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11.

Regine erschien nicht mehr in dem weißen Haus mit den vier Edeltannen. Sie schob nicht mehr O-chens Korbstuhl ans Fenster und wartete, daß Richard aus dem Gericht käme, oder, wie sie sagte, auf den Schulwagen. Richard und Paula gingen scheu umeinander herum. Paula hatte noch keine Liebesgeschichte in ihrer Nähe spielen sehen, und sie fühlte sich nicht ganz sicher auf diesem Gebiet. Aber es imponierte ihr schrecklich, daß sie nun in einem seelischen Konflikt mitteninne stand. Sie konnte es sich nicht anders vorstellen, als daß so etwas mit einer Verlobung endete.

Einige Tage brauchten die Eltern Ambrus nichts zu merken. Daß Richard von Grünwalde zu Fuß in der Nacht nach Hause gekommen war, konnte noch gut seinen vielen Extravaganzen angereiht werden, zudem stand das Hinscheiden des Herrn Amende im Vordergrund des Gesprächs. Richard mußte dreimal erzählen, wie er in der Nacht das ganze Haus erleuchtet gesehen hatte und wie der Sanitätsrat herausgekommen war. »Der arme Sohn!« sagte Paula. »Da stand er noch am Sonnabend vor der Tür und grüßte, als wir vorüberfuhren, und ahnte nichts.« Sie besann sich auf seinen Besuch im Sommer. Es gefiel ihr eigentlich sehr gut, daß sie Willy noch kurz vor dem Ereignis glücklich und unbekümmert gesehen hatte und sein Vater gerade gestorben war, als sie und Regine mit Leichenbittermiene aus Grünwalde zurückgefahren kamen. Überhaupt diese gräßliche Reise nach Grünwalde! Sie hatte sich alles viel netter vorgestellt und vor allen Dingen von einem Künstler einen viel größeren Eindruck erwartet. Sein Brief klang nach besonderen Festen, so aus der römischen Kaiserzeit etwa, und nun war eigentlich gar nichts Besonderes gewesen. Man hatte sogar einen recht bitteren Nachgeschmack. Sie wollte es nicht wahrhaben, daß sie auf der Heimfahrt am Montag von einem regelrechten Kater geplagt wurde. »Ich Kater? Nein, du mit deiner dummen Küsserei!« Das war alles, was zwischen den Geschwistern über Grünwalde gewechselt wurde.

Der Postvorsteher und Richard gingen auf das Begräbnis. Nicht gerade in das Trauerhaus hinein, wo Pfarrer Salbe die Leiche einsegnete, aber sie schlossen sich dem Trauerzug nach dem alten Kirchhof an. Von der Marienkirche schlugen die Glocken dumpf über die ganze Stadt. Böhnkes Rappen hatten schwarze Tuchüberhänge. An den Augen waren große kreisrunde Löcher eingeschnitten, aus denen die Pferdeaugen wie bei einem Femegericht ganz gespenstisch heraussahen. Der mit Kränzen geschmückte Sarg schwankte bedenklich auf dem schlechten Pflaster. Frau Amende, die mit dem Pfarrer hinterherging – Fahren wäre ihr wie Fahnenflucht auf diesem Gang erschienen –, schwankte kaum weniger. Sie hatte nicht viel geweint, aber sie war in diesen Tagen um ein Jahrzehnt gealtert. Ihr längliches Gesicht war fast durchsichtig geworden, und die große Nase, die sie den Kindern vererbt hatte, schnitt scharf in die Luft vor. Denn sie hielt den Kopf noch immer aufrecht.

Es war ein großes Gefolge, und die Töchter hatten keinen Anlaß, Ausstellungen zu machen. Wenn sie auch der Ansicht waren, daß der Landrat gut selber hätte kommen können. Aber er hatte einen großen Kranz geschickt und seinen Wagen zur Verfügung gestellt. Willy fand das sogar sehr viel. Immerhin druckten sie seit zwanzig Jahren das Amtliche Kreisblatt für ihn. Sonst aber war fast alles aus Gohlungen erschienen, denn mit dem alten Herrn Amende hatte fast jeder irgendwie zu tun gehabt.

