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12.

Es hatte einen Augenblick gedauert, daß Regine eine schrankenlose Seligkeit in sich fühlte: Als sie heruntergerufen wurde und in Gegenwart der Eltern und Erichs von Richard den Verlobungskuß entgegennahm. Ihre Augen näherten sich einander, und hierbei mußten sie an die Küsse in Grünwalde denken. Die Zeugen sahen nicht ohne Ergriffenheit diese erste Berührung, wie sie meinten; sie aber empfanden die Erinnerung an die beiden geraubten Küsse, die hinter diesem Kuß bereits stand, als etwas Gemeinsames, das wie ein Zaubermantel zwar nicht ihre Personen einhüllte, aber etwas, das sie zwischen sich und in sich deutlich bestehen fühlten. Wie auf der einsamen Insel eines Stromes standen sie da, von den Ufern gesehen, aber unerreichbar und jeder Berührung entrückt.

Das war der Augenblick, in dem ihre Leiber für eine ganz kurze Zeit Sprache gewannen. Als sie sich aber voneinander lösten und in den Kreis der Umstehenden zurücktraten, wußten sie beide wieder von Regines flehender Liebe und seiner Gleichgültigkeit; wußten, daß Frau Steinbock soeben noch verzweifelt an ihrem Kleid gehakt und geknöpfelt hatte, um hinunter zu stürzen und diese Verlobung zu verhindern, und sahen, daß selbst Erich ein betretenes Gesicht machte. Er hatte Angst für seine Schwester und hätte ihr einen andern Mann gewünscht. Nur Herr Steinbock hatte in Ruhe das entscheidende Wort gesprochen, nachdem Richard seine Zustimmung zu einer katholischen Trauung grundsätzlich und ohne Bedenken gegeben hatte. Vor den Augen des alten Herrn stieg der glückliche Sommer mit dem Fischermädchen vom Trauziger See auf, und er gab seine Einwilligung wie eine alte Schuld, die er noch einzulösen hatte.

Es war ein gequälter Tag, den sie miteinander verbrachten. Nur die Kleinen, Anna und Erwin, freuten sich unbefangen ihres neuen Schwagers und hängten sich, glücklich über eine Verlobung, an seine Arme. Auch Erich ließ es an freundlicher Begrüßung nicht fehlen, und nur, wer ihn genau kannte, merkte, daß er im Innern Vorbehalte machte. Bei Tisch, als Wein getrunken wurde, bot er Richard das brüderliche Du an, und es wirkte ein wenig peinlich, daß die Eltern seinem Beispiel nicht folgten. Frau Steinbock hatte es mit einem Blick zu verhindern gewußt, und Herrn Steinbocks Entgegenkommen schien sich in seiner Einwilligung erschöpft zu haben. Nach außen freilich hielt man das heitere Bild eines Verlobungsschmauses aufrecht, aber die beiden Verlobten saßen inmitten einer frostigen Atmosphäre nebeneinander, vereinsamt in ihrem noch ratlosen Willen, einander anzugehören. Richard war mehrere Male drauf und dran, vom Tisch aufzustehen, den Wagen anspannen zu lassen und wegzufahren. Nur Erichs kühle Gewandtheit, der ihn ins Gespräch verwickelte und der peinlichen Situation immer wieder den Anstrich fröhlicher Festlichkeit zu geben wußte, hinderte ihn daran.

Richard spürte die Abneigung gegen die Familienverbindung mit der anderen Konfession wie einen Stein, der ihm auf die Brust gewälzt war. Wie auf Verabredung kam man nicht dazu, von der Zukunft zu sprechen. Wenn Richard von seinen letzten Referendarstationen und seinem Examen sprechen wollte, winkte Frau Steinbock ab: »Das hat noch lange Wege, mein lieber Herr Ambrus.« Es war, als wollte man dem Paar keine Zukunft verstatten. Nur Erich erörterte die Frage des Dienstjahrs, das Richard im Frühjahr antreten wollte. Erich empfahl ihm sein Regiment, es wären bis auf zwei Kompanien nette Offiziere und anständige Unteroffiziere. »Und im übrigen wirst du ja ein Soldat comme il faut. Ja, Schwesterchen, ich glaube, er ist doch noch mehr Soldat als Musiker«, scherzte er.

