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5.

Richard Ambrus hatte noch einen besonderen Grund, für einige Tage nach Gohlungen zu fahren. Vor wenigen Wochen hatte er die Bekanntschaft von Eleonore von Stetten gemacht. Fräulein von Stetten war mit einem Regierungsassessor von Sack verlobt, der für die Landratsstelle in Gohlungen in Aussicht genommen war. Graf Kanitz, ohnehin durch politische Fragen allgemeiner Natur in Anspruch genommen, beabsichtigte, sich auf seine Güter zurückzuziehen. Richard war nun von Eleonore gebeten worden, sich Gohlungen anzusehen und ihr über den Ort zu berichten. Sollte es ein stumpfsinniges, gräßliches Nest sein, so war sie entschlossen, ihren Bräutigam zu bestimmen, sich lieber nach einer Regierungsratsstelle in einer größeren Stadt umzusehen. Sie legte Wert erstens auf eine angenehme, hübsche Wohnung, zweitens auf eine bewegte gesellschaftliche Atmosphäre, drittens und vor allem auf den »Geruch« einer Stadt.

»Sie wissen schon, Herr Ambrus«, sagte sie, »jede Stadt hat ihren bestimmten Geruch. Man merkt es sofort, wenn man hindurchgeht. Nicht etwa, daß eine Stadt nach Lohgerbern oder nach Linden riecht, meine ich, sondern ob sie erfrischt oder niederdrückt. Ob man dort morgens um acht mit leichtem Kopf aufsteht oder noch um zehn mit schweren Gliedern im Bett liegt, ob man dort gern spazierengeht oder lieber im Zimmer sitzt. Das alles hängt vom Geruch ab. Aber sagen Sie meinem Bräutigam nichts davon, der hält mich für verrückt.«

Richard versprach, seine Nüstern zu blähen wie ein junger Hengst und ihr zu berichten. Er legte um so mehr Gewicht darauf, Fräulein von Stetten sich günstig zu stimmen, als ihr Vater als hoher Justizbeamter ein besonders hervorragendes Mitglied seiner Prüfungskommission war. Jedenfalls bemäntelte er vor seinen Bekannten seine Kurmacherei mit diesem Vorwand. Man neckte die beiden damit, ihn, daß er ein Streber sei, und sie, daß sie Referendarkronen zu vergeben habe.

Richard hatte Eleonore auf eine eigentümliche Weise kennengelernt. An einem der ersten schönen Märznachmittage saß sie in der Pferdebahn, die nach dem sogenannten Korinthenbaum, einer Gaststätte auf den Hufen, hinausfuhr. Nach ihrem Aussehen konnte er schließen, daß sie der vornehmen Gesellschaft angehöre. Um so mehr fiel es ihm auf, daß sie so allein und ohne Begleitung in der Pferdebahn saß. Da sie Handschuhe trug, war es ihm nicht möglich festzustellen, ob sie verlobt war, eine Frage, die ihn dringend beanspruchte, während er ihr schräg gegenübersaß und sie beobachtete. Obwohl er ganz in ein Buch vertieft tat, bemerkte sie bald seine Aufmerksamkeit, die ihr nicht unangenehm schien. Jedenfalls fühlte er von Zeit zu Zeit ihre großen dunklen Augen hinter dem braunen Schleier auf sich gerichtet und erwartete schon ein artiges Abenteuer, obwohl ihn die Sicherheit ihres Benehmens immer wieder in Ungewißheit stürzte. Auf alle Fälle beschloß er, ihr so weit wie möglich zu folgen.

An der Endhaltestelle vor dem Korinthenbaum stieg sie aus, und ihm schien, daß sie ihm im Augenblick des Aussteigens einen Blick zuwarf. Er zwirbelte den Schnurrbart hoch und folgte ihr im Abstand von etwa zwanzig Schritten. Sie bog in den Seitenweg neben dem Gasthaus, und als er gleichfalls um die Ecke kam, sah er sie ruhig dastehen und in einen Garten hineinblicken. Sie tat, als bemerke sie ihn nicht. Kein Mensch war zu sehen, die letzten Insassen der Pferdebahn hatten sich in anderer Richtung zerstreut. Sein Herz schlug vor kühner Erwartung, er wagte aber nicht, sie anzusprechen, sondern machte sich daran, auf dem kurzen Weg, der sich bald in Feldern verlor, auf und ab zu gehen. Sie stand noch immer still und blickte ruhig in den Garten. Hin und wieder sah sie flüchtig nach ihm hin. Es war kaum anders möglich, als daß sie sein Ansprechen erwartete. Er überlegte sich, was er zu ihr sagen könnte, etwa: »Wie seltsam, gnädiges Fräulein, daß wir uns den gleichen Ort zu einem Stelldichein gewählt haben. Auch ich erwarte jemanden, aber es ist noch ungewiß.« Diese Art erschien ihm nicht ungeschickt, aber er zögerte die Ausführung noch hinaus.