Der Himmel war grau, und unaufhörlich fiel ein dünner Regen hernieder. Der Boden auf dem alten Kirchhof war aufgeweicht. Der Zug mußte sich auflösen, und man drückte sich an den Rand der Gänge, um sich nicht die Schuhe vollzuschöpfen. Von den alten Bäumen wirbelten die Blätter hernieder. Zu dem Grab hatten Bretter gelegt werden müssen, damit man hingelangen konnte, um dem Sarg nachher die drei Hände voll Erde nachzuschicken. »Auf so einem Begräbnis holen sich immer drei den Tod«, flüsterte der Amtsgerichtsrat Richard zu und sah in die Runde, wer es sein könnte.

»Drum trinke man hernach einen steifen Grog! Kommen Sie ins Deutsche Haus?«

»Dorsch!« sagte der Rat, »wir haben uns zu Dorsch verabredet. Pfui Deubel, ist das ein Wetter!«

Dazwischen hielt Pfarrer Salbe seine Trauerrede. Richard stellte fest, daß es genau das Umgekehrte war wie bei dem Taufakt in der Grünwalder Kirche. Dort ging es von dem Säugling zwei Generationen zurück und dann mit einem Ruck vorwärts in die Zukunft, und hier von dem Toten zwei Generationen vorwärts – denn Gustava hatte ihrem Vater zwei Enkel beschert – und dann mit einem Ruck zurück zu den unzähligen Kirchhofsgeschlechtern. Das sind so erprobte Wirkungen! Übrigens war ihm in seiner gedrückten Stimmung das Drum und Dran des Begräbnisses sympathisch. Diese verfluchte Geschichte mit Regine! dachte er. Und Paula rennt herum, als wäre ihr die Petersilie verhagelt. Dazwischen horchte er aufmerksam auf die Worte des Pfarrers. Donnerwetter ja, so ein Menschenleben, es ist wie Dreck. Recht hat er! Was ist von uns allen noch nach fünfzig Jahren übrig! Eigentlich ist alles egal. Das letzte sagte er schon wieder mit Bezug auf Regine, die ihm nicht aus dem Kopf wollte. Alles egal, so oder so! Dann wieder amüsierte er sich über Herrn Degenstein, der mit seinem ganzen repräsentativen Gemüt bei der Sache war. Er stieß Herrn Vogel an: »Sehen Sie da den Schwiegersohn! Der hat portweintreue Augen, was?«

»Hat er auch«, flüsterte der Rat zurück, »und rechtmäßig erworben!«

Herr Reichard, Gustavas Mann, der den Schwippschwager nicht leiden konnte, stand ernst und korrekt neben ihm. Er war in allem das Gegenteil, groß und breit, mit klugem gehaltenem Gesicht und dunklem Spitzbart. Wilhelmine beneidete die Schwester um ihren Mann und pflegte ihr unter die Nase zu reiben, daß er »subaltern« sei. »Dein Degenstein ist nicht subaltern«, sagte Gustava meistenteils einfach, und Wilhelmine war außer sich. In diesen Trauertagen aber bewährte sich Herrn Degensteins weiches Herz, und er gewann in der Familie an Boden.

