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9.

Der nächste Tag stand unter dem Zeichen des Gottesdienstes und der Taufe, zu der Herr Gerhäuser, der Besitzer des Sägewerks Schmalbitten, das Pfarrhaus und die gesamten Gäste geladen hatte. Herr Gerhäuser war noch vor wenigen Jahren Zimmerpolier beim alten Reuschhagen in Elbing gewesen, hatte sich dann mit der Tochter der Schneidemühle Schmalbitten verheiratet und nach dem Tode des alten Schmiedeberg das Werk übernommen. Jetzt wohnte er in einer hübschen Villa am See. Zu der Familie seines früheren Brotherrn bewahrte er eine rührende Anhänglichkeit. Seinem Einfluß hatte Lemke die Grünwalder Pfarre zu verdanken, und es war selbstverständlich, daß er seinen Erstgeborenen, der sich erst nach Jahren der Ehe eingestellt hatte, in Grünwalde taufen ließ und daß die Pfarrfrau eine Patenstelle übernahm. Als zweiter Pate war sein Bruder aus Christburg herübergekommen, der gleichfalls ein Baugeschäft hatte, wenn auch kein so großes und lohnendes.

Als die Glocken läuteten, ging das gesamte Pfarrhaus außer Regine, die in der Veranda ein Buch lesen wollte, in geschlossenem Zuge zur Kirche, voran der Pfarrer mit seiner Frau. Er schlug im Talar ernst und würdig die blanken Augen nieder, da ihre Lustigkeit durch nichts in der Welt zu dämpfen war. Vor dem Portal fuhr eine vornehme Kalesche nach der anderen vor. Das Schmalbitter Rittergut kam mit vier glänzenden Rappen angejagt. Damit die Herrschaften fromm sein konnten, behüteten Kutscher und Lakaien die Wagen und Gespanne während des Gottesdienstes im Krug. Das freiherrlich Buddenbroksche Paar grüßte die Loge des Pfarrhauses mit einem diskreten Zunicken, das auch für den berühmten Künstler mit berechnet war.

Als das letzte Lied zu Ende ging, versammelte sich die Taufgesellschaft vor dem Altar. Die Orgel dröhnte noch immer. Der rosige Pfarrer stand jetzt, da es eine Taufe galt, nicht mehr mit niedergeschlagenen, sondern mit lustig blinzelnden Augen da. Vor ihm in der ersten Reihe standen die Taufeltern. Im Gehrock Herr Gerhäuser, ein kräftiger Mann von nicht mehr als dreißig Jahren. Er trug bei rasierten Backen einen dunklen, viereckigen Bart, einen sogenannten Fußsack. Ein beginnender Bauch kündigte an, daß er es über seine Jahre hinaus zu Einkommen und Ansehen gebracht hatte. Olly, die junge Frau, stand zierlich und noch ein wenig blaß am Arm ihres Gatten, und ihnen zur Seite hielt eine dicke Amme den kleinen Lothar. Wie eine Wolke aus weißen, duftigen Spitzen ruhte er auf ihrem Arm. Paula war über das Kind gerührt und hätte sich am liebsten vorgedrängt, um es einmal in die Arme zu nehmen. Als es während der Predigt anfing zu schreien, kitzelte sie es wenigstens mit zärtlichem Finger am Kinn, aber die Amme drehte es brüsk von ihr fort und legte es in die Arme des Christburger Onkels.

Reuschhagen tat das Dröhnen der Orgel weh, und man sah ihm an, daß er die Kirche am liebsten verlassen hätte. Endlich hörte die Orgel auf, und Pfarrer Lemke erhob seine Stimme.