Man ließ das Brautpaar nicht einen Augenblick allein. Als sie nach dem Kaffeetrinken in den Park gingen, mußten wenigstens die Kinder mit, denen der neue Schwager viel zu interessant war, als daß sie den beiden einen Augenblick Ruhe gelassen hätten. Immer wieder tauchte Frau Steinbock zwischen den Gängen auf. Sie wollte offenkundig zeigen, daß sie Richard nicht traute. Regine aber hängte sich in seinen Arm, und obwohl dieser Tag von Grund aus verdorben war, bat sie ihn immer noch zu bleiben. »Und morgen früh komme ich gleich zu euch, und wir können uns dann besser sprechen als hier.« Richard bangte sich aber gar nicht danach, sich auszusprechen. Er hatte diese Verlobung gründlich satt und überlegte sich im Innern, ob er Regine nicht noch heute abend einen absagenden Brief schreiben solle. Aber selbst wenn er ihn noch in Gohlungen auf die Post trug, bekam sie ihn nicht vor ihrer Abfahrt. Er war wütend auf die jesuitische Gesellschaft, die ihm die Verlobung nicht zu verweigern wagte und solche Zicken machte. Aber dann rührte ihn wieder das ergebene Geschöpf an seinem Arm. Er merkte, wie sie litt und wie sie alles tun wollte, ihn zu erfreuen und zu versöhnen.

Mädchen haben bei Verlobungen ihre eigenen Gebräuche, die der Mann erst langsam begreifen muß. So wartete Regine mit Schmerzen darauf, daß er sie um ihr Bild bitten würde. Als er nicht daran dachte, übergab sie es ihm schließlich in einem Augenblick des Alleinseins von selbst. Er merkte gar nicht, daß das ein wichtiger Vorgang war und sie sich eigentlich erst mit diesem Bild ihm ergab und er lebhaftere Freude hätte zeigen müssen. Zum erstenmal traten ihr die Tränen in die Augen. »Liebst du mich denn gar nicht?« fragte sie. »Doch!« sagte er und vertröstete sie auf morgen. Sie schob seine Stummheit auf das häßliche Verhalten ihrer Familie, tröstete sich und verzieh ihm.

Als er nach Hause fuhr, stieg er erst im Deutschen Haus ab, trat an den Stammtisch und machte seine Verlobung bekannt. Ein lautes Hallo scholl ihm entgegen. Er mußte eine Lage schmeißen, man nahm ihn in die Mitte, gratulierte, Rat Vogel erhob sich sogar zu einer kleinen Ansprache. Mit einem Schlage war Richard in die Rolle des glücklichen Bräutigams hineingefahren. Er merkte im Augenblick, daß es keine kleine Sache war, sich mit der Tochter von Schwenkendorf verlobt zu haben. Stolz auf die Eroberung zeigte er ihr Bild herum, war in die schwarzen Haare und ihre Augen verliebt und pries sie über Gebühr. »Jawohl«, sagte der Assessor, »und der alte Herr kann auch ruhig zur Hochzeit eine kleine Schweineherde verkaufen, ohne daß es ihm was ausmacht.« Man fand, er hatte eine »Partie« gemacht. »Nur katholisch«, sagte der Rat. »Na ja, darüber muß man hinwegkommen.« Richard meinte, daß ihn das nicht störe, es wäre mal etwas anderes. »Eine Mohammedanerin wäre mir noch lieber gewesen.« Man lachte. Seither hieß Regine bei den Herren die Mohammedanerin.

