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10.

»Pörschke!« hatte der alte Herr Amende am Vormittag gerufen, und noch einmal »Pörschke!« Weil aber Sonntag war, war der Laufjunge schon nach Hause gegangen.

Es war eigentlich gar nicht einzusehen, was Herr Amende zu dieser Zeit von Pörschke haben wollte. Willy kam herbeigelaufen, weil sein Vater es so angab. Er sah ihn blau im ganzen Gesicht dasitzen. »Vater!« rief er erschrocken. »Was ist dir?« Aber der Alte blieb sitzen. Er machte gar keinen Versuch, zu sprechen, weil er wußte, daß er keinen Laut herausbringen würde. Er versuchte noch, mit der Hand abzuwinken, aber auch das ging nicht. Willy fragte beklommen, ob er nach Pörschke schicken sollte, erhielt aber keine Antwort. Der Vater sah nicht einmal nach ihm hin.

Dies spielte sich unten im Privatkontor vor Tannenbergs Sekretär ab. Willy lief die Treppe hinauf, schickte das Mädchen zum Herrn Sanitätsrat Arnold und sagte der Mutter schonend, daß dem Vater schlecht geworden wäre. Frau Amende hatte sich gerade zum Kirchgang fertiggemacht. Sie kam, mit dem Kapotthütchen auf dem Kopf und dem Gesangbuch in der Hand, in das Kontor hinunter. Aber auch sie erhielt keine Antwort, sah den Gatten nur blaurot im Gesicht dasitzen und schwer atmen. Sie strich ihm über das nasse Haar, seine Augen richteten sich stumm auf sie, aber er bewegte sich nicht. »Er ist gelähmt«, ging es ihr durch den Kopf, und sie dachte mit Schrecken daran, wie man ihn in solcher Lage ins Bett bringen sollte.

In einer Viertelstunde kam der Arzt. »Na alter Freund«, sagte er und tastete an dem Körper des Herrn Amende herum. »Das scheint mir so eine kleine Schlagberührung zu sein. Das gibt sich schon wieder.« Er zog die Uhr heraus und machte sich an dem Puls zu schaffen, konnte ihn nicht finden, griff an dem Handgelenk herum und schüttelte den Kopf. »Wird schon werden«, wiederholte er dabei mechanisch. Frau Amende und Willy beobachteten ängstlich seine Miene.

Das erste, was geschehen mußte, war, den Kranken ins Bett zu bringen. Willy und der Sanitätsrat versuchten ihn unter den Arm zu nehmen. Herr Amende röchelte dumpf, aber er rührte sich nicht. Der Körper war unendlich schwer. »Da hilft nichts, alter Freund. Ins Bett müssen wir schon für ein paar Tage.«

Willy nahm den Sanitätsrat beiseite und fragte ihn aus. »Ja, mein lieber Herr Amende, das scheint nichts mehr von Dauer zu sein. Da sind zwei Sachen durcheinander gekommen. Zuerst ein hübscher, regelrechter Schlaganfall mit einer kleinen Lähmung auf der rechten Seite. Das ginge ja noch und wäre verständlich. Dann macht aber das Herz seltsame Kapriolen. Da ist etwas von der Krankheit vor vier Jahren zurückgeblieben. Mir hat das Aussehen des alten Herrn schon lange nicht gefallen. Ob das nun mit dem Schlag zu tun hat? Jedenfalls hat Ihr Herr Vater keinen Pulsschlag mehr. Das Herz pumpt nicht, es zuckt nur so matt herum. Paroxysmale Tachykardie nennen wir das, mein Lieber. Manchmal geht's vorüber, aber hier?« Der Sanitätsrat zuckte die Achseln. »Fett, Schwäche, Aufregung! Denken Sie, wir Ärzte wissen etwas? Einen Dreck wissen wir, wenn's drauf ankommt.«

