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Neuntes Kapitel.
In der Schreibstube


Sie Schreibstube des Herrn Rechtsconsulenten Plager befand sich zu ebener Erde in demselben Hause, wo der lange Schreiber wohnte. Die Fenster derselben gingen in den Hof, den wir neulich zur Nachtzeit durchschritten, und wenn wir denselben jetzt bei Tageslicht betrachten, so müssen wir gestehen, daß er damals in finsterer Nacht nicht viel öder und trostloser aussah als heute. Alle Rückseiten der umliegenden Häuser schienen sich hier Rendezvous gegeben zu haben, um die allergewöhnlichsten, allerprosaischsten Geschäfte des täglichen Verkehrs abzumachen. Dabei waren diese hinteren Häuserreihen von einer solchen Unregelmäßigkeit, daß man hätte auf den Glauben kommen können, die verschiedenen Baumeister haben einander zum Aerger nur so sich völlig widersprechende Giebel, Fenster und Thüren gebaut. Im Lauf der Zeiten hatte man hier und da einen Erker oder einen Alkoven angeflickt, der dann der Hausseite ganz das Ansehen gab, als habe sich an der betreffenden Stelle eine unförmliche Geschwulst angesetzt. Dazu kam eine Musterkarte der verschiedenartigsten Rinnen und Abzugsröhren in Holz, Erde und Metall, von denen aber viele defekt waren, und aus diesem Grunde rechts und links einen feuchten Ausschlag hervorriefen, in welchem hier und da ein Pflänzchen sein kümmerliches Dasein fristete. Von einer Verputzung dieser Hausseite war durchaus nicht die Rede, und so sah man denn ein wahres Chaos von Holzwerk alle Wände in so durch einander laufenden und seltsamen Linien bedecken, daß es Einem bei längerem Hinsehen ganz schwindelig werden konnte.

Die schon vorhin erwähnten eigensinnigen Giebel richteten sich so drohend gegen einander auf und blickten sich mit ihren schwarzen Fensterlöchern so grimmig an, daß man auf die Vermuthung einer geschwornen Feindschaft unter ihnen kam und sich des Gedankens nicht erwehren konnte, sie würden einst in einer Mitternachtsstunde wüthend auf einander losstürzen und im grimmigsten Vertilgungskampfe nicht eher ruhen, als bis sie alle mit einander zerschmettert drunten im Hofe lägen, ein formloser Haufen von Balken und Steinen.

Was diesem grauen und schmutzigen Hofe eine freundliche Verzierung verlieh, war die überaus zahlreiche an Schnüren aufgehängte Wäsche, und wenn man die vielen Farben derselben, die rothen, blauen, grünen, gelben und weißen Lappen mit einiger Phantasie betrachtete, und sah, wie der eingedrungene Wind sie spielend emporhob, so konnte man träumen, es würde in einem der finsteren Häuser irgend ein Fest gefeiert, zu welchem dasselbe, wie ein Kriegsschiff im Hafen, sämmtliche Flaggen aufgezogen.

Der Boden des Hofes in seiner Unebenheit, die aus zusammengetretenen Kehrichthaufen und Schuttüberresten entstanden war, mit halb verfaulten Balken und Brettern und zusammengefallenen Fässern, wo ein eiserner Reif mit zwei aufrechtstehenden Dauben wie das Gerippe eines ehemaligen Weinfasses aussah, paßte vollkommen zu seiner Umgebung. Daß die anstoßenden Gemächer, deren Fenster hieher gingen, gerade keinen Ueberfluß an Freundlichkeit hatten, brauchen wir dem geneigten Leser wohl nicht zu sagen, ebenso wenig, daß das Bureau des Herrn Plager überhaupt hiervon keine rühmliche Ausnahme machte. Im Gegentheil war es eines der finstersten Löcher in dem ganzen Gebäude, und Madame Plager mit ihrer Frau Mutter hatte es sinnig aus dem Grunde gewählt, weil, wie sie behauptete, die Arbeit noch einmal so rasch von Statten gehe, wenn das Auge durch keine äußeren Eindrücke beunruhigt und von dem Papier abgezogen würde. Und in dieser Beziehung hatte sie trefflich gewählt; denn in dem Hofe regte sich gar nichts Lebendiges, als vielleicht eine lauernde Katze oder eine vorüberhuschende Ratte. Vögel ließen sich hier kaum sehen, und wenn einmal ein neugieriger Spatz von draußen hereinkam, so flog er augenblicklich erschrocken wieder empor und verkündigte wahrscheinlich seiner Verwandtschaft: Aber da unten habe ich einen schauerlich stillen und schmutzigen Hof gesehen. Da möchte ich nicht einmal ein gestohlenes Nest besitzen – pfui Teufel!