Auf einmal bog ein Herr um die Ecke und kam mit gezogenem Hut auf sie zu. Irgend etwas in ihrer Begrüßung schien Richard der Annahme eines Liebesverhältnisses zu widersprechen. Die beiden gingen in das Gasthaus hinein, und Richard nahm einige Tische von ihnen entfernt Platz, so daß er die junge Dame vor sich hatte. Da sie braune Augen, einen breiten braunen Hut mit weißen Spitzen und einen braunen, pelzbesetzten Mantel anhatte, nannte er sie in seinem Innern »die braune Dame«. Fast erschien es ihm Absicht von ihr, daß sie beim Verzehren des Apfelkuchens mit Schlagsahne ihre Handschuhe auszog und die linke Hand wie prüfend gegen das Fenster hielt, so daß ein breiter Verlobungsring sichtbar wurde. Dieser Ring schien ihn auszulachen, es war wie eine Verhöhnung. Ein Brautpaar, das den Verwandten ausgerückt ist, um sich romantischerweise ein Stelldichein zu geben, dachte Richard. Da bemerkte er, daß der Herr seinerseits keinen Ring trug. Eine Braut auf Abwegen! glaubte Richard nunmehr konstatieren zu müssen, und das Benehmen der Dame auch ihm gegenüber erschien ihm jetzt in einem zweifelhaften Licht. Schon wollte er ein Verdammungsurteil fällen, als eine zweite junge Dame in den Raum trat, mit etwas kurzsichtigen Augen umhersuchte und auf die beiden mit einem so strahlenden Ausdruck zustürzte, sich mit ihrer Hand in die Hand des Herrn so stürmisch einsaugte und sich mit so freudigen Blicken an seine Augen hängte, daß Richard sein voreiliges Urteil verwarf, zu einer neuen Beweisaufnahme schritt und schließlich seiner braunen Dame reumütig abbat, die in edelmütiger Weise einem Liebespaar zur heimlichen Begegnung verhalf. Er sah, daß die drei Personen offenbar von den Angelegenheiten des Liebespaares vollkommen in Anspruch genommen waren, und ging nach einer Weile fort. Sein Aufbruch wurde mit keinem Blick beachtet, wie er leider feststellen mußte.

Aber er behielt die braune Dame im Gedächtnis und begegnete ihr von da an öfters. Er bekam aber nicht einmal heraus, wo sie wohnte. Er sah sie in verschiedene Häuser hineingehen, ohne daß er feststellen konnte, was sie dort tat. Seine Bemühungen blieben von ihr nicht unbemerkt, und sie schien keineswegs böse darüber, wenn sie auch keine Gelegenheit gab, ihr näherzukommen. Einmal prallte er an einer Straßenecke fast mit ihr zusammen, rief »Pardon!« und zog den Hut. Sie lachte ihn an und grüßte ihn mit einem Senken ihrer Augenlider. Er kannte diesen Blick schon an ihr und nannte ihn »den Blick von unten hinauf«. Schon gedachte er, sie von da ab überhaupt zu grüßen, aber das nächste Mal traf er sie in Begleitung eines Herrn, der ihr Bräutigam zu sein schien. Dieser Herr war erheblich älter als sie und tadellos, sogar ein wenig geckenhaft gekleidet. Er schob sich an ihrem Arm kerzengerade durch die Straße. Zu beiden Seiten des strengen Gesichts hingen ihm gepflegte Bartkoteletten von unbestimmter Farbe herab, und das Distinguierte der ganzen Gestalt wurde durch ein Monokel im linken Auge wirkungsvoll gestützt. Richard ging an den beiden vorüber und war neugierig, ob sie wie sonst mit einem leichten Lächeln von ihm Notiz nehmen würde. Aber sie sah diesmal an ihm vorbei, als ob er Luft wäre. Das erschien ihm nicht ungünstig.

Die braune Dame regte ihn nun nicht gerade auf, aber es war doch so, daß er fast ständig an sie dachte, wenn er auf die Straße ging, um sich vom Arbeiten zu erholen. Schließlich sprach er zu einigen Freunden über sie, und da diese ihm keine Auskunft geben konnten, zog er seine kluge Freundin Else Rosenbaum zu Rate. Else Rosenbaum wußte alles und kannte alle Menschen. Aber aus seiner Beschreibung wurde sie nicht klug, denn ihm fehlten allzusehr die Fachausdrucke für Damenkleidung. Er konnte nicht Foulard von Fichu unterscheiden und verwechselte Pelz- und Samtjacken. Endlich konnte er der Freundin die braune Dame in einem der letzten Börsenkonzerte zeigen. Sie kannte sie und grüßte sie sogar. Es war Eleonore von Stetten. Else Rosenbaum hatte sogar nicht übel Lust, Eleonore durch Richard in ihren Kreis zu ziehen. »Bringen Sie sie zu uns, wenn Sie es fertigkriegen«, ermunterte sie den Freund und erzählte ihm, daß Eleonores Vater, der erst vor einem Jahr nach Königsberg versetzt war und die Tochter nicht einmal sofort mitgebracht hatte, sich bereits in der ganzen Stadt durch seine Eigenheiten bekannt gemacht habe. Er sei Witwer und ließe seiner Tochter in einem ungewöhnlichen Grade die Freiheit. Ihr Bräutigam hingegen, der Regierungsassessor von Sack aus Gumbinnen, wäre die Steifheit und Korrektheit in Person, und vor ihm solle Richard sich in Acht nehmen. Aber er wäre ja in Gumbinnen und nur selten hier. Richard überlegte hin und her, wie er die Bekanntschaft der braunen Dame machen könnte, denn ihn ihr einfach vorzustellen, lehnte Else Rosenbaum ab. Es würde sie in ein schiefes Licht setzen. Else Rosenbaum tat alles für ihre Freunde, aber sie setzte sich nie in ein schiefes Licht.