Was da zu machen wäre, fragte Willy. Ein paar starke Männer wären nötig, um den alten Herrn zunächst mal ins Bett zu transportieren. Willy dachte, den Maschinenmeister und den stärksten Setzer rufen zu lassen, aber der Sanitätsrat war mehr für ein paar Krankenwärter mit einer Tragbahre. So wurde das Mädchen ins Krankenhaus geschickt. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis die Männer da waren, und auch dann war es nicht leicht, den Körper, der noch immer wie leblos lag, auf die Bahre und nach oben zu bekommen. Die hintere Treppe war zu eng und steil, man mußte auf den Markt hinaus und über den Beischlag. Leute sammelten sich an, sogar der Herr Simon von nebenan guckte unangenehm zu. Man hatte dem Kranken ein Taschentuch über den Kopf gebreitet. Oben im Bett wurde er, so gut es ging, geradegelegt, das rechte Bein aber blieb in Sitzstellung. Es war nichts dagegen zu machen. Der Sanitätsrat untersuchte noch einmal gründlicher. Der Blutkreislauf funktionierte nicht, und damit hörte denn so allmählich alles auf, wenn das Herz nicht wieder in Gang kam. Zunächst war für die Lungen zu fürchten.

Der Arzt suchte auf das Herz einzuwirken, aber er glaubte selbst nicht an seine Mittel. »Der Magen will nichts aufnehmen. Wenn ich etwas in die Vene spritze, bleibt's an Ort und Stelle stehen und verteilt sich nicht.« Dennoch spritzte er mit Coffein. Der Kranke röchelte nur leise, seine großen Augen blickten beunruhigt umher. Das Schlimme für die Angehörigen war, daß man nichts zu tun hatte. Sie hätten sich lieber die Hacken abgelaufen. Frau Amende legte Taschentücher mit kaltem Wasser auf die Herzgrube, das war alles. Noch vor Mittag depeschierte man an die in Königsberg verheirateten Töchter. Sie konnten erst spätabends eintreffen. Nachmittags kamen die Antworttelegramme, daß man mit dem nächsten Zug reisen werde. Inzwischen kam der Sanitätsrat alle zwei Stunden wieder und untersuchte die Lunge. Das Fieber stieg, man merkte es an dem immer schwereren Röcheln, daß die Zersetzung fortschritt. »Es ist schon eine ganz hübsche Lungenentzündung da«, konstatierte Herr Arnold. Frau Bäckermeister Lagenpusch, die ehemals ebensogut hätte Frau Amende werden können wie Ernestine, schickte Brötchen. Sie wären aus reinstem Weizenmehl gebacken und ganz leicht. Vielleicht könnte Herr Amende die essen. Aber er konnte nichts essen. Man versuchte es mit Bouillon, aber der Magen nahm nichts an.

Noch immer konnte es jeden Augenblick sein, daß das Herz sich langsam in Bewegung setzte und wieder pumpte. Frau Ernestine saß am Bett und hielt stundenlang ihren Finger auf dem schwachen Puls. Der flackerte aber wie ein erlöschendes Lämpchen. »Wie nennt man das?« Sie hatte schon dreimal den Arzt nach der paroxysmalen Tachykardie gefragt, konnte das schwere Wort nicht behalten und litt darunter, daß sie nicht wußte, welche Krankheit das Leben ihres Mannes bedrohte. Daß es für dieses Leiden keinen vernünftigen Ausdruck gab! Willy saß stumm in der Ecke, zu jedem Zuspringen bereit. Aber es gab nichts für ihn zu tun, als daß er von Zeit zu Zeit die Taschentücher in frisches Wasser tauchte. Er führte diese Arbeit mit möglichst großem Kraftaufwand aus, aber es blieb immer nur wenig.

Am späten Nachmittag Heß die Schlaglähmung etwas nach. Das rechte Bein streckte sich auf einmal gerade, und der rechte Arm konnte bewegt werden. Der Sanitätsrat schien davon sehr befriedigt. »Na also«, sagte er am Bett laut und deutlich, damit der Kranke es voll aufnehme. »Nun werden wir bald ein bißchen sprechen können, und dann wird auch das Herz wieder anfangen.« Aber draußen sagte er Willy, daß es nichts auf sich hätte. Der Schlag beunruhige ihn überhaupt nicht sonderlich. Das hätte sich normalerweise in einigen Tagen wieder eingerenkt. »Aber die Tachykardie!« Gegen Abend konnte Herr Amende wirklich einige Worte lallen. Mit großer Mühe teilte er mit, daß das Testament im Sekretär, im Geheimfach rechts, läge. Sie beruhigten ihn und wollten nichts von Testament und solchen Dingen hören.