»Hübsch sind die Töchter nicht«, dachte Richard, »aber der junge Amende ist ein netter Kerl. Und tüchtig soll er sein! Komisch, so ein stiller, junger Mensch hat nun vielleicht ein Einkommen von zwei-, dreitausend Talern, und unsereins hat nichts!«

Mitten in diesen Gedanken fiel sein Auge auf das Gesicht seines Vaters, und er bemerkte mit Verwunderung, wie der alte Herr Ambrus ergriffen dastand und die Worte des Pfarrers und das Bild der Leidtragenden wehmütig in sich aufnahm. Tod, dachte Richard, das ist so etwas Fremdes und doch Alltägliches. Wie kann man das so ernst nehmen? Man muß wohl eigene Angehörige zu Grabe getragen haben oder an den eigenen Tod denken. »Ich verstehe das nicht.« Auf einmal sah er die alte Frau Amende die Hände vor das Gesicht werfen und in fassungslosem Schluchzen ersticken. Was hat der Pfarrer gesagt? Natürlich, die rühren bei dieser Gelegenheit in den Seelen herum wie in einem Eierkuchenteig, statt zu beruhigen. Die Unwiederbringlichkeit des Dagewesenen hatte er so recht auseinandergesetzt. Unwiederbringlich! dachte Richard. Ja, das muß das Furchtbare sein. Wenn etwas dagewesen ist und nun auf einmal nicht mehr da ist und niemals wieder dasein wird. Vielleicht war der Tod doch etwas Furchtbares. Sogar vor Herrn Degenstein empfand er jetzt so etwas wie Ehrfurcht, da er doch auch verloren hatte. »Verloren!«

Er nahm sich vor, den jungen Amende bei nächster Gelegenheit anzusprechen und besonders nett zu ihm zu sein. Schon am Grab drückte er ihm kräftig die Hand. »Kopf hoch, lieber Amende! Das gibt sich alles!« Der nickte verlegen. Er hatte Richard schon längst unter dem Gefolge gesehen und freute sich, daß er gekommen war.

Auch einige Tage über das Begräbnis hinaus fiel es noch nicht auf, daß Regine nicht mehr angefahren kam. Dann aber begann Herr Ambrus, der sie gern sah, nach ihr zu fragen. »Du«, sagte Richard zu seiner Schwester, »das geht nicht. Regine muß mal wieder kommen. Was denken die Alten sonst, und in Schwenkendorf gibt es womöglich Quatschereien. Geh, schreib ihr mal!« Aber Paula zuckte die Achseln. »Soll sie kommen, damit du sie wieder küßt, ohne dich mit ihr zu verloben? Du bist ein rechtes Schaf.«

»Wieso bin ich ein Schaf?«

»Weil du dich nicht mit Regine verlobst. Eine Bessere findest du nicht«.

»Papperlapapp, wie soll ich mich verloben? Sollen wir etwa von meinem Referendargehalt leben? Wie denkst du dir das eigentlich?«

»Ihr braucht euch ja nicht gleich öffentlich zu verloben. In drei Jahren machst du deinen Assessor, wirst Rechtsanwalt, und ihr könnt heiraten. Man kann ruhig drei oder vier Jahre verlobt sein.«

Richard fand es höchst spaßhaft, daß er sich mit Regine verloben sollte, Paula war Feuer und Flamme dafür. Sie hielt sich nur noch zurück, um ihn nicht kopfscheu zu machen. Von einer solchen Verlobung, dachte sie, fiel vielleicht auch für sie etwas ab. Aber sie meinte, daß, ehe Regine in die Stadt käme, sie beide endlich wieder einmal vorher noch nach Schwenkendorf hinausmüßten. »Besonders du! Du bist überhaupt nicht mehr draußen gewesen.«

Richard leuchtete das ein. »Ich werde dir etwas sagen«, sagte er nach einer Weile des Nachdenkens, »ich werde mir das mit der Verlobung überlegen. Aber die Grundvoraussetzung dafür ist, daß Regine von jetzt ab vollkommen vernünftig ist, so als wäre nichts gewesen. Hörst du? Und dann werden wir meinetwegen in der nächsten Woche, wenn schönes Wetter ist, einmal hinausfahren, und wenn Regine verständig ist, dann werden wir weiter sehen.«

