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4.

Richard Ambras mußte notwendig den Umzug seiner Eltern mitmachen. Umzug war etwas Abenteuerliches. Man warf seine Habe zusammen, alles durcheinander, daß kein Stück beim andern blieb, und rollte sie beim Bestimmungsort wieder auseinander. Eigentlich hatte er keine Zeit, da er dicht vor dem Referendarexamen stand, aber er kam doch auf zwei Tage von Königsberg wenigstens herüber, fuhr vierter Klasse, hatte zwei dicke Bände mit sich und »büffelte Scharteken« während der Fahrt, wie er es nannte. Mutter Ambras schalt über das unnötig verfahrene Geld, aber im Grunde war sie stolz auf die Anhänglichkeit ihres Sohnes und staunte ihn an, wie er die schweren Kisten und Kasten mit den Packern um die Wette balancieren ließ, wie er am Morgen schon die ganze Stadt durchstreift hatte und ihr berichten konnte, während sie mit Paula die Gardinen in Ordnung brachte.

»Dieses Städtchen ist eine Zuckerbrezel im Backwarenladen des Herrn, Muttchen. Ein Rathaus, sage ich dir, mitten auf dem Markt, so ein herrlicher roter gotischer Backsteinkasten mit hohem, spitzem Dach und einem Turm, der oben von Holz ist und schief steht. Kleine Häuschen, wie Schwalbennester ringsum angekleckst, und rings um den Markt alte würdige Bürgerhäuser mit Beischlägen, wie in der Spieringsgasse in Elbing. Und in der ganzen Stadt wächst das Gras zwischen den Steinen. Ein Idyll, Muttchen! Und dann ist gleich neben dem Markt ein Schloß, wo der Landrat wohnt. Sie nennen es Dohnaschlößchen, weil es den Dohnas gehören soll, die es nur verpachtet haben. So ein richtiges prächtiges altes Barockschloß, und ein Hof darin, ganz mit alten Kastanien bewachsen! Und eine riesige alte Kirche, noch aus der Ordenszeit. Ein herrliches altes verschlafenes Nest. Prachtvoll!«

Er hatte schon in der Frühe den Schloßhof und das Rathaus skizziert und zeigte die Blätter herum. Sogar Stine, die Magd, mußte sie bewundern. »Und der Teufel soll hier los sein mit Schlittenpartien und Picknicks und Theaterspielen. Ich habe mich schon mit dem Ober vom Deutschen Haus unterhalten. Donner und Doria noch eins, das kann hier ein verteufelt lustiges Leben werden!«

»Du sollst doch nicht so fluchen, Junge!« sagte die Mutter, während sie die Wäsche in den Schrank einräumte.

»Hast recht, Mutterchen«, antwortete er, zwirbelte sich den stattlichen Schnurrbart hoch, ging ans Klavier und spielte einen Choral, und alle lachten.

Von Zeit zu Zeit fragte Herr Ambrus: »Wirst du nun auch dein Examen machen, Richard?«

»Vor keiner Mensur und keinem Examen wird gekniffen, Vater. Was sein muß, muß sein.«

Man konnte auf die Schwenkendorfer Gäste wenig Rücksicht nehmen. Kaum einen Stuhl hatte man ihnen anzubieten. Schließlich fanden die Herren in dem künftigen Arbeitszimmer auf zwei schnell abgestaubten Sesseln, zwischen zusammengerollten Teppichen und herumstehenden Möbelstücken Platz. Nur die Großmutter Gnuschke saß auf dem Korbstuhl in der Ecke und hatte verängstigte Augen wegen des Wirrwarrs. Richard kramte in den Kisten und Schränken nach einer Flasche Rotspon herum.

»Du hast da einen ganz gottverfluchten Bengel von Jungen«, sagte Herr Steinbock. Herr Ambrus neigte den Kopf mit dem dunklen Bart. Er wußte noch nicht, ob der Junge »werden« würde. »Gott geb's!«

Paula begleitete Regine mit dem Wagen in die Stadt. Es waren noch allerhand Sachen aus Geschäften abzuholen, darunter Verschiedenes von Wiebe am Markt. Die beiden jungen Mädchen standen sich mißtrauisch gegenüber. Regine witterte Erschütterung ihres mühsam aufgebauten Gleichgewichts durch eine neue Freundin. Paula imponierten die Kleider Regines wenig. Sie dachte: »Landpomeranze!« ließ sich immerhin gern von dem schönen Wagen durch die Straßen fahren. Man machte von Anfang an einen gewissen Eindruck auf die Gohlunger, fühlte sie.