Spätabends kamen die Töchter. Gustava war an einen Gerichtssekretär Reichard verheiratet; Wilhelmine, die man nach dem Großvater genannt hatte, weil auf die Ankunft eines Sohnes nach zwei Töchtern kein Verlaß mehr war, an Herrn Degenstein, Reisenden in Weinen und ff. Likören. Herrn Reichard erlaubte der Königliche Dienst nicht, so plötzlich zu verreisen. Er mußte erst seine Behörde um Erlaubnis fragen. Aber Herr Degenstein hatte depeschiert, daß er mitkommen würde. Das Herrichten der Schlafzimmer unterbrach das endlose Herumsitzen. Frau Amende hatte Laken und Bettbezüge herauszugeben und stieg zweimal in die Bodenkammern hinauf, um nach dem Rechten zu sehen. Es waren nicht genug Lichter im Haus, und Willy mußte zu Heinz Winkler hinüberspringen, der ihm trotz des Sonntags ein Paket aus dem Laden heraufholte. Stumm drückten sich die Freunde die Hand. Um zehn Uhr mußte Willy auf den Bahnhof, um die Verwandten abzuholen.

*

Noch war kein Weinen und Wehklagen im Hause laut geworden. Die Mutter und Willy wischten sich möglichst unauffällig in einem Winkel ihre Tränen ab. Nun aber stürzten die Schwestern mit lautem Schluchzen aus dem Zug, fielen Willy unter Tränenströmen um den Hals, und auch Degensteins gerötetes Gesicht, das man nur als Sitz und Ausgangspunkt zahlloser Witze und Anekdoten kannte, zeigte solche Kummerfalten, und die kleinen Augen blinkten in solch trübem Wasser schwimmend schräg unter dem Klemmer hervor, daß Willy sich wegen seiner Empfindungslosigkeit ganz schlecht vorkam. Vergeblich versuchte er den Schwestern die Krankheit des Vaters zu erklären, immer wieder unterbrachen sie ihn mit lautem Wehklagen. Von Zeit zu Zeit rief einer dazwischen: »So laßt ihn doch sprechen!«, aber dann riefen sie wieder alle durcheinander, und es brauchte den ganzen Nachhauseweg, ehe sie ungefähr begriffen hatten, wie sie den Vater antreffen würden.

Seit ihrer Ankunft war es mit der Ruhe im Hause vorbei. Sie gingen nur auf Zehenspitzen, aber ihre Stiefel knarrten durch alle Zimmer. Sie flüsterten nur, aber jeden Satz unterbrach lautes Aufschluchzen. Leise und einzeln wurden sie zu dem Kranken hineingelassen. Das Fieber hatte ihn schon über die Wirklichkeit emporgehoben. Seine Augen, die stundenlang unruhig umhergeblickt hatten, waren jetzt geschlossen. Zuerst kam Gustava herein. Sie stand nur einen Augenblick vor dem Bett, dann stürzte sie hinaus und bekam einen Weinkrampf, umhalste Wilhelmine, die ihrerseits laut zu weinen anfing und sich erst nach einer halben Stunde so weit beruhigt hatte, daß sie hineingelassen werden konnte. Herr Degenstein kam als letzter. Er war sehr fromm und sprach vor dem Bett ein langes Gebet. Willy kam sich immer schlechter vor, weil ihm die Tränen nicht reichlicher fließen wollten. Aber er sah, daß auch seine Mutter die Fassung bewahrte. Sie trug den Kopf hoch, saß neben dem Bett, hatte das Handgelenk des Kranken gefaßt und wartete, daß das Herz anfangen würde zu schlagen.

Die Schwestern waren im ganzen Haus, zugleich hier und dort. Sie sprangen die Treppen hinauf, um oben ihre Sachen auszupacken, rasten wieder herunter, um an der Krankentür zu horchen, liefen durch alle Zimmer. Willy mußte die ganze Wohnung beleuchten, weil sie sich sonst zu fürchten behaupteten. Herr Degenstein saß in einem Sessel im großen Wohnzimmer vorn und spielte mit den Anhängseln seiner Uhrkette. Er kämpfte heldenhaft mit dem Gedanken, morgen, sollte es die Gelegenheit ergeben, Scheffler oder dem Englischen Hof eine Offerte seiner Weine und ff. Liköre zu überreichen. Gegen ein Uhr kam noch einmal der Sanitätsrat, untersuchte Herz und Lunge und machte ein ernstes Gesicht. »Na, alter Freund, wie geht's?« fragte er trotzdem im munteren Ton. Herr Amende antwortete nicht. Sein Geist schien schon erhaben über alle irdischen Faxen.