Richard hatte seine ganze Studienzeit in Königsberg verbracht, und er kannte viele Menschen in der Stadt. Aber zu Eleonore fand sich keine Brücke. Er war alter Burschenschafter, und es war naheliegend, daß sie mehr in den Kreisen der Korps verkehrte. Jedenfalls beschloß er, aufzupassen und jede Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen. Es vergingen wieder zwei Wochen, ohne daß er seinem Ziel näher gekommen wäre. Er nahm schon die Exmatrikel, um sich ganz in seine Arbeiten zu seinem Examen zu stürzen, und kannte die braune Dame noch immer nicht. Sicher würde er Königsberg verlassen, ehe er einmal mit ihr gesprochen hatte.

Im übrigen beschäftigte ihn der Abschied von seiner Studentenzeit mehr als diese ganze Geschichte. Es lag in der Phraseologie der Studentenverbindungen, daß hinter dem Examen die goldene Freiheit zu Ende war und das graue Philisterium begann. Man bangte sich nicht im geringsten nach der geordneten Wirksamkeit des Mannes, sondern nahm sich eher vor, von den studentischen »Idealen« möglichst viele ins Leben hinüberzuretten und noch als Philister im Sinne Viktor von Scheffels »ein Student« zu bleiben.

Als Richard in seine Burschenschaft eintrat, hatte er damit einen Herzenswunsch seines Vaters erfüllt, der die Burschenschaften noch immer im romantischen Schimmer des tollen Jahres 48 sah. Aber die jungen Burschen bekümmerten sich, wie alle Welt nach dem glorreichen Ausgang des Krieges, nicht im geringsten um Politik, und als Freiheit genügte ihnen die akademische, die das Recht auf nächtliche Kneipereien, Kollegschwänzen und Mensuren gewährleistete. Diese jungen Männer hatten den Krieg als zehn- und zwölfjährige Knaben miterlebt. Sie kannten nicht die Furchtbarkeit der Schlachtfelder, stürmten in Gedanken mit den bewunderten Helden von Sieg zu Sieg, von denen, bei Auslassung alles Schlimmen, die Heeresberichte verkündeten, betasteten mit Neugier die Eisernen Kreuze der älteren Verwandten und verachteten, wo sie keins auf einer Brust fanden. In ihr geistiges Erwachen waren die Glocken der Siegesfeiern hineingeklungen. Auf den Kneipen wurde viel von Vaterland gesprochen und gesungen, aber das Vaterland war ihnen nicht, wie der Generation von 48, etwas erst zu Erringendes, es war ihnen der Erfolg, das Erbe, das sie selbstbewußt antraten, dessen Besitz sie mit vielem Getöse verkündeten. Sie hatten keine Ahnung davon und wollten es nicht wissen, daß Vaterland immer in der Zukunft liegt und immer errungen werden will. Kein Ideal schien ihnen über die erreichte Wirklichkeit hinauszugehen, ihre Aufgabe blieb nur die Freude, in dieser Zeit und in diesem Reiche zu leben, und sie arteten, wie sie glaubten, Bismarck nach, der auch ein toller Student und wüster Schläger gewesen sein sollte. Man hatte dann immer noch Zeit, ein Examen zu machen und ein großer Mann zu werden.

Einige unter den Professoren beobachteten diese Entwicklung nicht ohne Besorgnis. Besonders hatte der damalige Prorektor, ein weltberühmter Mediziner, bei einigen Gelegenheiten zu mahnen und zu warnen versucht. Die Folge war, daß auf dem alljährlichen großen Kommers die Korps die Rede dieses Prorektors mit leisem Gemurmel und angedeutetem Scharren begleiteten und dafür dem Kurator als dem Vertreter der Staatsgewalt laute Ovationen brachten, als er sich zu seiner Rede erhob. An dieser Kundgebung hatten sich die Burschenschafter noch nicht beteiligt. Sie blieben alter Tradition gemäß immer noch ostentativ sitzen, wenn beim »Gaudeamus igitur« die dem Landesvater und dem Staat gewidmete Strophe gesungen wurde, während die Korps sich hierbei mit Geräusch und Würde von den Plätzen erhoben. Die Burschenschafter standen dafür bei der Strophe »Vivat Academia, vivant professores«, wo wieder die Korps sitzen blieben. Herr Ambrus senior hätte seine Freude daran gehabt. Aber es war nur noch eine Form, und schon gab es unter den jüngeren Semestern eine Strömung, die sich gegen die Juden in der Burschenschaft wandte, was unter den freisinnigen alten Herren böses Blut erregte.