Herr Ambrus hatte möglichst viele von der Postvorsteherfamilie nach Schwenkendorf abholen wollen. »Bis hier alles im Lot ist«, sagte er und war ganz erstaunt, daß eine Wohnung nicht von allein »in Lot« kommt. Frau Ambrus und Paula jedenfalls waren unersetzlich, wären allerdings gern die Herren losgewesen, um nach Herzenslust scheuern und einordnen zu können. Herr Ambrus aber gedachte, den Aufbau der neuen Häuslichkeit von Grund aus mitzumachen. So blieb für das Land nur Richard übrig. Richard war zwar der Eltern und des Umzugs wegen ausdrücklich aus Königsberg gekommen und mußte am nächsten Tag wieder abfahren. Aber einen Besuch auf dem Lande griff er mit Begeisterung auf, und da Herr Ambrus auf keinen Fall ganz unverrichtetersache zu seiner Frau zurückkehren wollte, so wurde beschlossen, daß Richard für den Tag und die nächste Nacht mit hinaus sollte. Mit dem Schulwagen konnte er morgen wieder zurückkommen, noch einige Stunden in Gohlungen bleiben und dann bequem am Nachmittag den Königsberger Zug erreichen.

So saß er denn in einer Stunde mit Herrn Steinbock und Regine im Tafelwagen. Er saß auf dem Rücksitz, Regine gegenüber, da Herr Steinbock mit seinen gewaltigen Gliedmaßen allen Raum benötigte, und erzählte von der großen Stadt und den Examinatoren, die schon die Bleistifte spitzten, um ihr Votum über ihn abzugeben. Er richtete seine Worte artigkeitshalber an den alten Herren, zielte aber, da er ein junger Mann war, auf Regine, obwohl er sie bei seiner Lebhaftigkeit noch gar nicht recht bemerkt hatte. Sie saß schweigend vor ihm, und nur, wenn er enthusiastisch den Arm ausstreckte, um auf ein besonders schön gelegenes Gehöft oder ein birkenbestandenes Tal hinzuweisen, griff sie lebhaft ein und nannte Namen und gab Erklärungen.

Richard genoß als Städter schon die Fahrt. Man stellte sich das von der Stadt aus gar nicht so recht vor, sagte er, daß da draußen Feld bei Feld lag, jeder Fußbreit Boden von Menschen beackert. Man denkt, vor den Toren beginnt die große Leere, aber auch hier erfüllt der Mensch die Schöpfung, nur ausgeweiteter und unmittelbarer der einzelne, und an jedem Acker hängen Sorgen und Mühen, und in jedem Häuschen wohnt Glück oder Unglück. Die Gemarken der Dörfer und Güter schieben sich dicht ineinander, und darüber wellen sich Hügelzüge, und dazwischen rinnen Bäche und Flüsse, und in dem allen wachsen die Geschlechter der Menschen, zwingen einem kleinen Umkreis ihren Namen ins Gedächtnis, haben Schicksale und Kämpfe, von denen niemand weiß, und vergehen.

Der Landweg ging eine Anhöhe hinan, und auf einmal lag der Mariensee vor ihnen. Lang und schmal, mit zerrissenen Rändern und Buchten erstreckte er sich bis zu den dunkelnden Wäldern am Horizont, die sich bei der Fahrt langsam vorbeizudrehen schienen. Der Anblick war so überraschend, daß Richard mitten in einem Satz einhielt.

»Der Mariensee«, bedeutete Regine. Sie hatte sich seit jeher von dem Namen eigenartig berührt gefunden. Mitten in der protestantischen Gegend schien dieser Name sie bei ihrem Glauben zu grüßen. Sie führte aus, daß dieser Zipfel des Oberlandes eine Art Gottesländchen sein solle und von den Einwohnern auch so genannt würde. Mariensee, das erinnere an die Mutter Gottes, und das Dorf dort drüben heiße Paradies, und jenes Gut, dessen Park und Scheune man sehe, sei Gottswalde, wo die Edlen von Greve wohnten. Und das Gut jenseits des Sees wäre Pfarrsfeldchen. »Hier müssen wohl zur Zeit des Ordens besonders fromme Leute sich angesiedelt haben.« Regine sah ihr Gegenüber mit großen Augen an, als erwarte sie, daß diese fromme Deutung sich in seinem Innern verfing.