Ihn bewegte offenbar die Vorstellung, daß er selbst bei dieser Taufe drei Generationen von Menschen überschaute. Er sprach von dem alten Herrn Reuschhagen in Elbing, bei dem der Taufvater eine gottgesegnete Laufbahn begonnen hätte und der mit seinen Gedanken heute gewiß bei ihnen weilte, da sein alter Mitarbeiter mit seinem Kindlein vor den Altar des Herrn trete. Er sprach aber auch von dem alten, verstorbenen Herrn Schmiedeberg, den in der Gegend noch jeder kenne und der wohl freundlich aus dem Himmel auf sie niederblicke und mit Freuden sehe, wie sein Werk sich stattlich entwickelt hätte. Hier war nun des Fleißes und der Tüchtigkeit der Eltern und ihres schlichten frommen Sinnes zu gedenken, und besonders zu berühren, daß Herr Gerhäuser sich nicht darauf beschränke, durch den Bau von Scheunen und Ställen der ganzen Gegend seinen Stempel aufzudrücken, sondern am Feierabend zu seiner Geige greife und bei der edlen Frau Musika seine Erholung und Erbauung suche. Von den Voreltern und Eltern kam er nun auf den Täufling selbst zu sprechen, und wie er in der Zeit zurückgegriffen hatte, so lag es jetzt nahe, den Blick in die Zukunft schweifen zu lassen. Wie würde das Leben des Täuflings verlaufen? Wie würde die Welt nach abermals dreißig oder gar vierzig Jahren aussehen? Im Jahre 1910? Im Jahre 1920? Die Großväter hätten noch in der Sehnsucht nach dem großen deutschen Reich gelebt und diese Sehnsucht schließlich erfüllt gefunden. Die Eltern tummelten sich jetzt, um dieses Reich immer größer und dauerhafter zu machen, und es würde auch immer größer und stärker werden – hier war die einzige Stelle, bei der Pfarrer Lemke seine Stimme pathetisch erhob –, wenn wir über den Fortschritten unserer Erkenntnis und Technik – er brauche nur an das Wunderwerk des Oberländischen Kanals mit seinen »schiefen Ebenen« zu erinnern – nicht Gott aus dem Herzen verlören. »Hoffen wir, handeln wir«, sagte er, »daß dieses Knäblein im Glauben an Gott und in der Gnade Gottes aufwächst, dann wird es ihm wohlergehen.«

Während die Frauen und der Onkel aus Christburg Tränen in den Augen hatten und die anderen Herren das Dunkel der Zukunft, etwa bis zu den angeführten Jahren 1910 oder 1920 zu durchdringen suchten, Herr Gerhäuser insbesondere an den Rückversicherungsvertrag mit Rußland und an seine Holzlieferungen aus Polen dachte, während der Pfarrer alle seine Zuhörer im Bann hielt und besonders auf den berühmten Schwager den Eindruck einer starken geistigen Kraft zu machen sich bemühte, taufte er das Kind auf die Namen Lothar, Gustav, Erich, womit er wiederum Paula besonders ans Herz griff.

Nach der heiligen Handlung holten sie Regine ab und fuhren in der Pfarrkutsche und zwei Wagen des Sägewerks nach Schmalbitten.

Reuschhagen saß mit den Gästen im Pfarrwagen. »Es ist schade«, sagte er zu Richard und den Mädchen, »daß ihr auf diese Weise so wenig von Grünwalde habt, da ihr ja durchaus schon morgen wieder nach Hause wollt. Aber paßt nur auf, so eine Schneidemühle hat es in sich. Wenn ich nicht Musiker wäre, möchte ich Schneidemühlenbesitzer sein. Eine Schneidemühle ist das Poetischste, was es auf der Welt gibt. Seht, wie da im See die Baumstämme auf und nieder schaukeln, und merkt auf den Geruch des frischen Holzes. Holz ist das herrlichste Material, weich und fest zugleich, elastisch und dauernd, und selbst als Fußboden und Balken noch immer lebendig, voller Masern und Adern, und wenn man es anschlägt, hat es stets einen reinen, hellen Klang, der immer auf einen Ton gestimmt ist.« Paula und Regine schnupperten mit ihren Nasen in dem Duft, der tatsächlich voll strenger Weichheit vom Holzplatz und dem See herüberwehte.

Da die Wagen vor ihnen erst frei werden mußten, hielten sie eine Weile vor der Gerhäuserschen Villa. Sie war im nordischen Stil gebaut und ganz mit Holz verschalt, voll geschnitzter Veranden und Balkons, und man sah von ihr über den Garten und den Holzplatz weithin auf den See. Eine ganze Bucht war mit Stämmen bedeckt, die sich hin und her schoben und zwischen denen immer wieder gläsern das Wasser hindurchbleckte. Paula holte tief Atem. »Hier gefällt es mir!« rief sie aus.