Drei Semester lang hatte Richard die Farben seiner Burschenschaft getragen und war mit Begeisterung im Burschenleben aufgegangen. Dann zog er aus seiner im Universitätsviertel gelegenen Bude in der dritten Fließstraße aus und mietete ein stilles Zimmer in der Knochenstraße am Bahnhof. Auch hier herrschte oft noch lautes Treiben. Die Burschen veranstalteten Expeditionen nach Ambrus' Bude, luden einige Achtel auf Handkarren und stachen sie bei der erschrockenen Schuhmacherwitwe an. Oft auch trafen sich drei, vier besonders nahe Freunde in der Knochenstraße. Ambrus hatte ein kleines Achtel besorgt, und sie saßen in Hemdsärmeln um den Tisch mit der langen Pfeife im Mund und sangen das halbe Kommersbuch aus. Aber allmählich hatte er das Studentenleben satt bekommen. Durch Königsberger Bundesbrüder, die mit ihm oder schon vor ihm in die Inaktivitas getreten waren, wurde er mit einigen kunst- und musikliebenden Familien bekannt, an denen in der abgelegenen Stadt kein Mangel war. Sein Klavier- und Geigenspiel hatte er auch in den Burschensemestern nie ganz aufgegeben, aber jetzt, während er »Scharteken büffelte«, trat die Musik wieder in den Vordergrund, und bald hatte er einen anregenden und lebendigen Kreis beisammen und wurde am Flügel oder am Geigenpult nicht weniger bewundert als vordem auf dem Fechtboden oder in der Kneipe, wo er im Schlägerfechten oder im Bierjungen trinken unerreicht gewesen war.

Die stille Musiksehnsucht des Vaters Ambrus, der stundenlang am Klavier saß, um sich seine Lieblingsstücke ohne Noten auf den Tasten zusammenzusuchen, hatte sich auf Richard als ein geradezu unbändiges Talent vererbt. Er hatte auf dem Gymnasium nur wenige Stunden gehabt, und die technischen Fortschritte flogen ihm zu. Er beherrschte nahezu alle Instrumente, und es war ihm einerlei, ob er sich bei einem Kammermusikwerk an den Hügel oder an eines der Streicherpulte setzte. Man konnte ihm eine Posaune oder eine Handharmonika bringen, in wenigen Stunden kannte er den Mechanismus und handhabte ihn. Es schien für ihn keine Schwierigkeiten zu geben, oder er brach sie kurzerhand über das Knie. Was ihm fehlte, war ein ruhiges Sichsammeln und ein weiches Anpirschen an den Geist der Musik, aber alle Läufe rasselte er wie ein Donnerwetter herunter, und sein rhythmischer Schwung war unwiderstehlich. Schon als Schüler hatte er alle Symphonien Beethovens und Schuberts vierhändig mit seinem Klassengenossen Ulrich Reuschhagen gespielt, der gleich nach dem Abiturium in Elbing zu Felix Dreyschock und schon ein Jahr später zu Liszt ging und gerade die ersten Lorbeeren seines Studiums zu pflücken begann. Viele hatten es damals nicht recht verstehen können, weshalb gerade der stille, in sich gekehrte Reuschhagen, der sich schwer mit der Technik nur eines Instrumentes herumzuschlagen hatte, Musiker wurde und der anscheinend viel begabtere Ambrus Jura studierte. Man schob es auf den Stand der Väter. Das Vermögen der Ambrus' war so ziemlich dahin, Reuschhagen aber war der Sohn eines wohlhabenden Bauunternehmers, der den Knaben schon als kleinen Schüler wöchentlich nach Danzig zu einem guten Lehrer schicken konnte. Aber ausschlaggebend war doch wohl die Veranlagung der beiden jungen Männer selbst. Vielleicht hatte Reuschhagen die geringere technische Begabung, aber in ihm brannte die Flamme der Kunst in einem warmen gleichmäßigen Feuer, während Ambrus nach allen Seiten ausschlug. Jedenfalls konnte Reuschhagen kopfschüttelnd dabeistehen, wenn Ambrus gewisse Sätze vom Blatt herunterspielte, an denen er sich selbst wochenlang die Finger zerbrach.