Aber unglückseligerweise stand Richard hier auf vertrautem Boden. Seine Großmutter Gnuschke, die bei ihnen lebte, stammte aus dieser Gegend, und sagenhafte Überlieferungen waren das Spezialgebiet des Vaters. Noch gestern abend hatte Herr Ambrus am improvisierten Familientisch, von der Großmutter unterstützt, einen langen Vortrag über diesen Gotteszipfel gehalten, und Richard, der eigentlich nur mit halbem Ohr hingehört hatte, kramte nun, halb ironisch, die phantastischen Weisheiten aus, von denen er nicht wußte, inwieweit sie auf Wahrheit beruhten.

Nein, im Gegenteil, sagte er, es wäre gerade eine alte heidnische Gegend, und ein bißchen wäre er stolz darauf, seinen Stammbaum, wenigstens mütterlicherseits, auf diesen Landstrich zurückzuführen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre hier die Stätte von Romowe, dem heiligen Hain der alten Pruzzenpriester, die man nur fälschlich ins Samland verlegt hätte. Der Mariensee hätte mit der Himmelskönigin nichts zu tun, sondern hieße eigentlich Naryensee. Von Narya, einem pruzzischen Wort, das schlechtweg See bedeute. Der See hieße also eigentlich schlechtweg nur See, womit man wohl einen ganz besonderen See, einen heiligen See habe bezeichnen wollen. Erst später härte man Mariensee daraus gemacht, wie man denn überhaupt die alten heidnischen Namen ins Christliche umgedeutet habe, um den besonderen Bann dieser Landschaft zu brechen. Von den alten heidnischen Namen, die jetzt in Paradies und Gottswalde und Pfarrfeldchen umgewandelt wären, wüßte man nichts mehr, und nur eben gerade in dem Namen der Edlen von Greve scheine noch das alte Wort Kriwe zu stecken. Kriwe hätte der Oberpriester der alten Pruzzen geheißen, der in dem heiligen Hain gewohnt und geherrscht habe, und wenn noch heute Menschen ähnlichen Namens auf einem Fleck Erde säßen, der geradezu als Gottes Wald bezeichnet würde, so rage in diesen Edlen von Greve auf Gottswalde noch ein Stück heidnischer Vorzeit in unsere Zeit hinein.

Übrigens leite sein Vater die Ambras ebenfalls von den Pruzzen ab, da ja noch der Stamm pruz oder pras oder bras in dem Namen enthalten wäre, und der Vater wäre ganz besonders stolz auf diese Abstammung. Die Pruzzen sollen nämlich ein fabelhaftes Volk gewesen sein, nur wären sie leider von den Kreuzrittern fast gänzlich ausgerottet. Die wenigen, die sich zu den benachbarten Stämmen flüchteten, hätten sich dann irgendwie schon im Namen als Pruzzen kenntlich gemacht, wie eben die Ambras. »Nein, gnädiges Fräulein, hier ist uralter heidnischer Boden!«

Regine schwieg verwirrt, als ihr das krasse Heidentum auf einmal so nahe auf den Leib gerückt war, und auch Herr Steinbock machte große Augen zu den prähistorischen Spekulationen seines alten Freundes, von denen er noch nichts wußte. Denn Herr Ambras wechselte seine Steckenpferde, aber er ritt immer eines, wie sich Herr Steinbock entsann.

*

»Es ist sehr interessant«, meinte er, »man weiß nicht, von wem alles wir abstammen und welche Familien vielleicht noch alte Königskronen in irgendeiner alten Kommode oder Schatulle fortgeworfen haben, ohne es zu ahnen. Vielleicht sind um irgendeinen verstoßenen Häuptlingssohn große Kriege geführt worden, und seine Nachkommen, um die man sich vor tausend Jahren so erschrecklich bemüht hat, sitzen jetzt auf einer Klitsche in dieser Gegend oder stehen vielleicht an einer Hobelbank.«

»Wenn man Menschen nur zwei, drei Generationen hindurch verfolgen würde, könnte das schon die interessantesten Zusammenhänge geben. Bei jedem Roman frage ich mich immer nach den Voreltern und wie die sich verlobt haben, denn dadurch allein kann ich doch die Verlobungsszenen ihrer Söhne oder respektiven Töchter erst richtig beurteilen.«

Sie lachten. Herr Steinbock meinte, bei diesen Szenen wäre es im Grunde ja wohl immer dasselbe. Aber Regine wollte das nicht gelten lassen. Das käme doch jedesmal auf die Umstände und die Menschen an. Sie jedenfalls lege Wert darauf, sich so zu verloben, wenn es überhaupt einmal dahin kommen sollte, daß es ein ganz neues und großes Ereignis sei. Aber Herr Steinbock meinte, daß es dann wie immer und überall sein würde.