Jedenfalls war er froh, zuerst ins Deutsche Haus gefahren zu sein, ehe er zu Hause von der Misere berichtete. Jetzt hatte alles ein anderes Gesicht bekommen, und strahlend betrat er das Wohnzimmer, wo man ihn mit Spannung erwartete.

Es war eine seltsame Sache mit dieser Verlobung. Regine besann sich auf ihre Äußerung, die sie auf der ersten Fahrt nach Schwenkendorf zu Richard getan hatte. Jetzt war ihre Verlobung wirklich ein neuartiges und besonderes Ereignis geworden, keiner anderen, von der sie gehört hatte, zu vergleichen. Aber das konnte sie nicht einmal mit Richard besprechen. Die Zeit, die ihrer Verlobung vorausgegangen war, war in ihren Unterhaltungen wie ausgelöscht. Sie dachte oft an seine Küsse in Grünwalde und wollte ihn fragen: »Hast du mich denn damals schon geliebt?« Aber sie wagte es nicht. Sie wagte es überhaupt nicht, ihn nach seiner Liebe zu fragen. Seit sie an dem Tag nach der Entscheidung in die Stadt gekommen war, war er zärtlich zu ihr geworden, konnte sie an sich reißen, in seinem herrlichen Temperament in die Höhe heben und ihr einen schallenden Kuß auf den Mund drücken, daß sie jäh aufbrannte, und trotzdem, wenn sie sich auch einredete, von ihm geliebt zu sein, wußte etwas in ihr genau, daß sie ihm gleichgültig war. Manchmal fragte sie sich, weshalb er sie genommen hatte, und sie fand keine rechte Antwort. »Er muß mich doch lieben«, dachte sie dann und schloß alle Zweifel damit ab.

Wenn man geglaubt hatte, daß die Freundschaft zwischen Steinbocks und den Ambrus nun erst recht aufblühen würde, hatte man sich getäuscht. Richard war oft in Schwenkendorf, hatte ein Fremdenzimmer zu ständiger Benutzung angewiesen bekommen, erhielt Erichs zweite Reitgarnitur übereignet und durfte die braune Fohlenstute nach Gefallen bewegen. Sein Vater schenkte ihm einen Drilling, den er in Erichs Stube abstellte. Jeden Sonnabendmittag fuhr er mit dem Schulwagen hinaus und kam am Montag früh zurück. Er nahm auch Bücher mit, um draußen zu arbeiten, wenn Steinbocks am Sonntagvormittag zur Kirche fuhren. Niemand sagte etwas, wenn er stundenlang auf dem alten Tafelklavier spielte, auch wenn es von den alten Steinbocks keineswegs mehr gern gehört wurde. Nur Regine saß schweigend dabei und bewunderte ihn. Er brachte ihr die Anfangsgründe der Musik bei, zeigte ihr, wie man Noten aufschrieb, aber weniger, um ihr Verständnis zu wecken, als um durch die Schwierigkeit der Sache ihre Bewunderung zu vergrößern. Regine ihrerseits kam in der Woche wenigstens einmal in die Stadt und blieb manchmal mehrere Tage da. Aber der sonstige Verkehr zwischen den Familien hatte aufgehört. Nicht einmal zu einer Familienfeier luden Steinbocks ein. Paula war außer sich vor Wut. Der Postvorsteher freute sich, daß er die Stadtjagd gepachtet hatte und mit seinem Hund in der entgegengesetzten Richtung in den Wald gehen konnte. Selbst die immer freundliche und nichts Böses ahnende Mutter Ambrus schüttelte den Kopf über die »Katholischen«. Aber Regine schloß sich ganz an sie an und wurde ihnen wie eine Tochter. Auch die siebzigjährige O-chen fragte nicht mehr: »Wer sind Sie doch, liebes Fräulein?« Regine wunderte sich, weshalb Richard noch so oft herauskam, wo man ihn mit offensichtlicher Ablehnung behandelte und auch Regine mit Mißtrauen betrachtete, wie ein verlaufenes Reh, das bei den Menschen gewesen war und nun wieder zurückkam. Das Liebesparadies, das sich ihnen in seinem Elternhaus auftat, bewertete Richard nach ihrer Meinung viel zu gering. Aber sie war ihm andererseits dankbar dafür, daß er die Verbindung mit ihren Eltern nicht ganz abreißen ließ, wenn sie auch bemerken mußte, daß es mehr Reitpferd und Jagd und Erichs Inspektorstube waren, was ihn nach Schwenkendorf zog, als die Rücksicht auf sie und er die Zurückhaltung der Ihren kaum zu bemerken schien.