Von allen Bundesbrüdern hatten sich die Brüder Rosenbaum am engsten an Richard angeschlossen, und durch sie kam er in die Familie des Justizrats Rosenbaum und blieb dort wie ein Sohn im Hause, auch als der ältere Bruder als Schulamtskandidat nach Marienwerder gegangen war und der jüngere in verschiedenen Städten vorgerückte Referendarstationen absolvierte. Bei Rosenbaums fanden regelmäßige Kammermusikabende statt. Als Richard in den Kreis trat, gab er sofort das Losungswort aus, daß ein richtiger Musikabend nicht aufhören dürfe, bevor nicht der Fußboden mit zerrissenen Quinten bedeckt sei, und mit ihm wuchsen sich denn auch bald die Zusammenkünfte zu musikalischen Orgien aus. Es wurden manchmal drei oder vier größere Werke und dazwischen ebenso viele Sonaten gespielt oder auch Lieder gesungen.

Die Rosenbaums bewohnten eine geräumige Etage am Roßgärter Markt. Es war eines der ersten modernen Mietshäuser mit vier Etagen, vielen Stuckverzierungen, einem prächtigen Treppenhaus mit bunten Glasfenstern, wie sie bald darauf zu vielen Dutzenden aus dem Boden wuchsen und den Charakter der alten ruhigen Straßen von Grund aus verwandelten. Von der Rosenbaumschen Wohnung, die vier Treppen hoch lag, hatte man eine wundervolle Aussicht über den Schloßteich und die ihn umkränzenden Gärten. An das große Musikzimmer schloß sich nach hinten heraus eine riesige Veranda, schon mehr eine ganze Terrasse, in der man frei wie in einem Luftschiff hoch über dem Teich schwebte und auf das alte Schloß herabsah. An den Sommerabenden saßen die Zuhörer meistens draußen auf dieser Veranda, genossen den Zauber der Nächte, die dort oben zu gewissen Zeiten schon an die weißen Nächte von Petersburg erinnern, und sahen durch die breite, geöffnete Glastür in das erleuchtete Zimmer hinein, aus dem die Tonströme hervorquollen.

Die Eltern Rosenbaum traten hinter dem Leben ihrer Kinder vollkommen zurück. Es tauchten manchmal auch ältere Menschen in dem Kreis auf, Verwandte und Freunde des Justizrats, aber die Jungen überwogen und gaben den Ton an. Es war aber auch eine Reihe interessanter junger Männer darunter. Da war der Referendar Georg Reicke, ein junger Dichter, der schon einen Band Lyrik veröffentlicht hatte und jetzt an seinem ersten Roman schrieb. Da war Hermann Baumgart, Oberlehrer an einer Töchterschule, für den die ganze erste Klasse schwärmte. Er hatte während des Winters im Goethebund, einer neu gegründeten Literaturvereinigung, verschiedene Vorträge über Goethe gehalten und wollte sich jetzt an der Universität habilitieren. Da war der lebhafte Dr. Goldstein, der seit einiger Zeit das Feuilleton der Hartungschen Zeitung leitete. Da war der Kandidat des höheren Schulamts, Dr. Stettiner, der in siebenundzwanzig Vereinen tätig war und in seiner freien Zeit historische Aufsätze über die Geschichte Königsbergs verfaßte. Um diese sammelte sich eine Reihe gleichgearteter junger Herren und Fräuleins. Sie alle liebten die Musik und saßen oder standen in Gruppen umher, wenn Ambrus und seine Quartettgenossen an den vier Pulten arbeiteten. Dr. Baumgart, der auf die edle apollinische Linie aus war, bevorzugte Mozart und ließ in seine Abhandlung über »Goethes Form« einige interessante Parallelen zwischen den beiden Meistern einfließen. Für den kämpferischen Dr. Goldstein war wiederum der »Titane« Beethoven das Höchste, und er rollte die Augen, auch wenn Beethovens Musik wie ein liebliches Bächlein zwischen anmutigen Ufern dahinrann.

Letzthin war es passiert, daß der junge, gerade aus Wien hergekommene Musikkritiker Dömpke, ein Freund und Schüler Hanslicks und so organisiert, daß er das veritable Bauchweh bekam, wenn er nur an den »Tannhäuser« dachte, den Kämpen ein Klaviertrio von Brahms auf die Pulte legte und eine Revolution in dem Kreis hervorrief. »Verrückt!« sagte Ambrus, aber dann machte er sich ans Üben und trieb die Streicher an, die streiken wollten, und in vierzehn Tagen war dem Kreis der neue Gott geboren. Nur Dr. Baumgart blieb ablehnend und vermißte das apollinische Moment. Es war gerade in den Tagen, als Richard durch Else Rosenbaum den Namen seiner braunen Dame erfahren hatte, und während er vom Flügel aus das Feld beherrschte, mußte er sich vorstellen, daß Eleonore unter den Zuhörern saß.