»Eine mir befreundete Dame«, fuhr Richard fort, »will mich durchaus dazu bringen, die unzähligen Romane von Zola zu lesen, die die Geschichte einer Familie durch drei Generationen behandeln. Es wäre unglaublich interessant, wie die einzelnen Schicksale immer wiederkehrten und eins sich aus dem andern entwickle.«

»So lesen Sie sie doch!«

»Um des Himmels willen, gnädiges Fräulein! Es sollen an die zwanzig Bände sein. Aber interessant ist es sicher. Eigentlich sollte jede Familie eine gewisse Tradition pflegen. Es ließe sich doch mit Leichtigkeit erreichen, daß man wenigstens noch über seine Großeltern und Urgroßeltern Bescheid wüßte. Aber auch da hapert es meistenteils schon. Wie wenig weiß ich schon von meiner Großmutter, und dabei lebt sie bei uns im Hause.«

»Die aus Gnuschkenhof!« sagte Herr Steinbock. Leider käme man nicht an dem Hof vorüber, er läge an einer anderen Landstraße, und die Gnuschkes säßen ja auch seit Generationen nicht mehr dort. Herr Steinbock wußte nicht einmal den Namen des jetzigen Besitzers.

»Es ist seltsam«, sagte Richard, »da liegt an einer Landstraße ein Gut, von dem man herstammt. Zwei Menschenalter hindurch ist keiner des Stammes mehr dortgewesen, und man trägt selbst nicht mehr den alten Namen. Meine Mutter ist wenigstens noch eine geborene Gnuschke, und wenn die eines Tages die Herrschaften dort besuchen würde, hätte das noch einen Sinn, bei mir nicht mehr. Und wer weiß, wieviel wir, meine Mutter, meine Schwester und ich, gerade aus Gnuschkenhof mitbekommen haben. Eine einzige Geschichte von dem alten Urgroßvater Gnuschke wird noch bei uns erzählt. Das ist eine ganz besondere Geschichte, die mir immer sehr zu Herzen ging, denn wäre sie anders ausgelaufen, gäbe es uns alle auf der Welt nicht. Meine Großmutter erzählt sie uns jedes Jahr einmal. Es war zur Zeit, als die Franzosen hier saßen und den Feldzug gegen Rußland vorbereiteten. Man hatte den Besitzern alle Pferde fortgenommen, so daß an die Frühjahrsbestellung nicht zu denken war. Auch meinem Urgroßvater Gnuschke hatten die Franzosen sechs Pferde fortrequiriert, und so nahm er einen Strick und ging in den Wald, um sich aufzuhängen. – Seltsam, daß das hier so ganz in der Nähe gewesen ist!«

»Wahrscheinlich in jenen Wald«, sagte Herr Steinbock und zeigte mit dem Finger nach dem Horizont.

»Als Gnuschke also mit seinem Strick in den Wald geht, trifft er einen französischen Offizier, den er gut kennt, und der Offizier fragt Gnuschke, wo er mit dem Strick hinwolle. Mich erhängen! sagt Gnuschke, da man mir meine Pferde fortgenommen hat. – Ein Wort gibt das andere, und im Verlauf fragt der Offizier, ob er denn seine Pferde aus einigen hundert Pferden herauserkennen würde. – Natürlich! sagt Gnuschke. – Gut, sagt der Offizier, Er kennt seine Pferde, aber kennen Seine Pferde auch Ihn? – Das versteht sich, sagt Gnuschke, und der Offizier verspricht Gnuschke seine sechs Pferde zurückzugeben, wenn die Pferde ihn erkennen. Sie gehen zusammen auf die große Waldwiese, wo die requirierten Pferde aus dem ganzen Kreis zusammenstehen, einige hundert. Es ist schon dunkel geworden, und der Offizier fordert Gnuschke auf, seine Pferde zu suchen. Natürlich denkt er, daß er sie nicht finden wird, und hofft wohl überhaupt, daß diese Pferde schon unter den abtransportierten sind. Aber Gnuschke steckt die Finger in den Mund und pfeift, und siehe, sechs Pferde heben die Köpfe, steigen hoch, schlagen aus, wiehern und wollen sich losreißen und zu ihrem Herrn hin. – Auf diese Weise bekam mein Urgroßvater seine Pferde zurück und konnte seine Frühjahrsbestellung machen und seinen Nachbarn aushelfen und war ein gemachter Mann.«

»Ein braver Mann, der alte Gnuschke!« sagte Herr Steinbock. »Mich würden meine Pferde nicht erkennen.«

»Aber Erich würden sie erkennen!« rief Regine lebhaft.