Seine erste Referendarstation an dem Gohlunger Amtsgericht ging in einigen Wochen zu Ende. Ein Jahr am Landgericht in Braunsberg mußte folgen. Im Frühjahr gedachte Richard die Landgerichtsstation zu unterbrechen und in Königsberg, in Erichs Regiment, sein Jahr abzudienen. Er verließ Gohlungen also für zwei Jahre, und wenn er auch von Braunsberg in jeder Woche herüberkommen konnte, ja es geradezu so einzurichten ging, daß er eigentlich in Gohlungen wohnte und mehr für einige Tage der Woche nach Braunsberg hinüberfuhr, so bedeutete dieser Wechsel doch immerhin eine Trennung für die Verlobten. Im Hinblick auf diese zwei Jahre, der nachher noch weitere Trennungen folgen mußten, zum Beispiel die Zeit am Oberlandesgericht in Königsberg, kam ihm die ganze Verlobung ziemlich überflüssig vor. Nicht daß er etwa neu auftauchenden Frauen gegenüber frei sein wollte, denn im Grunde liebte er mehr die Abenteuer lustiger Kneiprunden als der Liebe, aber er fand es zwecklos, in der Entfernung verlobt zu sein. Die Schwenkendorfer hegten wohl überhaupt die Hoffnung, daß die lange Abwesenheit des Bräutigams die ganze Verlobung auseinanderbringen würde, wobei die Schuld natürlich auf Richard allein fallen müßte. Jedenfalls wollten sie eine Veröffentlichung vorläufig noch hinausschieben. Aber Regine sträubte sich mit Händen und Füßen dagegen, und so gingen denn die Verlobten, von Paula begleitet, eines Vormittags zu Amende, um das Inserat für die Zeitung und die nach vielem Hin und Her in Schwenkendorf aufgesetzte Anzeige aufzugeben.

Der junge Amende, der jetzt nicht mehr der junge war, kam, ein wenig bleich noch, aus seinem Privatkontor heraus und drängte Fräulein Haase an ihre Bücher zurück. Er empfahl ein ganz neues, besonders apartes Druckmuster und schneeweiße Kartons, und als Regine nach dem Preis fragte, konnte er nur mit äußerster Anstrengung den Wunsch unterdrücken, kein Geld zu nehmen. Am liebsten wäre er gleich selber an den Setzkasten gegangen. Aber schließlich konnten sich die Schwenkendorfer nichts von ihm schenken lassen. So machte er einen ganz niedrigen Preis. Paula triumphierte draußen. Sie hätte ihn holdselig, wie sie sagte, angelächelt, und deshalb wäre es so billig geworden.

Willy war sehr aufgeregt, seine Ohren hinter der großen Brille waren ganz rot. Plötzlich fiel ihm ein, daß er völlig vergessen hatte, zu gratulieren. Er entschuldigte sich mit seiner Zerstreutheit und holte es nach. Auf einmal war ein Gespräch über das Elbinger Gymnasium im Gange. Regine schürte es eifrig, denn sie war begierig, aus Richards Schülerzeit zu hören. Willy schilderte das Ansehen, das der Primaner Ambrus bei den unteren Klassen genoß. Wenn er den Bräutigam erhob, war es fast eine Wollust, als wenn er Regine selbst seine Verehrung ausdrückte. »Das hätten Sie am Sedantage sehen sollen, Fräulein Steinbock, wenn er die Riesenwelle mit steifem Arm machte. Darin war ihm keiner über.«