Richard und Regine vermieden es, sich anzusehen.

Wenn man nicht gleich auf Kaviar und Austern kam, hätte man nicht viel kostbare Gerichte nennen können, die es auf dem Taufschmaus bei Gerhäusers nicht gab. Krebse waren ja derzeit im Oberland keine besondere Delikatesse, aber so, wie sie als kleines Vorgericht von Frau Gerhäuser auf den Tisch gebracht wurden, verdienten sie doch Beachtung, nämlich in einer Dillsauce aus saurer Sahne und nur als Schwänze. Schon die Arbeit, die diese vier Schock Krustentiere verursacht haben mußten, erweckte Ehrfurcht. Dazu trank man einen Portwein aus kleinen Gläsern, faßte aber die verheißungsvollen Batterien von weißen Flaschen und Rotweinkaraffen schon mutig ins Auge. Immerhin dachte man, daß es nach den Krebsen bald ein Ende haben würde, aber nun fing es erst mit einer Mocturtle-Suppe so richtig an, und dann schleppten das Stubenmädchen und der Kutscher erst die ernsteren Gänge herbei. Der Kutscher trug eine rote Wollweste mit silbernen Knöpfen. Im nahen Schloß, beim Freiherrn v. Buddenbrok, konnte es nicht vornehmer zugehen. Da marschierten Schleie auf, da lagen oder standen auf Schüsseln die leckersten Sachen: dick eingemachte Früchte, Trüffeln und Mayonnaisen, Salate, die von weither kamen, Sachen, die man nicht kannte und nach denen man nicht zu fragen wagte. Nach den Schleien gab es Poularde, aber dann erst wurde der Höhepunkt erklommen mit einem Wildschweinbraten.

Die Stimmung stieg. Der Pfarrer hielt eine lustige Rede, aber es wurde allen deutlich, daß er hierbei fast schon seine Pflichten verletzte, denn es war die reinste Damenrede in erster Linie seinem Gegenüber, der neckischen Paula, dargebracht, in deren Hand das Weinglas schon beträchtlich schief stand. Dann kamen zwei Bomben Vanilleeis herein, und der Kutscher goß dazu unaufhörlich die Champagnergläser voll. Selbst die drei Herren aus dem Werk, die Herr Gerhäuser eingeladen hatte und die zuerst ziemlich stumm am Tisch ihres Chefs saßen, wurden schon lebhaft. Jetzt wäre es für Richard Zeit gewesen, aufzustehen und eine seiner berühmten Damenreden zu halten, womöglich in Versen. Aber ihm wollte die Stimmung nicht kommen. Von Zeit zu Zeit mußte er auf Regine sehen und wurde ganz kleinlaut.

Es war ein hehres Fest! Man durfte auch nicht übersehen, daß das alles an einem Ausziehtisch neuester Konstruktion vor sich ging. Wer sonst zu sechzehn Personen essen wollte, mußte mindestens zwei große Tische nebeneinanderstellen, die nur bei ungewöhnlichem Glück die gleiche Höhe hatten. Aber der praktische Herr Gerhäuser verstand sich auf die neuesten Errungenschaften. Es ward den Gästen aus Gohlungen klar, daß der Zufall sie an einem wahren Staatsakt hoher Repräsentation teilnehmen Heß. Sie waren, wie sie da hereingeschneit kamen, willkommen geheißen, um das Glück der Firma Gerhäuser ihrem Gedächtnis einzuprägen. Es gab nun Zeugen für die Art, wie Gerhäusers die Taufe ihres Erstgeborenen feierten. Nicht nur, daß man bei dieser Gelegenheit den Abkömmlingen des alten Chefs Reuschhagen vor Augen führte, was aus dem einstigen Zimmerpolier geworden war, man streute auch den Glanz weithin in die Welt, bis nach Gohlungen aus.