Else Rosenbaum war der eigentliche Mittelpunkt des Kreises. Sie war unermüdlich im Aufnehmen und Zuhören. Obwohl sie selbst gar nicht spielte, kannte sie die gesamte Musikliteratur von Haydn bis Schumann und wußte genau, welche Tempi bei jedem einzelnen Satz das Joachimquartett zu nehmen pflegte. Sie hörte alles, wußte aber das Positive an jeder Leistung hervorzuheben, und wenn die Bratsche ganze Passagen ausließ, entschuldigte sie es mit der Schwierigkeit des Schlüssels. Aber sie hatte jeden Fehler bemerkt und ließ es durchblicken. Sie wurde mit ihrem klaren und doch liebenswürdigen Urteil allseitig gefürchtet und verehrt. Für Richard hatte sie eine besondere Vorliebe, und man wurde nie ganz klug daraus, ob sie ihn nicht heimlich liebte. Jedenfalls bemühte sie sich, ihn zur Lektüre guter Bücher zu bringen (sie hatte ihm auch den Zola empfohlen), und war verzweifelt, wenn dieser so hoch talentierte junge Mann den Erscheinungen der Literatur gegenüber auf barbarischer Ablehnung beharrte. Richard machte prachtvolle Gelegenheitsgedichte und konnte mit dem Zeichenstift, was er nur wollte, treffsicher zu Papier bringen, aber jede Beschäftigung mit Literatur und Malerei war ihm zuwider. »Mit dem Kommersbuch kommt doch kein Buch mit!« sagte er. Else Rosenbaum schüttelte den Kopf.

Für den Schluß der Saison stand noch ein großes Ereignis bevor: Ulrich Reuschhagen, der jetzt Schüler von Leschetizky in Wien war, sollte ein Konzert geben. Es war seine erste größere Tournee, die er unternahm. Er spielte in Frankfurt a. O., Posen und Danzig, und aus allen diesen Städten kamen auf den verschiedensten Wegen die widersprechendsten Nachrichten über sein Spiel. Den einen hatte er gar nicht gefallen, nach ihnen sollte er der virtuosen Bravour gänzlich ermangeln und ein »Adagionist« sein, ein Mann der langsamen Sätze, weil offenbar die Technik nicht ausreichte. Andere wieder sagten, daß er ein Wunder und die Vorahnung einer neuen Zeit wäre. Am Tage vor seinem Konzert wurde die Kritik des berühmten Dr. Fuchs aus Danzig in der Stadt bekannt. Dr. Fuchs hatte sich durch wahre Wunderwerke von Kritiken seit kurzer Zeit einen großen Namen in allen Städten des Ostens gemacht. Sehr zum Ärger Dömpkes! Dieser Dr. Fuchs hob den jungen Künstler in den Himmel, und besonders eindrucksvoll war der letzte Satz seiner Kritik, in dem es hieß, daß Ulrich Reuschhagen in der Hand die blaue Blume der Romantik trage und hell über seinem Haupt der indische Stern schwebe. Das war offenbar mit Bezug auf das Drama »Sakuntala« gesagt, das damals gerade durch eine Modewelle emporgespült wurde.

*

»Wenn Sie uns schon Ihre braune Dame nicht zugeführt haben«, sagte Else Rosenbaum zu Richard, »so müssen Sie uns jedenfalls Ihren Freund Reuschhagen für einen Abend in unser Haus bringen.« Richard glaubte zusagen zu können.

Immerhin hatte er Reuschhagen seit etwa zwei Jahren nicht mehr gesehen, war auch nicht mehr im Besitz einer Adresse seines einstigen Mitschülers und wußte nicht, ob dieser berühmte Mann geneigt sein würde, von ihrer einstigen Freundschaft noch Gebrauch zu machen. Da bekannt war, daß Reuschhagen bei dem Fabrikbesitzer Gebauhr, dem Veranstalter der Künstlerkonzerte, wohnte, begab sich Richard am Nachmittag dorthin, wurde aber nicht vorgelassen, da sich Herr Reuschhagen dringendst vollständige Ruhe ausbedungen hätte, wie das öffnende Mädchen mit einem zierlichen Knicks vor dem stattlichen Herrn auswendig hersagte. So blieb nichts anderes übrig, als während des Konzerts im Künstlerzimmer einen Versuch zu machen.

An dem Konzert war der ganze Kreis vollzählig versammelt. Richard fühlte sich im festlich erleuchteten Börsensaal immer etwas deklassiert, weil ihm sein schmaler Wechsel nur einen Stehplatz vergönnte. Rosenbaums paradierten in einer der ersten Reihen, verschiedene seiner Bekannten hatten die guten Zeitungsplätze inne. Baumgart und Stettiner leisteten sich als Honoratioren Sitzplätze, wenn auch nur in einer hinteren Reihe. Richard aber stand, obwohl hervorragender Virtuose und fast schon Referendar, mit emporgezwirbeltem Schnurrbart zwischen gewöhnlichen Studenten, jungen Kaufleuten und Backfischen an der Längswand des Saales, und seine einzige Genugtuung bestand darin, daß er Damen der besten Plätze die Hand küssen und sich so hinstellen konnte, daß er irgendein hübsches Mädchenprofil in seiner Gesichtslinie hatte.