Auch Paula war entzückt von der Begeisterung des Herrn Amende für ihren Bruder. »Wissen Sie was, Herr Amende?« rief sie auf einmal, »ich muß mit diesem Brautpaar so oft als Elefant mitzotteln, und das ist schrecklich langweilig. Sage ich nichts, ist's zum Auswachsen; rede ich aber, ist Regine nachher böse auf mich. Kommen Sie mit, und dann müssen Sie mich unterhalten, und wir passen auf die beiden auf.«

»Paula!« rief Regine entsetzt. Aber Paula ließ nicht locker, und es mußte gleich für den nächsten Nachmittag ein Spaziergang längs des Sees bis zum Stadtwald verabredet werden.

Gegen einen solchen Spaziergang konnte selbst die tiefste Trauer nichts einwenden, und so gingen sie denn am nächsten Tag, und von da an öfters, zu vieren los, voran das Brautpaar, hinter ihnen Paula und Willy. Es war zugleich Paulas Rache an Erich Steinbock, den sie nicht wiedergesehen hatte, seit sie sich gerade innerlich für das Landleben entschließen wollte. Und eine sehr treffliche Rache, denn jedermann wußte, was für ein netter und tüchtiger Mensch der junge Herr Amende war. Die tiefste Trauer konnte auch nichts dagegen einwenden, daß Willy dann nach einem solchen Spaziergang sein Abendessen im Ambrusschen Hause einnahm, allerdings nur, wenn sonst kein Gast anwesend war. Paula ging in ihrer Rache so weit, daß sie sich sogar für die Amendesche Druckerei anfing zu interessieren. Willy erzählte ihr auf den Spaziergängen viel von seinen Plänen und seinem Leben, und Paula hörte eifrig zu. Das alles gefiel ihr weit mehr, als wenn sie sich mit den Freunden ihres Bruders unterhielt.

Einmal lud Willy sie alle ein, die Druckerei zu besichtigen. Er führte sie durch die Geschäftsräume, das Kontor, zeigte ihnen den Setzersaal und den Maschinensaal und die Papiervorräte in dem ausgebauten Stall hinter dem Hof. Sie hatten keine Ahnung davon, wie eine Zeitung entstand. Er trat mit ihnen an einen Setzkasten, wies ihnen den Winkelhaken und die einzelnen Buchstaben und setzte ihre Namen zusammen. Er zeigte ihnen die langen Kolumnen auf der Anrichte und wie sie schließlich umbrochen wurden. Sie standen auch dabei, wie die aus Berlin übersandten Matern ausgegossen wurden und auf die Maschine kamen. Und dann dieses Wunderwerk der sechsseitigen Schnellpresse selber! Der Maschinenmeister mußte das große Schwungrad in Bewegung setzen, und nun rollte der Wagen mit den Schriften donnernd hin und her, und darüber legten sich die weißen Bogen und wurden auf der einen Seite bedruckt zurückgeworfen. Die andere Seite kam erst morgen an die Reihe, denn dreitausend Exemplare waren an einem Tage nicht ganz zu schaffen, besonders da noch Aufträge an Formularen vorlagen, die man auch am besten auf der Frankenthaler herstellte. Zum Schluß führte er sie in sein Privatkontor, von dem aus er das Ganze leitete und wo alle Fäden zusammenkamen. Tannenbergs Sekretär schaute verwundert auf die fremdartigen Gäste. Willy war so glücklich, daß dicht hintereinander der Faktor und Fräulein Haase hineinkamen und er ihnen in ernstem, sachlichem Ton seine Anweisungen geben konnte. Man sah doch, daß er sich in diesem Raum nicht zu seinem Vergnügen aufhielt.