Das könnte noch morgen den ganzen Tag so gehen, meinte der Sanitätsrat draußen und forderte die Familie auf, sich schlafen zu legen. »Morgen wird's ein schwerer Tag«, sagte er. Herr Degenstein gab ihm recht. So eine plötzliche Reise von Königsberg bis hierher hätte auch ihr Anstrengendes. Man müsse sich ein Stündchen hinlegen. Die Schwestern protestierten und fanden ihn gemütsroh, gingen aber schließlich hinauf. Aber sie würden sich nicht einmal die Kleider ausziehen. Frau Amende wollte nichts von Ruhe wissen, aber ab Willy sie energisch zu einem Sessel im Eßzimmer führte und sie bei der geringsten Veränderung zu wecken versprach, war sie plötzlich eingeschlafen, lag mit einem welken Gesicht und entkräfteten Händen da. Degenstein und die Schwestern zogen sich auf Zehenspitzen mit knarrenden Stiefeln zurück. Willy wachte allein in der Wohnung.

Zuerst saß er ohne sich zu rühren am Bett des Vaters, dann ging er leise im Zimmer auf und ab. Um ganz unhörbar zu sein, hatte er sich die Schuhe ausgezogen. Im Eßzimmer schlief die Mutter, aber das große Wohnzimmer vorn, in dem noch immer die Lampen brannten, war leer. Er ließ die Tür offen und ging zwischen den beiden Zimmern auf und nieder. Zum erstenmal seit dem Vormittag kam er zur Besinnung, seltsame Gedanken stürmten auf ihn ein. Morgen würde der Vater tot sein, und er hatte das Geschäft in Händen. Mit den siebentausend Talern konnte man die Schwestern abfinden. Der Mutter natürlich mußte Haus und Geschäft verbleiben, aber er, Willy Amende, hatte dann alles in seiner Hand. Man konnte arbeiten, Fabrik werden! Seine Schritte wurden größer. Ihm fiel das Testament ein. Was mochte darin stehen? Vielleicht war sogar noch Geld da, von dem er nichts wußte? Vielleicht so viel, daß ihm allein das Geschäft blieb? Oder vielleicht sollte er das Geschäft übernehmen und der Mutter nur Geld für ihren Unterhalt auszahlen? Das Geschäft, dachte er.

Auf einmal hielt er inne. Im Nebenzimmer hörte er die rasselnden Atemzüge des Vaters und schämte sich seiner Verruchtheit. Nein, nein! Der Vater sollte um alles in der Welt leben bleiben! Alles andere war gleichgültig! Er stand vor dem Bett still und schaute auf das Gesicht, das nun schon ganz eingefallen war. Da mußte er denken, daß auch er einmal so liegen werde. Wie unheimlich war so ein Menschenleben! Da war dieser Sterbende vor einem Vierteljahrhundert aus Leipzig hergekommen, ein junger Mann damals, hatte sich hier niedergelassen, hatte eine Frau genommen, Kinder gezeugt, und jetzt lag er röchelnd da, und er, sein Sohn, stand vor seinem Bett und überdachte das alles. Wie fern war dieses Leben nun schon! Fast so fern wie der alte Kantor und Organist, an dessen Grab er in Leipzig-Eutritzsch gestanden hatte. Er nahm seine Wanderung von einem Zimmer ins andere wieder auf und löschte die Lampen aus. Ein grauer Tag quoll ins Zimmer. »Der schwere Tag«, von dem der Sanitätsrat gesprochen hatte.