Schon das Programm Reuschhagens erregte Aufsehen. An den Anfang hatte er die Appassionata von Beethoven gestellt, darauf ließ er einige »Lieder ohne Worte« von Mendelssohn folgen. Am Anfang des zweiten Teils standen die »Symphonischen Etüden« von Schumann, und zum Schluß gab es Etüden von Chopin und einiges von Liszt, zuletzt eine ungarische Rhapsodie. Es war, als wollte er die beiden in heftigem Kampf stehenden Richtungen Schumann und Liszt, hinter denen sich die aktuelleren Gegensätze Brahms und Richard Wagner verbargen, in sich versöhnen.

Das Podium betrat ein großer bleicher Mensch mit für einen Künstler auffallend kurz gehaltenen Haaren. Er war breit und knochig. Unter einer scharf gebuckelten Stirn sprang eine große lange spitze Nase hervor, die dem Gesicht etwas von einer Spitzmaus gab. Die Augen waren klein und stechend. Kurzum Ulrich Reuschhagen war so ziemlich das Gegenteil von dem, was man sich nach der Kritik des Dr. Fuchs unter ihm vorgestellt hatte. Man konnte weder die blaue Blume in seiner Hand noch den indischen Stern über seinem Haupt finden. Das war aber mit einem Schlage anders, als er prüfend die ersten Akkorde anschlug. Von diesen Akkorden ging er fast unbemerkt in die Appassionata über. Es war, als wollte er sagen: Ich lebe immer in diesen Welten, es ist mir nicht schwer, von meinem täglichen Tun einen mühelosen Übergang zu Beethovens Sonate zu finden.

Er spielte auf eine merkwürdige Weise von innen heraus, vermied alles Virtuose und Glänzende, aber er gestaltete das innere Drama dieser Musik. Wenn jenes bekannte Thema des ersten Satzes, das man nicht vergessen kann, wieder kam, ging ein merkbarer Schauer durch den Saal. Der zweite Satz wurde unter seiner Hand wie eine im Augenblick geborene Improvisation, ein Irren in dunklen Akkorden, von denen man nicht loskommt, und dann kam der Hexensabbat des letzten Satzes, raste unerlöst in die Runde, stürmte vor, wurde ins Hoffnungslose zurückgeworfen, suchte vergeblich, sich in bacchantischem Taumel aufzulösen, brach jäh ab.

Richard ließ keinen Blick von Reuschhagens Händen. Wenn es sich zu glänzenden Passagen anhob und immer im Seelendrama verblieb, war ihm, als hörte er in diesem entsagenden Spiel sein Todesurteil. Er empfand den hoffnungslosen Abgrund zwischen einem Leben, das sich zur reinen Flamme verklärt, und einem Leben, das sich nur gerade so fortlebt. Er fühlte den Fluch der bloßen Talente, wenn sie nur um ihrer selbst willen da sind und das Leben überwuchern, und er schwor sich, nie wieder eine Taste anzurühren.

Das Beifallstosen weckte ihn aus seinen Gedanken. Reuschhagen hatte also Erfolg, er gefiel. Er sah hinter der großen Gestalt her, die mit hochgezogenen schwankenden Schultern ins Künstlerzimmer abging. Man versuchte ihn zurückzuklatschen, aber er kam erst nach einer langen Weile hervor, setzte sich gleich wieder an den Flügel. Und nun hob sich der selige Gesang der Mendelssohnschen Lieder durch den Saal. So tönt es in den Seelen, wenn müde Menschen am Abend vor den Türen sitzen und alte Weisen vor sich hinsingen, fühlte man. Bis zum Ende dauerte dieses stille Leuchten der Melodien. Keine Steigerung zum Schluß, kein den Beifall herausfordernder Abgang, nur ganz leises Verträumen im letzten Ton. Da aber brach ein Jubel los, der nicht enden wollte. Man rief, man trampelte, in den hintersten Reihen stiegen einige auf die Stühle, um zu winken. Reuschhagen mußte viele Male herauskommen. Else Rosenbaum war aufgestanden und klatschte wie rasend, auf der anderen Seite des Saals klatschte die braune Dame, und ihr Bräutigam neben ihr markierte wenigstens mit behandschuhten Fingern offiziösen Beifall.

Richard hielt den Augenblick für gekommen, ins Künstlerzimmer zu gehen. Er schob sich durch die diskutierenden Gruppen im Saal hinaus und pochte an die Tür. Als sich nichts meldete, ging er hinein. Da stand Reuschhagen in der hintersten Ecke des Zimmers mit dem Gesicht gegen die Wand und winkte, ohne sich umzusehen, mit dem rechten Arm nach rückwärts heftig ab. Richard stutzte und ging hinaus. »Schafskopf!« dachte er. »Wenn ich mich nach jedem Spiel so haben wollte!«

Draußen fing ihn Else Rosenbaum ab. »Nun?« Richard vertröstete sie auf den Schluß des Konzerts, aber eigentlich war er entschlossen, die Sache aufzugeben. Else war hingerissen: »Wie ist Rubinstein daneben äußerlich!« rief sie, »und Dreyschock ein Kraftmeier, und Bülow vergewaltigt einen!«