Am nächsten Tag schickte Paula mit dem Schulwagen einen Brief an Regine mit. Sie kam sich dabei außerordentlich wichtig vor, und vor allem freute sie sich, daß die Ambrus' es waren, die die Bedingungen diktierten. Sie begnügte sich in dem Schreiben an Regine mit einer kurzen Darstellung der Lage. Regine antwortete, daß sie Richards schlechte Handlungsweise vollkommen vergessen haben wolle, und die Geschwister mögen ruhig in der nächsten Woche herauskommen. Aber an eine Verlobung mit Richard denke sie ihrerseits nicht. Dieses »Nicht« war dreimal unterstrichen. Paula sagte zu Richard nichts von diesem Briefwechsel. Er wollte auch gar nicht wissen, wie seine Schwester die Angelegenheit regelte. Die Hauptsache war ihm, daß Regine wieder »vernünftig« war und er keine Unannehmlichkeiten hatte. Im übrigen stand der große Basar des Frauenvereins bevor, es sollte »Doktor Klaus« von L'Arronge aufgeführt werden, und die Proben waren in vollem Gange. Paula beneidete Richard »ganz schrecklich« um dieses Theaterspielen, sie hätte für ihr Leben gern mitgewirkt. Aber da waren die junge Frau Eichholz, die Frau Kreisbaumeister, zwei Rechtsanwaltsfrauen, Frau Dr. Palleske, die alle berücksichtigt werden wollten und die jungen Mädchen möglichst fern hielten. Wenn aber schon auf junge Mädchen zurückgegriffen werden mußte, dann kamen in erster Linie und allenfalls noch Käthe Seidel, die Tochter von A. W. Seidel, oder das ältere Fräulein Arnold, die Tochter des Sanitätsrats, in Betracht. Aber auch sie wurden auf Nebenrollen beschränkt. Paula wurde es anläßlich des »Doktor Klaus« wieder einmal vollkommen klar, daß das Leben erst nach der Hochzeit anfing. Sie hätte schrecklich gern geheiratet, aber wen? Erich Steinbock vielleicht? Aber dann mußte man aufs Land hinausziehen, und ihr gefiel es in der Stadt besser.

Am Dienstag nahm der Schulwagen die Geschwister nach Schwenkendorf mit. Paula verfolgte bei dieser Fahrt den besonderen Zweck, daß sie ausprobieren wollte, ob ihr das Landleben nicht doch behagte.

Sie kamen in die Obsternte hinein. Die ganze Familie, der Kutscher und die Gärtner mit ihren Frauen waren im Obstgarten. Unter den Bäumen waren große Planen mit Stroh ausgebreitet, in die das Obst hineingeschüttelt wurde. Bei den alten Bäumen mußte man hoch in die Krone klettern, um die Äste an der Spitze zu schütteln. Manche Sorten wurden nur mit der Hand abgepflückt. Man stand dann mitten in den Zweigen mit einem Korb am Arm und pflückte. Lustig war es, wenn einer von den jungen Männern mit beiden Händen an den Gabelästen rüttelte und die Früchte wie ein Platzregen herniederprasselten. Wer sich nicht schnell genug flüchtete, bekam harte Würfe auf Kopf und Schultern. Hier waren auch Scherz und Mutwille im Spiel. Es kam darauf an, die Untenstehenden zu überraschen, so daß der Segen sie unvermutet überschüttete. Wenn einer gar gerade nach oben blickte, um dem Kletterer noch schnell etwas zuzurufen, und dann ein Apfel auf seine Stirn oder seine Nase aufplatzte, war der Scherz besonders gelungen. Manchmal zerplatzte eine Frucht an einem Schädel oder einer Schulter, aber bei der Fülle der hängenden Zweige kam es nicht so genau darauf an.