»Auch nur die aus dem Kutschstall gerade«, meinte Herr Steinbock, »und die beiden Mutterstuten vielleicht noch«. Es seien damals eben andere Zeiten gewesen. Heute mit den Knechten und Scharwerkern wäre alles ganz anders und Gnuschkenhof wäre ja auch nur ein kleiner Besitz.

»Aber immerhin«, verteidigte Richard Ambrus seinen Urgroßvater, »die Sache sieht wie ein Scherz und ein Zufall aus. Hätten die Pferde nicht gewiehert, so hätte Gnuschke sich aufhängen müssen. Aber dahinter, daß die Pferde ihren Herrn erkannten, steckt eben ein ganzes Leben voller Verstand und Liebe im Umgang mit den Tieren. Dieser Pfiff war die Probe auf das Exempel, und Gnuschke bestand. Und deshalb konnte im nächsten Jahr mein Großvater geboren werden, und dreißig Jahre später meine Mutter, und wieder zwanzig Jahre später ich und meine Schwestern. Und so sitze ich hier im Wagen und fahre stolz eine Meile an Gnuschkenhof vorüber.«

*

Alle lachten, und Herr Steinbock meinte, daß Herr Gnuschke sich wohl als tüchtiger Mann auch ohne seine Pferde nicht aufgehängt hätte. Nun drehte sich der Kutscher vom Bock um und konnte sich bei diesem Gespräch nicht länger zurückhalten. Man merkte, daß er lange mit sich gekämpft hatte, aber jetzt mischte er sich ein und sagte: »Die Pferde sind auch verschieden. Der Wallach würde mich auch erkennen, aber die Stute würde den Deuwel tun und wiehern.« Dann schwieg er und setzte nach einer Weile wie in Gedanken hinzu: »Ja, wenn ich ein Hengst wäre!« Worauf die drei in ein schallendes Gelächter ausbrachen, das nicht aufhören wollte.

»Ihr Ambrus seid eine verteufelte Gesellschaft«, sagte Herr Steinbock, als sie über die Brücke in den Hof von Schwenkendorf einbogen. »Ihr könnt wirklich gut von den alten Pruzzen, oder wie sie heißen, abstammen.«

Zur Seite quoll das Grün des Parkes in mächtigen Bäuschen über den Zaun. Im Viereck lagen die Scheunen und Ställe. Zwei Pferde wurden über den Hof geführt, hinten arbeitete der Gutsschmied in der Schmiede. Der Schlag seines Hammers verfing sich zwischen den Gebäuden und hallte wider. Die vordere Veranda, bei der der Wagen hielt, wurde von einer riesigen Linde überschattet. Zwei Jagdhunde schossen bellend heraus, und ein Mädchen erschien in der Tür. Im Tor des Kälberstalls tauchte Erichs breite Gestalt auf. Er kam langsam näher, um sich die Gäste aus der Stadt anzusehen. Aber statt des jungen Mädchens, das er auf einem Familienbild der Ambrus' gesehen hatte, bemerkte er nur einen jungen Mann in hellen Hosen und dunklem Überrock. Richard sprang aus dem Wagen ihm entgegen. Der romantische Anblick des Gutshofs versetzte ihn in seligste Stimmung. Er hätte den stattlichen Erich, der da mit allen Wahrzeichen des Landwirts auf ihn zukam, fast umarmt.

Unter dem Hundegebell kam auch Frau Steinbock auf die Veranda hinaus. Sie hatte sich fein gemacht, und man merkte an der Art, wie sie das Kinn gegen die Brust preßte, ihre Verwunderung, daß nur ein Gast ankam, wo sie ihrer drei oder vier erwartet hatte. Sie stand mit dem Aufwand ihres seidenen Kleides ein wenig beschämt vor dem jungen Menschen da und ärgerte sich. Vielleicht hatte sie aber auch einen erstaunten Blick Richards über ihren Leibesumfang aufgefangen. In diesem Punkt war sie empfindlich. Jedenfalls begrüßte sie den jungen Ambrus mit kaum beherrschter Abneigung, und Richard wurde zu seinem eigenen Erstaunen vor dieser Frau fast förmlich.