Es machte sich ganz von selbst, daß man nachher über den Beischlag in die Wohnung hinaufging, wo Frau Ernestine schon mit dem guten Meißner Porzellan den Tisch gedeckt hatte. Noch hing die Trauer in allen Ecken, aber es wurde trotzdem ganz gemütlich. Paula vergaß sich so weit, daß sie gern die künstliche Spieldose, die auf dem Mahagonispiegel stand, gehen lassen wollte. Dieser Wunsch allerdings wurde stillschweigend übergangen, und Regine zupfte sie am Ärmel. Mutter Amende hatte eine stille Freude an diesem Besuch. Sie dachte daran, wie einst die Bürgertöchter auf dem Markt vor dem Junggesellenfenster ihres Seligen herumspaziert waren. Jetzt kamen die jungen Mädchen zu ihrem Willy sogar schon bis ins Haus. Die Zeiten ändern sich, aber im Grunde bleibt es immer dasselbe.

Rache ist süß! dachte Paula. Sie bewunderte die schöne Wohnung und die alten Möbel, die noch aus dem Elternhaus von Mutter Amende stammten, und wollte das ganze Haus sehen. Sogar ganz nach oben mußte sie, wo die Lehrlinge, diese besten und billigsten Arbeitskräfte, schliefen und beköstigt wurden. Es amüsierte sie, daß Frau Amende eine »Meisterin« war und wie in Märchen und alten Geschichten Lehrlinge hatte. Sie fragte, ob sie die Burschen auch ordentlich am Ohr zöge, wie es dort vorkäme. Ein Geschäftshaus erschien ihr doch das Wahre. Dies Ineinanderfließen von Beruf und Leben gefiel ihr. Das ganze Haus nahm an Glück und Wohlstand, an Arbeit und Erwerb teil. Sie fand das ganz herrlich, viel schöner als zu Hause, wo man von der Arbeit des Vaters überhaupt nichts merkte und wußte. Das wäre langweilig! Als sie nach Hause gingen, war sie sehr nachdenklich. Mutter und Sohn sahen ihnen durchs Fenster nach, wie sie über den Markt davonschritten, und Frau Ernestine mußte über die Dummheit der Männer lächeln, die da glauben, sie suchten sich ihre Frauen aus.

Seit dem Begräbnis waren nun schon über zwei Monate vergangen, und man hatte sich im Hause Amende langsam an das Neue gewöhnt. Auch der damals von Willy mit mannhaft unterdrückter Spannung erwartete Termin der Testamentseröffnung lag schon weit zurück, und die letzten Bestimmungen des Vaters bewirkten nicht mehr, wie in der ersten Zeit, schlaflose Nächte. Es war nicht bei den sechzehn tausend Talern auf der Kreissparkasse geblieben, auch in der großen Truhe im Eßzimmer, unter Mutters Bettlaken und Tischtüchern, hatten sich noch achttausend Taler gefunden. Der Selige hatte bestimmt, daß jede von den Töchtern siebentausend Taler erben sollte. Die Mutter behielt zehntausend und das Haus. Willy aber hatte das Geschäft mit allen Maschinen und Vorräten und ausstehenden Forderungen geerbt. Er war unumschränkter Gebieter über Druckerei, Laden und Zeitung geworden. Allerdings mußte er der Mutter eine Miete von sechshundert Talern im Jahr zahlen. Nach dem Tode der Mutter – auch daran hatte der rührende Vater gedacht – sollte das Haus ihm zufallen, jede der Töchter aber sollte dann noch einmal siebentausend Taler bekommen. Willy hatte also kein leichtes Wirtschaften, sechshundert Taler im Jahr wollten aufgebracht werden, und dazu die noch fehlenden viertausend, bis die Mutter einmal die Augen zumachte. Wenn Fräulein Haase abends das Zahlbrett mit der Tageskasse zu ihm ins Privatkontor gebracht und mit ihm abgerechnet hatte, dann erst begann der junge Chef mit seinen eigenen Berechnungen, multiplizierte und addierte, dachte über die steigende oder fallende Konjunktur nach und legte sich nicht mehr so sorgenfrei ins Bett wie früher. Aber man konnte mit Gottes Hilfe wohl gerade so durchkommen.