Das Frühstück kam auf den Tisch. Frau Bäckermeister Lagenpusch hatte noch einmal besonders weiße Brötchen geschickt. Man ging nur einzeln herein, goß sich die Tasse halbvoll und biß ein Stück von der Semmel ab, gerade nur, um der geheiligten Einrichtung der Mahlzeit zu genügen. Herr Degenstein hatte sich unter verschwommenem Blinken seiner Augen vergewissert, daß noch alles beim alten war, und drückte sich mit hochgezogenen Schultern hinaus, um ein wenig »frische Luft zu schnappen«. »Du!« drohte seine Frau ihm nach. Es bezog sich auf Degensteins Gewohnheit, sich in fremden Städten zunächst einmal von der Qualität der dort gebräuchlichen ff. Liköre zu überzeugen. Aber Herr Degenstein hatte heute keine derartigen Absichten. Er stattete lediglich dem Kaufmann Scheffler und dem Englischen Hof einen Geschäftsbesuch ab. Man würdigte dort den traurigen Anlaß, der ihn an den Platz geführt hatte, und versprach, auf seine mit gebrochener Stimme abgegebene Offerte zurückzukommen. Sofortige Abschlüsse zu tätigen, verbot der Ernst des Tages von selbst. Ferner stand Herr A. W. Seidel zufällig vor der Ladentür und zog Herrn Amendes Schwiegersohn ins Gespräch. Die ganze Stadt wäre in Aufregung. Es wäre doch nichts Ernsthaftes? Er bat ihn einzutreten, und auf dem Gang in das Privatkontor machte es sich ganz von selbst, daß sie an einer Kollektion Trauerkleider vorüberkamen. »Gerade eingetroffen, sehr schick und preiswert«, sagte Herr Seidel mit trauriger Stimme. »Ach ja, ich wollte, man brauchte so etwas gar nicht zu führen.« Gegen halb elf war Herr Degenstein wieder zu Hause.

Gerade war der Sanitätsrat dagewesen und hatte mit munterer Stimme dem Kranken gut zugeredet, im übrigen aber den Kopf geschüttelt. Es hatte sich Wasser gebildet, wie das nicht anders zu erwarten war. »Feuchte Rippenfell- und Brustfellentzündung! Alles, was Sie haben wollen!« sagte er draußen zu Willy. »Soll man noch punktieren? Es hat wenig Zweck, regt vielleicht unnütz auf, aber man kann ja.« Willy wußte nicht, was da zu sagen wäre, aber Frau Amende wollte, daß alles versucht würde. Sie hoffte immer noch, daß das Herz wieder anfing zu arbeiten, und hielt unentwegt den Finger auf dem Puls des Kranken. So führte der Sanitätsrat die Kanüle ein und ließ das Wasser ab. Der Kranke stöhnte, wollte sprechen, bekam aber unter vielen unverständlichen Lauten nur einmal deutlich heraus: »Sterben lassen!«

»Na, na, alter Freund«, beruhigte der Arzt, »so weit sind wir noch nicht.« Er roch an dem Wasser. »Wenig Eiter drin«, sagte er befriedigt, wusch sich die Hände und ging. In einer Stunde wollte er wieder vorsprechen.

Aber es war doch soweit. Kaum war der Sanitätsrat hinausgegangen und Herr Degenstein eingetreten, als das Atmen unregelmäßiger wurde und in ein schweres Röcheln überging. Herr Amende hatte die Augen weit offen, aber sein Blick war gläsern und faßte nichts mehr. Frau Amende nahm den Finger vom Puls hinweg und ließ die Hand sinken. Sie hatte die Hoffnung aufgegeben, aber sie blieb auf dem Stuhl sitzen und sah unentwegt in das eingefallene Gesicht, auf dem sich jetzt der schwere Todeskampf abspielte. Die drei Kinder standen mit gefalteten Händen vor dem Bett, Herr Degenstein war hinausgegangen. Nach einer Weile erschien er wieder und trug fünf aufgeschlagene Gesangbücher in der Hand. Er hatte sie sich von Fräulein Haase unten aus dem Laden geben lassen und das Lied »Was Gott tut, das ist wohlgetan« aufgeschlagen. Er drückte jedem ein Buch in die Hand, während die Tränen schräg unter dem Kneifer hervor in seinen dünnen blonden Schnurrbart rannen, und flüsterte: »Wir wollen Vater einen letzten Gruß nachschicken.« Er holte schon Atem, um loszusingen, als Willy ihm das Buch aus der Hand nahm. Kleinlaut knickte er zusammen, sammelte auch die anderen Bücher wieder ein und ließ sich auf die Knie nieder. Aber auch das »Vater unser« wagte er, wie er anfänglich gewollt hatte, nicht mehr laut vorzusprechen, sondern ließ es bei heftigen Lippenbewegungen, die wenigstens Wilhelmine zwingen sollten, mitzubeten.