»Sie müssen schon mit mir allein vorliebnehmen, gnädige Frau«, sagte er.

»Man hat sich aber doch eingerichtet«, entgegnete sie scharf, und Richard merkte, daß Erich ihn einen Moment kalt ansah und Regine erbleichte. Herr Steinbock aber, der als letzter aus dem Wagen kletterte, rief mit ruhiger Laune: »Dann wird der Herr Studiosus eben für drei essen müssen!« und stellte die Stimmung notdürftig wieder her. Frau Steinbock zog sich ins Haus zurück und kam erst nach einer ganzen Weile in einem einfachen Kleid wieder zum Vorschein, als man bereits in dem Herrenzimmer saß. Zwischen ihr und Richard blieb eine unerklärliche feindliche Spannung bestehen, aber Richard war nicht der Mann, um sich Gedanken darüber zu machen, wie man sich zu ihm stellte. Er sprudelte seine Eindrücke über die Fahrt mit Lebhaftigkeit heraus, rühmte die Poesie des Gutshofes, die ihn ganz überwältigt habe, und wenn er von Frau Steinbock nur die notwendigsten Antworten erhielt, wandte er sich einfach an Erich, mit dem Freundschaft zu schließen er fest entschlossen war. Ihm gefiel es hier, und wenn er an die Jahre in Gohlungen dachte, die ihm bevorstanden, so wollte er sich hier, die Freundschaft des Vaters mit Herrn Steinbock benutzend, so recht ein Eldorado mit Reiten, Fischen und Jagen einrichten.

Man saß eine halbe Stunde im Zimmer, ehe das Essen aufgetragen wurde, denn die Kinder kamen erst spät mit den alten Braunen aus der Schule. Richard wäre lieber in den Park gegangen, aber Landleute neigen dazu, den städtischen Gast in das Zimmer und an den Tisch zu fesseln, da Ställe und Felder ihnen gewohnt und reizlos sind. Der Städter aber drängt hinaus, und so gibt es immer einen stillen Kampf zwischen dem Gutsherrn, der das Mittagessen bis zur Kaffeetafel verlängern möchte und den Kaffee bis zur Schweinevesper um sechs, und diese bis zum Abendessen, und das Abendessen als gemütliches Grogstündchen ausdehnen möchte bis zum Schlafengehen, das dann dem Städter wieder zu früh kommt. Der Städter hingegen, der zwar von den reichlichen Mahlzeiten auch keine auslassen will, drängt dazwischen ins Freie, fragt nach Wagen und Pferden, nach der Stelle, wo abendlich der Bock austritt, und versucht das Gespräch so zu wenden, daß man ihm schließlich doch die Ställe zeigt, auf die der Gutsherr ja auch wiederum stolz ist, und mit ihm zu der erhöhten Laube im Park geht, von der aus man den Sonnenuntergang beobachtet und das Wetter für den nächsten Tag festsetzt. So ließ Richard gleich nach dem Essen nicht locker, bis Erich ihn wenigstens in den Kutschstall führte, und da Erichs Reitpferd heute noch nicht gegangen war und auch die braune Fohlenstute gut ein wenig bewegt werden konnte, so wurde ihm schließlich verstattet, sich nach dem Kaffeetrinken Erichs zweite Reithose und ein Paar hoher Stiefel anzuziehen, die ihm zwar zu weit waren, aber zum Reiten ungefähr angehen mochten, und dann schwangen sich die beiden jungen Leute in den Sattel und ritten zum Hof hinaus, wobei Richard nur bedauerte, daß nicht Regine oder ein anderes Wesen weiblichen Geschlechts ihn hoch zu Roß beobachtete.

Seine Reitkünste waren nicht bedeutend, denn es lag lange zurück, daß der alte Ambrus als Posthalter über Pferde verfügt hatte. Aber es gab nichts auf der Welt, wozu Richard nicht ein natürliches Geschick mitbrachte. Erich zeigte ihm kleine Hilfen, die man dem Pferd geben muß, das Durchdrücken des Kreuzes, das Zurücknehmen der Schenkel, die richtige Haltung der Kandare, und als sie nach einer Stunde wieder in den Hof ritten, konnte Richard schon ein Pferd zum Rechts- oder zum Linksgalopp ansetzen, und die braune Stute ging artig am Zügel, kaute am Gebiß und ließ die Hinterhand nicht mehr schleppen. Herr Steinbock, der auf der Veranda stand, beachtete weniger diese Künste, als daß er mit einem Blick feststellte, ob die Pferde nicht zu schwitzig wären. Das ist das einzige, was den Landwirt an den Reitversuchen seiner Gäste interessiert.