Das Bureau des Rechtsconsulenten bestand aus zwei Gelassen, eines war das Privat- und Sprechzimmer des Chefs, das andere die Schreibstube. Im ersten herrschte einiger Luxus; da stand nämlich ein altes, schmutziges Sopha, und über demselben hing ein halbblinder Spiegel; die übrigen Möbel waren, wie in der Schreibstube, aus gewöhnlichem Tannenholze, auf dem sich aber, wie auf ähnlichen Schulutensilien, im Lauf der Zeiten ein bräunlicher Schmutzüberzug angesetzt hatte.

Der erste Schreiber des Rechtsconsulenten, dessen Bekanntschaft wir schon in den vorigen Kapiteln gemacht, befand sich vor einem Stehpulte, auf dem ein großer Aktenstoß lag, den er langsam durchblätterte und daraus Auszüge zu machen schien. Obgleich wir ihn dem Leser bereits in aller Form vorgestellt, auch sein Aeußeres so gut als möglich beschrieben, so vergaßen wir doch bis jetzt, seinen Namen zu nennen. Dieser klang etwas fremdartig, – eine Bemerkung, die der Träger desselben mit großem Stolze und gern hörte; er pflegte alsdann zu sagen, das kalte Deutschland, in dem er jetzt verurtheilt sei, schlechte Prozeßakten zu concipiren, zu escarpiren und zu copiren, sei ja nicht sein Heimatland, sondern fern im Süden das schöne Spanien sei es, wo seine Wiege unter blühenden Orangenbäumen gestanden. Larioz, so pflegte er zu sagen, ist dort ein Name von bestem Klang, und wenn man von Jaen nach Granada reitet, so bewundert man die leider ziemlich verfallene Stammburg dieses Geschlechtes, einen mächtigen Bau, von dessen Thurme man die Besitzungen der Familie, wie sie einst bestanden, nicht übersehen konnte. Wenn der Schreiber auch gewöhnlich mit »Herr Larioz« angeredet wurde, so nahm er es doch durchaus nicht übel, wenn Jemand, der seine Herkunft kannte, ihn Don Larioz nannte; ja, er pflegte dabei gnädig zu lächeln und konnte in guter Laune hinzusetzen: »Wenn meine Vorfahren anders gewirtschaftet hätten, so brauchte ich nicht meinen Hut vor dem Herrn Plager abzunehmen, sondern stände mit bedecktem Haupte vor dem König von Spanien.«

Etwas seitwärts von dem Stehpulte befand sich ein kleiner Tisch mit einem Stuhle, auf dem unser Freund Gottschalk saß, der mit der Copie eines Aktenstückes hätte beschäftigt werden sollen. Wenigstens lag besagtes Aktenstück neben ihm, er hatte vor sich einen Bogen Papier, auf dem auch bereits einige Zeilen zu sehen waren; doch hatte er die Feder neben sich gelegt und lauerte, wie die Katze auf eine Maus, nach einer müden Fliege, die auf dem Tischrande herumspazierte. Es gelang ihm auch, das unglückliche Wildpret einzufangen, doch mochte er dabei etwas zu roh zu Werke gegangen sein, genug, die ohnedies lebensmüde Fliege starb zwischen seinen Fingern.

Diese außergewöhnliche Beschäftigung war indessen von dem langen Schreiber nicht unbemerkt geblieben, und dieser hatte langsam sein Lineal genommen und patschte seinem kleinen Zögling, ehe dieser sich dessen versah, tüchtig auf die Finger.

Gottschalk, blickte in die Höhe, und obgleich er den getroffenen Daumen zum Munde führte, so war doch auf seinem Gesichte nicht die Spur eines Erschreckens zu lesen, vielmehr lachte er schelmisch und sagte: »Das hat gepatscht!«

»Allerdings hat es gepatscht!« meinte der lange Schreiber, »und es kann noch viel stärker patschen, wenn du, statt ruhig zu arbeiten, beständig deine Kindereien treibst; und diesmal hast du doppeltes Unrecht begangen: erstens hast du deine Schreiberei liegen lassen, und zweitens ein harmloses Thier erdrückt, das dir durchaus nichts zu Leide gethan.«

»Ich glaube, es ist dieselbe Fliege,« sagte der Kleine mit pfiffigem Lächeln, »die schon lange um meine Nase geflogen ist.«

»Wenn auch, so brauchst du sie nicht zu tödten. Denk einmal, wie es dir gefallen würde, wenn du zum Beispiel draußen auf dem Felde herumspaziertest – und die Fliege kann deine Nase ja möglicher Weise auch für ein Feld ansehen – wenn du dich also auf deine Art vergnügtest, und es erschiene plötzlich ein Riese, der es dir gerade so machte, wie du jener unschuldigen Fliege!«

Das sprach Don Larioz durchaus nicht im Tone des Scherzes, vielmehr blickte er dabei sehr ernst an die Decke, während er die breite Fläche des Lineals an seine Wangen drückte.