Eigentlich hätte man denken sollen, daß ein solches Fest, das mit der aufgehobenen Tafel keineswegs zu Ende war, sondern sich in Likören und Importen, in Mokka und Bier, hellem und dunklem, fortsetzte, auch auf Richard und Regine ausgleichend wirken mußte. Aber die beiden sahen aneinander vorbei, als ob sie sich nicht kennten, und gegen zehn Uhr war Richard auf einmal verschwunden. Zuerst fiel es nicht besonders auf, aber dann suchte man und war schließlich ängstlich, und erst Reuschhagen klärte darüber auf, daß er, einem plötzlichen Entschluß folgend, nach Gohlungen zurückgegangen war. Ganz allmählich war dieser Gedanke in Richard aufgestiegen. Es war noch allerhand an dem Abend getrieben worden. Er hatte noch das Cello bei einem Trio von Haydn gespielt, in das Herr Gerhäuser als leidenschaftlicher wenn auch schwacher Musiker durch viele bescheidene Rückzüge sowohl Richard wie Reuschhagen hineinmanövriert hatte. Es war ferner getanzt worden, und dabei hatte es sich nicht umgehen lassen, daß Richard auch Regine aufforderte und mit ihr zweimal um den ausgeräumten Salon herum walzte. Man hatte sich ferner leise in das Kinderzimmer hinaufgeschlichen, um den schlafenden Täufling noch einmal zu bewundern – auch die Herren erhielten von dem stolzen Vater keinen Dispens –, und bei dieser Gelegenheit hatte es der Zufall gegeben, daß Richard neben Regine die Treppe hinaufging. Das alles war geschehen, ohne daß sie ein Wort miteinander gesprochen hatten.

In der großen Gesellschaft war diese Spannung zwischen ihnen noch allenfalls zu verdecken, aber mit Entsetzen dachte Richard daran, wie es werden sollte, wenn er morgen mit den Mädchen allein über zwei Stunden lang im Wagen saß. Diese Aussicht machte ihn mit jeder Stunde unruhiger. Er hätte nun einfach zu Regine hingehen und ein Wort der Entschuldigung sprechen können, aber er wußte nicht, womit er sich entschuldigen konnte, und hatte das dunkle Gefühl, alles nur schlimmer zu machen. So nahm er schließlich Reuschhagen beiseite und sagte ihm, daß er so um zehn herum nach Hause gehen wolle. Zu Fuß, bis nach Gohlungen, nicht etwa ins Pfarrhaus. Reuschhagen nickte und fand, daß es sehr schön wäre, in der Nacht und allein drei Meilen über Land zu laufen. »Ein durchaus verständiger Plan!« Er versprach, ihn gegebenenfalls bei den andern zu entschuldigen. »Und alles Gute auch, denn wir sehen uns nun wohl lange nicht.«

Um zehn Uhr drückte sich Richard in die Diele, nahm seine Sachen vom Ständer und ging hinaus. Eigentlich komisch, im Gehrock eine solche Fußwanderung zu machen! Paula mußte seine anderen Sachen morgen mit dem Wagen mitbringen. Es war draußen stockfinster, und zunächst konnte er nicht Hand vor Augen sehen. Dann erkannte er den Weg und tappte sich vorsichtig die Auffahrt bis zur Straße hinunter. Über den dunklen Büschen sah er das erleuchtete Haus hinter sich. Die Nacht lag wie eine Wand vor ihm. Allmählich sah er zur Rechten den See, halb verdeckt durch die schwimmenden Stämme. Der Wind fuhr mit schweren Stößen daher. Reuschhagen hatte ihm gesagt, daß er bis zum Kanal gehen sollte, dann diesen entlang bis zur Zölp und von dort einfach die große Landstraße weiter. So brauchte er nicht erst über Schloß und Dorf Schmalbitten. Längs des Kanals ging der Treideldamm, er sah ihn als hellen Streifen zu seinen Füßen, rechts neben sich das dunkle Wasser, das ohne Laut dalag. In zwanzig Minuten war er bei der Zölp, kletterte bei der Brücke auf die Straße hinauf und hatte jetzt den geraden Weg vor sich. Gegen den Himmel sah er, wie sich die Platanen unter dem Wind bogen. Er mußte den Hut festhalten. Bis Bestendorf ging er in strammem Schritt, in einer halben Stunde sah er ein erleuchtetes Fenster im Schloß. In der Lichtung konnte er gut sehen, aber jetzt kam der zwei Meilen lange Wald, wo man nur an dem hellen Streifen oben zwischen den Bäumen ungefähr die Wegrichtung erkannte. Hier gab es jetzt keine Abwechslung mehr, diese Strecke war einfach stumpfsinnig abzugehen. Wenigstens hörte hier der Wind auf. Er steckte sich eine Zigarre an, sah beim Schein des Streichholzes nach der Uhr und marschierte los.