»Kommen Sie noch ein bißchen in mein Zimmer«, sagte Erich, als sie die Pferde am Stall abgegeben hatten. Hier erst war der Raum, in dem Richard von dem Zauber des Landlebens völlig gepackt wurde. »So möchte ich leben!« rief er mehrmals und schlug mit der Reitgerte auf das schmale Bett. Es war eine richtige Inspektorstube. Ein Tisch stand am Fenster mit zwei wackligen Stühlen, ein altes schwarzes Ledersofa mit weißen Knöpfen an der untapezierten Wand. In einem Regal gab es einige Bücher landwirtschaftlichen Inhalts und allerhand Mappen und Tabellen, denn Erich hatte über einige Zweige der Wirtschaft Buch zu führen. Die Stube war ganz einfach und notdürftig, aber sie hatte ihr Eigenes durch die ungeschminkte Zweckmäßigkeit, die einem Leben unmittelbar an der Brust der Natur unterstellt war. An der Wand hingen Drilling und Schrotflinte, und man konnte sich vorstellen, daß man das Gewehr über die Schulter nahm und einfach an das Bruch hinter der großen Scheune ging, um noch rasch eine Ente zu schießen. Über einem Gestell hing ein englischer Sattel mit silberbeschlagenem Kandarenzeug. Einige hohe Stiefel, die allein schon den Städter entzücken können und von Streifen durch Feld und Flur, von Bockpirschen und Ritten berichten, standen in der Ecke.

»Ihr lebt hier!« rief Richard aus und dachte an seine durch das Examen besonders verhaßten Bücher. »Hier komme ich oft her, wenn ich erst Referendar am Gohlunger Amtsgericht bin!«

»Also darauf!« sagte Erich höflich. Er hatte eine Flasche Korn und zwei Gläser hinter dem Ofen hervorgezogen und eingeschenkt. »Kommen Sie möglichst oft. Wir wollen auf die Jagd gehen, Pferde einreiten und alles, was Sie wollen.« Er bemühte sich, den offenbar ganz prächtigen Menschen die steife Begrüßung durch seine Mutter vergessen zu lassen.

*

Am liebsten wäre Richard für den Rest des Tages in diesem Zimmer geblieben, um sich mit Erich ordentlich anzufreunden, aber das Mädchen kam sie zum Abendessen holen. So saßen sie wieder an dem langen Tisch, oben die Erwachsenen, dem Gast zu Ehren bei Kälberbraten und Tee, unten die Kinder bei der Milchsuppe; Regine zwischen den Parteien, aufschöpfend und beteilend; und nachher wieder in dem Herrenzimmer bei Haschenbier aus Braunsberg. Auch hier begann es jetzt behaglich zu werden, weil man mit dem Gast keine Umstände machte. Herr Steinbock ging mit einer langen Pfeife im Zimmer auf und ab. Frau Steinbock, die einen Sessel bis zur letzten Ecke ausfüllte, hatte sich eine Brille aufgesetzt und las in der gestrigen Nummer der »Gohlunger Kreiszeitung«. Was ihr gefiel, las sie laut vor und achtete darauf, daß alle zuhörten. Regine, die noch mit den Kindern und in der Küche zu tun hatte, kam hin und wieder. Schließlich setzte sie sich mit einer Handarbeit hin, aber weit fort von Richard, der schon beiseite gerückt war, um ihr Platz zu machen. Gegen neun fing Herr Steinbock zu gähnen an und war Frau Steinbock mit der Zeitung fertig.

Richard, der noch nicht die mindeste Lust zum Schlafen verspürte, entdeckte auf einmal in der Ecke ein altes Tafelklavier, setzte sich daran und griff einige Akkorde. Herr Steinbock erzählte von dem Konzert, das der Herr Studiosus heute bereits auf offener Straße in Gohlungen veranstaltet hatte, und dieser Bericht hob ein wenig die Stimmung, da selbst Frau Steinbock bei der Vorstellung der seltsamen Situation, wenn auch noch sauer, lächeln mußte. Das Klavier war verstimmt, und etwas Schumann oder Chopin, wie er zuerst wollte, gab es nicht mehr her. So spielte er ein Potpourri von bekannten Tänzen und Volksliedern mit kunstvollen und humoristischen Wendungen und Übergängen. Herr Steinbock fiel schließlich mit seinem Gesang ein, und alle folgten seinem Beispiel. Selbst Regine summte bei den Volksliedern mit leiser Stimme mit. Sie konnten allerdings nie lange mitsingen, denn Richard wich immer wieder in neue Melodien aus, deutete zum Beispiel im Baß schon das nächste Lied an, während oben das alte noch nicht zu Ende war, oder erging sich in Trugschlüssen und Variationen.