Als aber die Stücke der bravourösen Technik vorüber waren und Richard seine Garderobe holen wollte, sah er zu seiner Überraschung die braune Dame im Künstlerzimmer verschwinden und ging ihr schnell nach. Drinnen waren schon ein Dutzend Gestalten, in deren Mitte der Künstler mit abwesender Miene stand. Als Richard eintrat, hatte er gerade das Fräulein von Stetten bemerkt und winkte sie heran. »Lorle!« sagte er mit einer leisen tiefen Stimme, küßte ihr. noch immer wie abwesend, die Hand, die er in der seinen behielt. Er sagte nichts weiter, aber man sah ihm die Freude an, sie zu treffen. Da hatte sich Richard bis zu den beiden durchgedrängt und dachte: »Jetzt oder nie!« Reuschhagen hielt ihm die noch freie Linke entgegen und sagte: »Ja sieh mal, Ambrus! Da seid ihr ja alle.« Dann setzte er ein rührendes Spitzbubenlächeln auf und fing an, aus Leibeskräften mit seinen beiden mächtigen Händen zu schütteln.

Eleonore und Richard sahen sich ein wenig fassungslos an, als sie sich auf einmal unvermutet so nahe standen und wie von dem gleichen Pumpenschwengel bewegt wurden. Eleonore faßte sich zuerst und sagte lachend: »Ulli, stellen Sie mir einmal diesen Herrn da vor.«

»Ja so, ihr kennt euch nicht. Dies ist Richard Ambrus, mein alter Schulfreund und gewaltiger Konkurrent auf dem Klavier.« Und er setzte freundlich hinzu: »Tausendmal begabter als ich. Und dies ist Lorle, meine ...«

»Eleonore von Stetten«, unterbrach die braune Dame.

»Fräulein Lorle, Fräulein Eleonore von Stetten, meine einzige und liebste und beste Berliner Freundin.«

Da trat der Bräutigam hinzu, klappte mit den Hacken und sagte im Schnarrton: »Gestatten: von Sack.«

Zwei Tage blieb Ulrich Reuschhagen in Königsberg, am ersten Abend nahm er Richard in die Gesellschaft mit, die ihm zu Ehren bei Gebauhr, dem Besitzer der berühmten Klavierfabrik, gegeben wurde. Es war Richards Debüt in der vornehmen Gesellschaft, und er machte um so mehr eine gute Figur, als Reuschhagen ihn in seiner überlegenen sanften Weise mehrmals zum Spielen aufforderte und Richard mannhaft der Versuchung widerstand, sich vor einem solchen Kreis hören zu lassen, noch dazu vor der braunen Dame. Am nächsten Abend brachte er Reuschhagen und Eleonore zu Rosenbaums. Der Bräutigam war schon wieder nach Gumbinnen abgereist. Dieser Abend war der Glanzpunkt in Rosenbaums Salon. Der Justizrat hatte die besten Weine heraufgeholt. Reuschhagen präsidierte, sichtlich geniert, auf dem Sofa, und die ganze Gesellschaft saß um ihn herum, um jedes seiner Worte aufzufangen. Er sagte aber lange nichts, und erst als Else die Initiative ergriff, wurde er plötzlich lebendig und erzählte, was man wissen wollte, aus der großen Welt, von Richard Wagner und Frau Cosima, von Klara Schumann und Brahms und dem vergötterten Liszt, daß Dömpke augenblicklich sein Leibweh bekam und hinausgehen mußte.

Dafür setzte er sich dann an den Flügel und spielte die f-Moll-Sonate von Brahms, und der Stern des neuen Gottes stieg an diesem Abend bei Rosenbaums hoch in den Zenith.

Lange darauf, weil Reuschhagen nicht lockerließ – es war schon sehr spät, und sie nannten ihn schon alle, dem Beispiel Eleonores folgend, Meister Ulli –, wurde Richard ans Klavier gesetzt und spielte drei kleine Impromptus eigner Komposition. Die braune Dame lächelte ihn während der ganzen Zeit an.

»Was ihm alles einfällt, was?« rief Reuschhagen um sich. »Du Glückspilz, gib mir von deinen Talenten ab!« Die braune Dame warf ihm einen ihrer »Blicke von unten hinauf« zu. Richard fühlte kein Todesurteil mehr über seinem Haupt wie bei der Appassionata. »Ich habe Talent«, dachte er, »und vielleicht wirklich mehr als Ulli.«

Gegen zwei Uhr nachts brachten Reuschhagen und er Eleonore nach Hause. Dann gingen die beiden noch in die »Hütte«, einen Teller Fleck essen.

Seit diesem Abend waren Richard und Eleonore erklärte Freunde. Sie nahm an den Musikabenden bei Rosenbaums regelmäßig teil und ließ sich – sehr gegen die Sitte – von Richard heimbegleiten. Nie sprachen sie dabei von ihren früheren Begegnungen.


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