Der alte Herr Amende hatte gewußt, daß er seinem Sohn kein ganz leichtes Erbe hinterließ. In dem Kuvert hatte sich noch ein Brief gefunden, der die eigenartige Aufschrift »An Willy, den Macher« trug. Der alte Herr mußte diesen Brief in einer besonderen Stimmung geschrieben haben, in einer Stunde, in der auch ein einfacher Geist die hohen Bezirke der Weisheit streift. Dieser Brief war nicht einmal durchaus ernsthaft abgefaßt, wie schon die Aufschrift verriet. In gewissem Sinne wurde Willy hier sogar wegen seines Eifers, der immer auf Erweiterung und Verbesserung des Geschäftes aus war, gehänselt. Ein Mann, der das Seinige ohne große Aufregung getan hatte und dem sich die Talerstücke in der Truhe in fast dreißig Jahren langsam und stetig vermehrten, schaute hier auf eine neue Generation herab, die nicht ruhig empfangen, sondern erzwingen wollte. Er hatte Anerkennung für diesen Willen, aber er machte sich zugleich über ihn lustig. Er tadelte ihn nicht, aber es war, als ob er in ihm Gefahren witterte. Gewiß, man konnte damit vorwärts kommen, viel schneller als das ganze bisherige Jahrhundert; aber wenn die überspannte Kraft einmal nachließ, wenn man Fehler machte, dann mußte das ganze Gebäude, das auf unausgesetzte Leistung gestellt war, um so schneller zusammenstürzen. Er wünschte dem Sohne Glück zu seinem Weg, ja er setzte ihn erst auf diesen Weg, indem er ihm das Geschäft überließ. Aber er erleichterte ihm den Weg nicht, sondern lud ihm die Last von sechshundert Talern im Jahr auf, ohne ihm auch nur den geringsten Rückhalt an Kapital zu belassen. Auf das alles machte er den Sohn in seinem letzten Brief aufmerksam. »Nun mache, du Macher!« schloß er. Es lag Aufmunterung und Spott darin, Anerkennung und ein klein wenig Bosheit.

*

Da sofort größere Papiervorräte zu beschaffen waren, wäre Willy mit seinem Geschäft fast sogleich in Verlegenheit gekommen, wenn ihn nicht der Quartalserste gerettet hätte, an dem die Abonnementsgelder der Zeitung einkamen. Das brachte ihn über den Berg. Die Weihnachtszeit mit den vielen Inseraten und dem gesteigerten Umsatz des Ladengeschäfts mußte ein übriges tun. Nach dem Jahresanfang mußte er festen Boden unter den Füßen haben, oder es begann ein Jahr des Krebsens und vielleicht unwillkommener Anleihen bei der Mutter. Aber man konnte wirklich nicht sagen, daß sich die Sache schlecht anließ.

Eigene Bedürfnisse hatte Willy bisher kaum eingerechnet. Er wollte, solange es ging, mit seinem bisherigen Taschengeld auskommen, das kaum einen Setzerlohn ausmachte. Die Ausgaben für die Wirtschaft, der nach wie vor die Mutter vorstand, blieben dieselben. Es erübrigte sich gerade das wenige, was der Vater für seine eigene Person gebraucht hatte. Hinzu kamen aber die sechshundert Taler jährlich, die an die Mutter abgeführt werden mußten, und es fehlte alles Bargeld. An dem Tag, an dem der Besuch dagewesen war, fiel ihm ein, die ganze Sache einmal zu berechnen, wie es sein würde, wenn er sich verheiratete. Es hätte doch sein können, daß Regine protestantisch und nicht so vornehm gewesen wäre und er sich mit ihr verlobt hätte. Oder daß man sich wirklich einmal verliebte. Was dann? Aber ihm fiel zur Beruhigung ein, daß dann alles beim alten bleiben würde. Seine Frau würde an Mutters Stelle treten, und die Mutter würde sich eine Wohnung mieten und von ihren sechshundert Talern Miete und den Zinsen ihrer zehntausend Taler leben. Allerdings würde eine junge Frau größere Anforderungen stellen als seine rührende, bescheidene Mutter. Er rechnete einen Satz für die Bedürfnisse einer jungen Frau ein und saß eine Stunde über dieser Rechnung. Aber auch das konnte das Geschäft ertragen, wenn kein unvorhergesehener Zwischenfall eintrat. Recht froh über das Ergebnis ging er schlafen und sang oben vor sich hin.

