eindrucks.

Um das Gespräch fortzusetzen, brachte er die Rede auf den Versand der Zeitung und betonte die Loyalität der Post, die niemals, auch bei dem größten Andrang nicht, nennenswerte Schwierigkeiten gemacht hätte.

»Warum sollte sie auch?« fragte Herr Ambrus. »An Ihnen verdient die Post ein schönes Stück Geld.«

Amende junior war einen Augenblick sprachlos. Unter diesem Gesichtspunkt hatten sein Vater und er die Sache noch nie gesehen, und er nahm sich vor, diese Anschauung seinem starrsinnigen Alten nicht so leichthin preiszugeben. Das kam davon, daß einem trotz Rhein und Leipzig der Respekt vor den Behörden allzusehr im Blut lag!

Jetzt kam Herr Ambrus in das richtige Fahrwasser und ließ seinen von 48 her herübergeretteten Liberalismus spielen. Ob die Gewerbe denn für die Post da wären? Nein, die Behörden und die Post wären für die Gewerbe da! Willy entsann sich jener tiefsinnigen Andeutung des Kreissekretärs, der zufolge man nichts Genaues wüßte, aber einiges munkeln gehört habe, und er dachte mit Besorgnis daran, daß Herr Ambrus mit dem dunklen Kronprinzenbart vielleicht ein »Freisinniger« sein könnte. Er wußte nicht genau, was ein Freisinniger ist, denn in Gohlungen gab es deren kaum, aber eine solche Haltung schien ihm von Gefahren bedroht, und er war sich im Zweifel, ob man einen Mann mit solchen Anschauungen an den schuldigen Besuch beim Grafen Kanitz erinnern durfte. Herr Ambrus zog weiter über den Dünkel mancher Beamten her, die sich etwas Besseres zu sein dünkten als die arbeitsamen Bürger, und hier konnte Willy vorsichtig anknüpfen und erzählte lachend, daß es in diesem Nest Menschen gäbe, die sich weiß der Himmel wie sehr darüber aufregten, daß er, der Herr Postvorsteher, dem Landrat noch keinen Besuch abgestattet habe. Es wäre so komisch, aber er müsse es doch berichten. Ha ha! Er hielt diese Fassung für ausgezeichnet, weil sie Herrn Ambrus der Peinlichkeit überhob, von einem so jungen Menschen auf einen Verstoß aufmerksam gemacht zu werden.

Aber Herr Ambrus lachte. »Wissen Sie, weswegen ich dem Herrn Grafen noch keinen Besuch gemacht habe? Es ist ein Streit zwischen mir und meiner Frau. Natürlich muß ich zu diesem Besuch meinen besten Gehrock anziehen und einen Zylinder aufsetzen. Nun behauptet meine Frau, daß man im Gehrock und Zylinder nur sonntags ausgehen darf, während ich der Meinung bin, daß dieser Besuch, der doch dienstlicher und nicht persönlicher Art ist, nur am Alltag abgestattet werden darf. Über diesen Streit sind nun glücklich zwei Wochen vergangen.« Aber Herr Ambrus versprach unter Lachen, gleich morgen auf das Dohnaschlößchen zu gehen und alles Gerede zum Schweigen zu bringen. Willy stimmte nun wirklich befreit in sein Lachen ein. Dieser Herr Ambrus war ein großartiger Mann.

Aber den zweiten Vorwurf aufzuklären, den man dem neuen Postvorsteher machte – und nicht nur von Seiten des Dohnaschlößchens, sondern in der ganzen Bürgerschaft –, dazu kam es bei diesem Besuch nicht mehr. Denn Paula erschien in der Tür, um den Vater zum Essen zu rufen. »Entschuldigen Sie vielmals, Herr Amende, aber Mama ist schon ganz unglücklich, weil die Kartoffeln schwarz werden.«

»Verzeihung, Verzeihung!« stammelte Willy unglücklich und verabschiedete sich bestürzt, da er selbst schon zu Hause Vorwürfe über sein langes Ausbleiben zu erwarten hatte.

Dieser zweite Vorwurf war aber durchaus ernsthafter Natur und betraf den empfindlichsten Punkt der Gohlunger, nämlich die Arbeiten am Gohlungsee. Wie erinnerlich zog sich der See auch hinter dem Ambrusschen Haus entlang und grenzte mit dem Ufer fast an den Gemüsegarten. Eines Tages hatte sich Herr Ambrus seine wasserdichten Stiefel angezogen und war mit seinem Jagdstock bis über die Knie ins Wasser gegangen und hatte im Boden herumgestochert. Der See war damals schon so flach, daß Herr Ambrus bis zu dreißig Fuß weit hineingehen konnte. Als Ergebnis seiner Untersuchung aber hatte er geäußert, daß die Ingenieure Dummköpfe oder Betrüger wären. Niemals würde der See guten Weidegrund abgeben, denn es wäre Sumpfboden und nichts weiter.


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