Zwei große Wäschekörbe standen da. In sie sammelte man die Früchte von der Erde und aus dem Stroh auf. In sie wurden auch die Handkörbe entleert, die die Pflückenden am Arm trugen. Einer der beiden Waschkörbe war immer voll und unterwegs. Zwei Männer schleppten ihn ins Herrenhaus in die oberen Räume, wo Frau Steinbock stand und das Sortieren überwachte. Sie kannte alle Sorten, wußte bei jedem angeschleppten Korb, welcher Baum gerade geschüttelt oder abgepflückt worden war, ließ die gewöhnlichen Arten einfach auf dem Fußboden oder auf den Schränken ausbreiten und ordnete die wertvolleren in das große Obstgestell ein, das fast eine halbe Stube füllte und mit achtzehn Schüben übereinander jede einzelne Frucht in einer kleinen gesonderten Kaule aufnahm.

Das ging den ganzen Tag bis zur Dunkelheit. Zuerst konnte man mit vollen Händen bergen, und die Körbe füllten sich im Handumdrehen. Aber die eigentliche Arbeit begann erst, als die meisten Bäume abgeschüttelt waren und die schwer erreichbaren Früchte einzeln abgenommen oder mit einer langen Stange heruntergeschlagen werden mußten. Jetzt erst konnte sich wahre Geschicklichkeit offenbaren. Paula kletterte wie eine Katze. Mit dem Korb im Arm stieg sie die Leiter hinan und stemmte sich von dort mit Armen und Beinen von Ast zu Ast weiter. Erich kletterte sachgemäßer, sozusagen klassischer, und bei den stärkeren Bäumen kam er weit höher als sie. Paula aber war leichter und konnte sich noch auf Ästen wippen, auf die sich der stämmige Erich nicht mehr hinauftraute. Sie fand das Landleben doch über alle Maßen herrlich, und wenn sie auf einem schwankenden Ast saß und mit verkrüppelten Äpfeln oder mit abgestorbenen Zweigen nach Erich warf, jauchzte sie voller Lust und war im siebenten Himmel.

Richard kletterte merkwürdigerweise ungern, und auch beim Schütteln brachte er nicht die Kraft auf wie Erich, aber er war wieder geschickter im Zielen, und bei dem Wettwerfen, das sie mit verhutzelten Kruschken veranstalteten, traf er am besten. Er blieb nicht immer bei den anderen im Obstgarten, schlenderte sonst durch den Park, ging auch durch die Ställe und setzte sich einmal eine halbe Stunde auf das durchgesessene Sofa in Erichs Stube, für die er seine besondere Vorliebe hatte. Hier kam er sich selber wie ein Inspektor vor, untersuchte die Gewehre, betastete das Sattelzeug und las sogar in den landwirtschaftlichen Büchern. Auch ärgerte er sich über die dumme Obsternte, weil er nun nicht zum Reiten kam. Er hätte sich gern vor der Schwester auf hohem Roß gezeigt und seine neulich gelernten Kunststücke angebracht. Aber er fühlte sich wohl auf dem Gut, und mit Regine war er außerordentlich zufrieden. Sie hatte ihn mit vollkommener Unbefangenheit begrüßt und sich sogar lustig mit ihm herumgeneckt. Seit sie Paula geschrieben hatte, daß sie ihrerseits nicht, nicht, nicht an eine Verlobung mit ihm dächte, fühlte sie sich Richard gegenüber auch sicherer und merkte bald, daß sie jetzt die richtigere Art für ihn hatte. Mit einiger Anstrengung hielt sie ihre Stimmung krampfhaft aufrecht und konnte sogar etwas von Paulas Ausgelassenheit auf sich überspringen lassen. Sie versetzte sich richtig in die Rolle des lustigen Mädels, wobei die fröhliche Obsternte sie unterstützte, und in ganz kühnen Augenblicken wünschte sie sogar, daß Richard den Versuch machte, sie zu küssen, um ihn dann gründlich abfahren zu lassen.