Auf einmal hörte das Röcheln auf. Wie von einem Krampf erfaßt, richtete sich der Kranke hoch auf und fiel seufzend zurück. Die Mutter schrie auf. Herr Amende hatte das Zeitliche gesegnet.

Es ist gut, daß der Tod so viel Wirtschaft mit sich bringt, sonst stünde man ihm allzu fassungslos gegenüber. Was lag jetzt alles auf Willys Schultern! Er mußte hinuntergehen und den Angestellten den Tod des gütigen Chefs mitteilen. Fräulein Haase schwamm in Tränen. Der Laden wurde, trotz des morgigen Markttages, bis zum Begräbnis geschlossen, aber die Zeitung mußte am Dienstag herauskommen. Die erste Seite mit der Politik freilich bezog man, wie den Roman, als fertige Matern aus Berlin. Aber die zweite Seite, die das Lokale und Provinzielle enthielt, konnte einen schwarzen Trauerrand bekommen und mußte am Kopf in durchschossener Schrift einen des dahingegangenen Gründers der Zeitung würdigen Nachruf enthalten. Niemand anders als Willy selbst konnte ihn verfassen. Es war seltsam, daß er den ganzen Nachmittag daran denken mußte, und wenn er von Zeit zu Zeit, immer wieder, an das Totenbett herantrat, fühlte er, wie sich in ihm die Sätze bildeten. Es war eine schwierige Aufgabe, denn in die allgemeine Würdigung mußten die Daten des Lebens mit hineinverflochten werden. Man mußte den Toten rühmen, aber hinwiederum nicht in prahlerischer Weise, sondern zurückhaltend, weil das Werk des Verstorbenen sich doch nicht selbst allzu stark loben durfte. Das alles war zu bedenken!

Aber dazwischen war noch viel anderes zu tun. Die Mutter mußte ein viertes Bett für den Schwiegersohn Reichard aufschlagen, der abends erwartet wurde. Die Schwestern übernahmen den Besuch bei Herrn Pfarrer Salbe und dem Küster. Dann mußte man auf den Kirchhof und die Stelle des Erbbegräbnisses aufsuchen, das Herr Amende schon vor vier Jahren, bei seiner ersten Erkrankung, noch auf dem alten Kirchhof erworben hatte, und mit dem Totengräber sprechen. Sie mußten auch für die Trauerkleider sorgen, die Herr A. W. Seidel so ungern führte und nun doch hergeben mußte. Das Wichtigste aber war, und nur eine Aufgabe für Willy, daß man zum Tischler Tannenberg an den See hinunterging und den Sarg bestellte. Herr Tannenberg hatte immer eine Auswahl von Brettern und Modellen im Vorrat. Es war ein schwerer Augenblick, als man für den Vater die letzte irdische Hülle aussuchte. An kleinen Probestücken zeigte Herr Tannenberg die Art der Politur und beschrieb mit gebreiteten Armen den Glanz, der von dem ganzen Stück ausgehen würde. Man konnte für Herrn Amende nicht das erstbeste nehmen, wenn man sich natürlich auch vor Übertreibungen hüten mußte. Ein Sarg für Herrn Amende war schon eine schöne Aufgabe für Herrn Tannenberg, wenn er auch freilich noch mehr gewünscht hätte, einmal ein Prunkstück für den Herrn Landrat zu liefern. Aber die Landräte kamen immer vor ihrem Tode aus Gohlungen fort und starben dann irgendwo anders, wo Herr Tannenberg nicht die Särge besorgte.