Mit einem Schlag war das Zimmer in Aufruhr. Man rief Richard zu, welches Lied er jetzt folgen lassen solle, und prompt stieg die verlangte Tonfolge aus den Tiefen des Basses empor. Es gab Unterhaltungen in das Spiel hinein, wenn er Stücke aus Opern spielte, die man in Schwenkendorf erst dem Namen nach kannte. Das Walhallmotiv und der Feuerzauber aus der »Walküre« erregten Verwunderung, und Richard mußte von Wagner erzählen, der mit seinem Bayreuth auch auf dem Lande schon Aufsehen erregte. Regine wurde in den Keller geschickt, um zwei Flaschen Rotspon zu holen. Herr Steinbock berichtete aus seiner Elevenzeit, wie ihm der alte Ambrus auf dem Klavier vorgespielt habe, wenn sie zum Oberinspektor Kickton in Nickelsdorf eingeladen waren, und schließlich bestand er darauf, daß Erich und Regine einen Walzer tanzten. Richard hoffte auch noch, Regine in seine Arme zu bekommen, und bemühte sich, Erich wenigstens den Flohwalzer mit zwei Fingern beizubringen. Aber ehe er es begriffen hatte, war Regine verschwunden.

»Sie sollten Musiker werden«, sagte Erich. »Ich sehe doch, daß Sie ganz ungewöhnlich musikalisch sind.« Aber Richard sträubte sich. »Musiker verhungern oder krepieren hinter dem Zaun!« entschied er. Und ob man es sich so schön vorstelle, täglich fünf Stunden Fingerübungen zu machen. Nein, er hätte von seiner Musik, die er nur zu seinem Vergnügen betriebe, weit mehr als etwa sein Freund Ulrich Reuschhagen, der nun schon ein berühmter Mann sei. – Er sah sich bei diesem Namen selbstbewußt und fragend um, aber hier hatte noch niemand von Ulrich Reuschhagen vernommen.

Selbst Frau Steinbock lobte das Solide an seiner Auffassung, und Herr Steinbock entschied sich dahin, daß Musik zum Vergnügen da wäre und man von einem Spiel wie dem seinen viel mehr hätte als von großstädtischen Konzerten. Aber Erich blieb dabei, daß man Künstler werden müsse, wenn man eine ganz ausgesprochene Begabung habe. So mißtrauisch er selbst dem Leben und den Menschen gegenüberstand, so hätte er doch gern jemanden gesehen, der blindlings seinem Stern folgte, und er dachte, daß von allen Menschen dieser Ambrus das Zeug dazu zu haben schien.

Regine war aus dem Zimmer gegangen, ehe es zum Tanzen mit Richard kam. Wie sie die Treppe hinaufstieg und die Tür ihrer kleinen Stube ansah, wußte sie, was gleich hinter dieser Tür geschehen würde. Den ganzen Tag über hatte sie es gewußt und hatte die Treppe und die Einsamkeit ihres Zimmers voller Furcht vermieden, obwohl sie Zeit gehabt hätte, hinaufzugehen. Sie wußte es, seit sie Richard im Wagen gegenübergesessen hatte, und es hatte ihr mit Krallen ins Herz gepackt, als er vor ihr die frommen Namen ihrer Heimat ins Heidnisch-Phantastische wandelte. So war es richtig! fühlte sie, gerade so war es ihr verhängt! Jetzt sanken alle ihre Schätze im Himmel dahin, denn sie liebte diesen, der nicht einmal ihren Glauben hatte, und sie würde alles daransetzen, ihn zu bekommen. Alle Entsagungen ihres jungen Lebens stiegen vor ihr auf. Sie wollte weiter dienen und sich demütigen und sich die Füße wundlaufen, und nur dieses eine wollte sie vom Leben erbetteln und erkämpfen mit allen Kräften, diesen Mann, der größer und herrlicher war als alle Menschen.

Sie öffnete die Tür und sank vor ihrem Bett nieder. Auf einmal fühlte sie, daß sie Gott um dieses eine nicht bitten konnte, und drückte das Gesicht in die Hände und weinte, während von unten die Töne des Klaviers heraufdrangen.


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