Am Abend saßen sie wieder alle im Herrenzimmer zusammen. Herr Steinbock ging mit der Pfeife im Mund auf und ab und besprach mit Erich, welche Schläge morgen gedüngt werden sollten. Frau Steinbock, die sich zu den Städtern noch immer zurückhaltend verhielt und das Doppelkinn gegen die Brust preßte, las aus der »Gohlunger Kreiszeitung« vor. Später setzte sich Richard wieder an das alte Tafelklavier und gab sein Potpourri zum besten, aber es erregte nicht mehr den Enthusiasmus wie das erstemal, und so ging er bald in einen Walzer über. Paula und Erich schlugen den Teppich zurück und tanzten. Nach einer Weile löste Paula ihn beim Spiel ab, und als er Regine im Arm hielt, dachte Richard auf einmal, daß es schön sein müsse, dieses zarte dunkle Geschöpf sein eigen zu nennen. Zum erstenmal trafen sich ihre Augen und sahen sich ernst an, und Regine hatte Mühe, den Abend über ihre Rolle als lustiges, unbefangenes Mädel aufrechtzuerhalten.

*

Als sie nachher in ihr Zimmer ging, war es nicht wie vor einem halben Jahr, daß sie weinte. Aber sie fühlte, wie weit sie sich von allem entfernt hatte, was sie früher erfüllte. Jetzt wußte sie, daß sie ihrem Ziel nahe war, aber in ihre Seligkeit mischte sich eine leise dunkle Trauer.

»Nun?« fragte Paula, als sie wieder zu Hause waren, »war Regine artig?«

»Artig? Großartig war sie! Das hast du gut gedeichselt, Schwesterchen.«

»Na und? Wann wirst du dich mit ihr verloben?«

»Immer gleich verloben!« wich er aus. Aber Paula bestand darauf, daß er es versprochen hätte.

»Weißt du, sie gefällt mir sehr gut, und ein besseres Mädel finde ich nicht. Also, sagen wir: auf dem Basar!«

»Wenn Regine artig bleibt!« setzte er hinzu.

»Du, ich schreibe ihr!«

Er zuckte die Achseln. Was die Weiber unter sich bekunkelten, wollte er nicht wissen. Paula schickte am nächsten Tag wirklich einen Brief zu Regine hinaus, der nur die Nachricht enthielt, daß Richard sich auf dem Basar in der nächsten Woche mit ihr verloben werde. Regine schrieb zurück, daß sie ihre Meinung darüber ja bereits mitgeteilt habe.

Sie war in großer Aufregung, zählte die Tage, veränderte selbst ihr Kleid und vernachlässigte das Plombieren der Milchkannen in der Frühe, um frisch auszusehen. Sie wußte nun, wie sie Richard gefiel, und besah sich oft im Spiegel, um alles, was er an ihr lieben konnte, recht herauszustreichen. Malte sich aus, wie sie sich beim Tanz an ihn schmiegen und zu ihm hinaufsehen würde, genau wie es neulich in Schwenkendorf geschehen war, als seine dunkler werdenden Augen ihr die erste Gewißheit gaben. An dem Sonntag vor dem Fest kämpfte sie mit sich, ob sie nicht ihre Liebe zu den Andersgläubigen beichten sollte. Ihr Gefühl wollte sich in Worten ausströmen. Wenn sie flüsternd ihre Liebe bekannte, war es fast schon so, als wenn sie zu Richard selbst ihr Ja sagte. Aber sie tat es nicht und verließ den Beichtstuhl, ohne daß ein Wort über ihre Lippen gekommen wäre. Sie hatte Angst gehabt, argwöhnte, daß der alte würdige Pfarrer vielleicht doch ihren Eltern eine Andeutung machen könnte. Mit keinem kleinen Schrecken bemerkte sie, daß sie nun auch das unbedingte Vertrauen in den Seelsorger verloren hatte. Es war nicht mehr Gott selbst, vor dem sie im Beichtstuhl kniete, sondern ein lieber alter Herr, der vielleicht in bester Absicht Unsinn machte und sie an die Eltern verriet.