Er nahm sich vor, lange, lange Zeit nicht nach der Uhr zu sehen. Wenn er sie wieder hervorholte, sollte mindestens eine halbe Stunde vergangen sein, aber es waren nur zwanzig Minuten, obwohl er heimlich auf eine dreiviertel Stunde gerechnet hatte. Da er nichts anderes tun konnte, zählte er seine Schritte, immer bis hundert, aber es wurde ihm bald langweilig. So geht das nicht, sagte er zu sich, man muß über etwas nachdenken. Als Objekt bot sich Regine dar. Er überdachte noch einmal den ganzen Fall und kam zu dem Ergebnis, daß sie ihn liebte. Das hatte er eigentlich von vornherein angenommen, nur wurde es ihm jetzt etwas bewußter. Man mußte weiter denken: Also ein Mädel bekommt von dem Mann, den sie liebt, einen Kuß. Was nun? Einfachste Lösung: man verlobt sich mit ihr! Man hat sie geküßt, also verlobt man sich mit ihr. Hier sah er wieder nach der Uhr und hoffte, daß eine Unmenge Zeit vorübergestrichen wäre. Es waren aber nur drei Minuten, also brachte auch das Nachdenken wenig ein. Er marschierte stumpfsinnig weiter, jeden Schritt zu achtzig Zentimetern, macht auf den Kilometer eintausendzweihundert und fünfzig Schritte. Diesmal zählte er die Schritte einen Kilometer lang wirklich aus und sah dabei nach der Uhr. Er hatte etwas über sieben Minuten gebraucht, hoffte aber, daß seine Schritte länger gewesen waren und er am Ende freudig überrascht sein würde, wie schnell er gegangen war. Er faßte Mut und schritt im gleichen Tempo weiter.

Das ganze Unglück war nur gekommen, weil Eleonore nicht da war, sagte er sich. Auf einmal fiel ihm ein, daß Paula und Regine miteinander sprechen würden. Natürlich werden sie miteinander über mich sprechen. Paula ist doch verständig, sie wird Regine beruhigen. Sie wird ihr sagen: Das ist nun einmal so, Männer küssen eben manchmal, das muß man nicht so tragisch nehmen! Und Regine? Man kennt ja die Weiber! Regine wird weinen und sagen: Ich habe ihn aber doch so furchtbar lieb! Eigentlich war Regine ein famoses Mädel. Er sah wieder ihren Kopf vor sich, die erschreckten Augen, die schlanke Figur, das ganze zitternde Geschöpf. Wirklich, ein famoses Mädel! Vielleicht verlobte man sich wirklich mit ihr! Es mußte doch schon seinen Grund haben, daß man sie küßte. Hier sah er wieder nach der Uhr und hoffte auf eine große Spanne Zeit. Diesmal hatte das Nachdenken zwölf Minuten in Anspruch genommen.

Allmählich wurde er müde. Man hatte doch zuviel gegessen und getrunken. Donnerwetter, war das ein Rotwein gewesen! Wie wäre es, wenn man sich in den Wald legte und ein wenig schliefe? Aber das Gras zu beiden Seiten war naß. Man muß schon weiterlaufen. Ob sie bei Gerhäusers noch auf waren? Es war inzwischen zwölf geworden.

*

Aber um diese Stunde saß man bereits in Grünwalde im Pfarrhaus und schwatzte. Daß Reuschhagen aufgetaut und in lustigster Stimmung war, verschlug allerdings wenig. Er wurde dann noch stiller als gewöhnlich, setzte nur ein leises Lächeln auf, und alle anderen um ihn konnten sich zu Tode langweilen. Er tat nichts dagegen. Aber der Pfarrer war in voller Fahrt, und Paula hatte einen regelrechten Schwips. Sie strich sich das Haar über die Ohren und mimte die Tänzerin Cléo de Mérode. Der Pfarrer ergriff eine Küchenstürze und schlug damit zu ihren Bewegungen das Tamburin. Er hatte sich in die neckische kleine Kröte bis über die Ohren verliebt. Die Pfarrfrau besorgte heißes Wasser zum Grog.