Als Willy von seinen Gängen zurückkam, wandte sich Schwager Degenstein betrübt an ihn. Sie hätten leider, und das gelte auch für Gustava, nicht soviel bares Geld mitgenommen, um die schwarzen Kleider und Hüte zu bezahlen. Wer hätte denn gleich an das Schlimmste gedacht. Ob er vielleicht aushelfen würde? Es war der Augenblick, in dem Willy sich bewußt wurde, daß das Zepter auf ihn übergegangen war. Aus Vaters Beinkleidern, die der Tote noch gestern bei dem Anfall getragen hatte, wanderten nun die Schlüssel in seine eigene Hose hinüber. Mit wehmütigen und stolzen Gefühlen trat er in das Privatkontor ein und schloß den neuen Sekretär auf. Unversehrt stand im Innern der griechische Tempel mit den Säulen und dem geschnitzten Kapital, das aus Königsberg verschrieben war. Links war die Schublade mit dem Schniefke. Er schnupperte daran und erkannte mit inniger Rührung in dem grauen Pulver noch die Fingerspuren des Vaters. In der Mitte war das Geheimfach, das durch eine verborgene Feder im Innern des linken Faches zu öffnen ging. Hier sollte das Testament liegen. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, nahm das versiegelte Kuvert heraus und wog es in der Hand. Gedankenvoll legte er es wieder zurück und suchte nach dem Geld, um den Schwestern auszuhelfen. Die rechte Seite hatte der Vater als Geldschrank eingerichtet. Hier lagen, sauber aufgeschichtet, in Gold, Silber und kleinster Münze, so wie sie aus der Ladenkasse an jedem Abend kamen, an die vierzig Taler. Dahinter bemerkte er das Buch der Kreissparkasse. Er mußte an des Vaters anfängliches Sträuben denken, als er das Buch herausnahm, halb in schuldiger Pflicht, da er nun, als Nachfolger, einen Überblick gewinnen mußte, halb mit schlechtem Gewissen. Er traf nicht gleich die letzte Seite. Es waren viele Eintragungen da, denn der Vater brachte jetzt allwöchentlich das überschießende Geld zu Herrn Kreissekretär Schäfer. Er mußte mehrmals die Seiten umschlagen, ehe er die Schlußsumme ablesen konnte. Es waren ohne die letzten, noch nicht berechneten Zinsen über sechzehntausend Taler. Er bebte zurück, las noch einmal, blätterte hin und her und mußte schließlich trotz seines Schmerzes lächeln. Da hatte der Vater gleich mit vierzehntausend Einzahlung begonnen, und Freund Schäfer hatte ihm damals, unter Wahrung des Amtsgeheimnisses, nur die halbe Summe verraten; vielleicht sogar nach Verabredung mit dem Vater, der auf diesem Umweg dem Sohn mitteilen wollte, daß die Firma Amende noch einen stattlichen Kapitalrückhalt für Anschaffungen und Maschinen besaß, ohne andererseits in ihm das Bewußtsein großen Reichtums hochkommen zu lassen.

Willy schüttelte lächelnd den Kopf, als er den Vater bei solchen Gedankengängen ertappte. »Er war ein großartiger Mann!« sagte er zu sich. Im übrigen gab ihm auch der Zuwachs von zweitausend Talern in den eineinhalb Jahren zu denken. »Es ist ein gutes Geschäft, eine Goldgrube!« Er nickte und dachte daran, wie Fräulein Haase an jedem Abend mit dem großen Zahlbrett zu seinem Vater hineingegangen war und mit ihm bei verschlossenen Türen abgerechnet hatte.

Am Abend saß er wieder vor dem Sekretär, um für die Dienstagnummer den Nachruf zu schreiben. Lange hatte er vorher am Bett des Toten gestanden und ihm ins Gesicht gesehen. »Nun mußt du alle deine irdischen Geheimnisse verraten«, dachte er, »nun mußt du die Schlüssel und die streng gehüteten Bücher herausgeben, da dich das letzte ewige Geheimnis umhüllt.« Unter diesen Gedanken ging er spätabends an die Niederschrift des Nachrufs. Über zwei Stunden saß er an dem geheiligten Platz. Von Zeit zu Zeit griff er nach dem Sparkassenbuch und ergötzte sich an den Zahlen, und als es einmal mit dem Schreiben nicht recht weitergehen wollte, tunkte er die Finger in die Schniefkedose und nahm eine Prise. Aber von der Seite, so daß er die letzten Fingerspuren des Toten nicht verwischte.


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