Die Strafe für diesen Frevel sollte nicht ausbleiben. Am Abend vor dem Basar hatte der kleine Coelestin erhöhte Temperatur, und am nächsten Tag brachen die Masern aus. Es war nach alter Gewohnheit selbstverständlich, daß Regine zu Hause blieb. Niemand dachte daran, daß es ihr schwerfallen könnte. Damit die andern, die alle am Nachmittag fortfuhren, nicht die Krankheit verbreiteten, mußte sie die Berührung mit ihnen meiden und sich ganz allein in dem Zimmer halten, in dem der Kleine mit fiebernden Augen lag. Einmal ging sie an den Schrank und besah ihr meergrünes Kleid, das sie hatte anziehen wollen. Aber sie seufzte nicht einmal, als sie die Tür wieder schloß. Sie wußte, daß, wenn sie ihrem Schmerz nur im geringsten nachgab, sie sich auf die Erde werfen und schreien würde. Was alles konnte heute geschehen? Konnte sich Richard nicht in eine andere verlieben? Konnte er ihr Fernbleiben nicht als endgültige Absage auffassen? An diesem Abend häuften sich ihr wieder die Schätze im Himmel, und siehe da, ein ganz leiser Zauber spann sie ein, wie in früherer Zeit. Mit leiser Stimme sang sie den Kleinen in Schlaf und setzte sich dann still mit einem Buch an den Tisch. Manchmal war es, als wäre Richard nie dagewesen.

Nach Mitternacht kam der Wagen mit den Eltern und Erich zurück. Frau Steinbock kam leise nach Coelestin sehen. »Du bist noch auf?« fragte sie erstaunt. Auch Erich, der gleich von draußen im Kinderzimmer Licht gesehen hatte, steckte den Kopf durch die Tür. »Da ist ja noch unsre holde Büßerin«, sagte er und erzählte. Es wäre im ganzen sehr hübsch gewesen. Die kleine Ambrus wäre ein tolles Mädel. So etwas hätte man in Gohlungen noch nicht erlebt. Theaterspielen könne ihr Bruder aber nicht, keine Ahnung davon! Wie im Leben hätte er dagestanden, den Schnurrbart hochgezwirbelt und mit seiner schneidigen Stimme herumgeschnauzt, obwohl er einen ganz schüchternen Jüngling gab. Trotzdem waren natürlich alle begeistert. Ob Richard viel getanzt hätte? Gott ja, er hätte mit der kleinen Frau Eichholz herumscharmutziert. Aber Paula, wie gesagt, tanzte entzückend. Sie müsse bald wieder herauskommen, er würde ihr Reitstunden geben.

»Nun geht schlafen, Kinder!« sagte Frau Steinbock. Sie war ärgerlich, daß Erich soviel mit Paula getanzt hatte. »Marsch, ins Bett!«

*

Am nächsten Mittag fuhr Richard in Günthers Wagen bei der Veranda vor. Er hatte den Frack an und zog einen riesigen Blumenstrauß heraus. So stand er auf einmal vor Regine, die gerade zu den Kälbern über den Hof gehen wollte. Der Kutscher – es war diesmal nicht Böhnke – wußte nicht, ob er stehenbleiben oder ausspannen sollte. Richard wußte es auch nicht. Er war sehr verlegen.

»Kommen Sie herein«, sagte Regine. Im Hausflur machte er ihr eine Art Verbeugung, als wenn er seinen Gegner vor der Mensur grüßte, und fragte sie mit verlegener Stimme, indem er den Strauß verlockend vor ihr in die Höhe hielt, ob sie seine Frau werden wolle.

»Ja«, sagte sie, öffnete die Tür zum Herrenzimmer und rief Herrn Steinbock zu: »Papa, hier kommt Herr Ambrus um mich anhalten.« Dann ging sie in ihr Zimmer nach oben, um sich die Haare überzukämmen.


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