Der Tag, an dem Richard Ambrus seinen Dienst beim Landgericht in Braunsberg antreten mußte, rückte beängstigend näher. Wenn er erst fort war, hörten die angenehmen Spaziergänge zu vieren auf, denn es stand zu fürchten, daß Richard seine Sonntage, wenn er wirklich öfters herüberkommen konnte, in Schwenkendorf zubrachte. Willy überlegte sich, daß man von Regine wieder vollkommen getrennt war, und wenn man auch sie verehrte und Paula nur eben so mitging, so war es, von Ambrus ganz zu schweigen, doch auch schade, daß Paula wahrscheinlich ebenfalls in die Ferne gerückt sein würde. Ganz gewiß lagen schon andere Referendare oder gar der Assessor auf der Lauer, um sie mit Beschlag zu belegen. Sie hatte zu Willy freilich gesagt, daß sie sich aus denen nichts machte, aber außer Regine konnte man wohl keinem jungen Mädchen in diesem Punkte vertrauen. Willy sah in dieser Beziehung trübe in die Zukunft.

Natürlich hatte Richard bald die glühende Verehrung, die Willy seiner Braut entgegenbrachte, herausbekommen, und auch von Paula wurde diese Tatsache anerkannt. Als aber Richard wieder einmal Regine mit ihrem treuen Vasallen neckte, nahm Paula auf einmal Willys Partei: »Gar kein Gedanke mehr, daß er in Regine verliebt ist. Das war einmal, ja Kuchen!« Und als die beiden darüber lachten, sagte sie: »Wir wollen sehen, wem er heute zuerst die Hand gibt.« Aber Willy begrüßte Regine zuerst. Die Verlobten lachten, und Willy wurde auf diesem, dem letzten Spaziergang, schlecht behandelt. »Was haben Sie nur, Fräulein Ambrus?« fragte er bekümmert, aber sie gab keine Antwort und sagte nur: »Ach!« Hinterher aber blieb sie bei ihrer Meinung und behauptete, daß Willy nur schüchtern wäre und gerade die zuerst begrüßte, die ihm gleichgültig sei. »Schwesterchen, Schwesterchen!« drohte Richard ihr. »Na meinetwegen!«

»Ach, was du denkst, ist Unsinn!« entgegnete Paula, aber sie wurde doch rot. Natürlich nur, weil schon ein solcher Verdacht einen rot werden ließ.

Drei Tage später fuhr Ambrus mit einem großen Koffer nach Braunsberg ab. Am Abend vorher war er gebührend vom Stammtisch abgefeiert worden. Alle Ambrus' und Regine brachten ihn zur Bahn. Der Hotelwagen vom Deutschen Haus beförderte den Koffer. Als sie über den Markt zum Bahnhof gingen, wagte Willy, um sich nicht aufzudrängen, nicht einmal in der Ladentür zu stehen, sondern beobachtete den Zug von seinem Privatkontor aus hinter den Gardinen. Viermal waren sie zusammen spazierengegangen, zweimal hatte er den Abend bei Postvorstehers verbracht, einmal waren die Geschwister und Regine bei ihm gewesen. Aber es war ein ganzer Lebensabschnitt, der sich da gewissermaßen zum Bahnhof begab und in den Zug setzte.

Ach, wie traurig hatte Regine ausgesehen!


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