»Was hat bloß der Richard?« fragte die Pfarrfrau auf einmal.

»Ach, der hat was mit Regine«, lachte Paula. »Das ging schon den ganzen Tag. Sag, Regine, habt ihr euch gezankt, ist er frech gewesen?«

»Ich weiß nichts von deinem Bruder«, sagte Regine und wurde über und über rot. Sie half gerade der Pfarrfrau die Gläser auf den Tisch stellen.

»Laßt Fräulein Steinbock in Frieden!« donnerte Reuschhagen aus seiner Ecke. »Komm her, Regine!« Er duzte manchmal alle Menschen. Sie hatte brennende Lust, zu ihm hinzugehen, rührte sich aber nicht. Auf einmal sagte sie kurz, in plötzlicher Aufwallung: »Herr Ambrus hat mich beleidigt.« Es war, als wollte sie sich mit diesem Wort in den Schutz Reuschhagens begeben.

»Er hat ihr einen Kuß gegeben!« platzte Paula heraus. »Sag, Regine, ist das wahr? Hat er dir einen Kuß gegeben?«

In diesem Augenblick erhob sich Reuschhagen von seinem Platz, umfaßte die bleich und fassungslos dastehende Regine mit seinen riesigen Armen und leitete sie zur Tür hinaus. Er trug sie fast die Treppe empor, als er sie auf ihr Zimmer brachte. Sie sträubte sich nicht. »Arme Kleine!« sagte er immerzu und streichelte sie. »Arme Kleine!« Oben stellte er sie vor ihr Bett hin. »Es wird schon gut werden. Ich hab's ja gesehen. Es wird schon gut werden. Nun lege dich hin und schlafe!«

»Herr Reuschhagen!« schluchzte sie und legte die Arme um seinen Hals.

»Ja, ja, Kleine«, beruhigte er. »Ist ein großer Herzensbrecher, der Ambrus. Ein begabter Kerl, tausendmal begabter als ich. Willst ihn denn als Mann haben?«

»Ja«, schluchzte sie.

»Laß ihn sein, Kind. Du bist zu schade für ihn.«

»Nein, nein!« schluchzte sie weiter.

Er streichelte sie immer noch. »Sollst ihn ja haben, Kind, wenn es durchaus sein muß. Sollst ihn ja haben. Nun schlafe nur erst ein bißchen.«

»Ach«, sagte sie ruhig und ließ ihn los. »Sie können mir auch nicht helfen.«

»Nein, im letzten Grunde kann keiner einem anderen helfen.« Er ging hinaus.

Auf der Treppe begegnete ihm Paula, die zu Regine wollte. Er nahm sie wieder mit hinunter. »Lassen Sie sie ein bißchen allein.« Unten tranken er und der Pfarrer noch ein Glas Grog. »Kinderchen, verlobt euch untereinander«, sagte der Pfarrer, und die Pfarrfrau meinte lakonisch, daß es wohl so kommen würde. Paula zuckte die Achseln. »Er wäre dumm, wenn er sie nicht nimmt.«

Nur Reuschhagen blieb still und rührte sein Glas um. »Nun geht schlafen«, sagte er nach einer Weile und stand auf.

Es war um die Zeit, als Richard sich den ersten Häusern der Stadt näherte. Er war sehr müde und ging mit hängenden Gliedern durch die Straßen. In der Milchstraße bemerkte er im Amendeschen Hause Licht. Die ganze Etage war erleuchtet. »Na nun?« sagte er. Aber auch auf der Marktseite waren die Vorderzimmer erleuchtet. Er sah nach der Uhr, um sich zu vergewissern, aber es war nach wie vor dreiviertel zwei. Die Haustür wurde geöffnet, und Willy Amende ließ gerade den Sanitätsrat Arnold heraus, der sich mit großen Schritten über den Markt entfernte. Richard rief ihn an.

»Ja, ja, mein Lieber«, sagte der alte Herr. »Media in vita, wie es so schön heißt. Der alte Amende liegt im Sterben.«


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