»Aber es gibt keine Riesen mehr,« erwiderte keck der Knabe.

»Das ist noch gar nicht ausgemacht,« fuhr der Schreiber fort; »im Gegentheil wirst du dich erinnern, daß ich dich vorgestern mit mir in jene Bude auf dem Markte nahm, wo sich das Riesenweib sehen ließ, eine stattliche Person. Ich habe auch meine gehörige Länge, aber als ich neben sie trat, mußte ich wahrhaftig an ihr hinaufblicken.«

»Da war aber viel Betrug dabei,« meinte Gottschalk; »ich habe mir das von einem Bekannten erklären lassen. Das Riesenweib hatte Sohlen unter den Stiefeln von wenigstens sechs Zoll Dicke, und darüber hingen ihre Kleider so herab, daß man nichts davon sehen konnte. Ja, die in den Meßbuden sind schlau und führen die Leute an, wo sie können.«

Diese Bemerkung Gottschalk's hatte offenbar einen unangenehmen Eindruck auf Herrn Larioz gemacht, er stützte den Ellbogen auf das Stehpult, legte sein spitzes Kinn darauf und blickte nachdenklich in den trüben Hof.

»Wenn du Recht hast,« sagte er nach einer Pause, »so ist es sehr traurig, und es kann mich betrüben, daß so viel Betrug in der Welt herrscht. Es wäre eigentlich recht schön, wenn es noch so etwas Außergewöhnliches, wie Riesengeschlechter, gäbe; die Welt ist so prosaisch und trocken geworden, daß es Einem ordentlich wohl thäte, hier und da unter den Alltagsmenschen einem so gewaltigen Kerl zu begegnen.«

»Ich würde mich fürchten, und viele andere Menschen auch. Das wäre eine schöne Wirthschaft, wenn es Riesen gäbe, die nur die Hand zuzumachen brauchten, um unser eins zu erdrücken!«

»Die meisten Riesen hatten edle Herzen,« sagte träumerisch der Schreiber.

»Ich kann Ihnen aber versichern, Herr Larioz,« fuhr Gottschalk fort, der viel zu froh war, plaudern statt arbeiten zu dürfen, um das angefangene Gespräch so bald wieder fallen zu lassen, »daß es mit dem sogenannten Riesenweib falsch war; mein Freund, der mir das erzählte, sah durch die Bretterwand hinein, wie sie ihre Stiefel mit den dicken Sohlen anzog; auch war der Fußboden erhöht, auf den sie sich stellte. Ja, das ist nun einmal so in der Welt: Einer führt den Anderen an, und wer's am besten kann, der hat den Nutzen. So sagte Meister Schwörer, wenn er gut gelaunt war.«

Der Schreiber schüttelte den Kopf und erwiderte: »Wenn es so ist, wie du sagst, mein lieber Gottschalk, so hätte man das Riesenweib untersuchen und, wenn sie wirklich das Publikum auf so unverantwortliche Weise betrogen, der Polizei, Anzeige davon machen sollen, damit sie gestraft würde.«

»Da hätte man aber viel zu thun, Herr Larioz, wenn man sich um aller Leute Sachen bekümmern sollte! Dergleichen geschieht so viel in der Welt, daß man gar nicht fertig würde; und wenn ich mir erlauben darf, es Ihnen zu sagen, so ist es wahrhaftig schon genug, wenn man sich in Acht nimmt, daß man selbst nicht angeführt wird. Da kann ein Jeder sehen, wie er fertig wird.«

»Du hast da erschreckliche Grundsätze, die ich noch zu verbessern hoffe,« fuhr der Schreiber fort, und dabei stellte er sein Lineal vor sich auf das Pult, wie irgend ein alter gemalter General es mit dem Commandostabe zu machen pflegt. »Siehst du, ich hielte es für die schönste Beschäftigung, die einem Menschen zu Theil werden könnte, der, unabhängig, reich, es sich als Aufgabe stellte, das Unrecht, das in der Welt geschieht, so viel als nur immer möglich wieder gut zu machen. Du hast doch gewiß von alten Rittern gelesen, die sich damit beschäftigten, böse Zauberer, Drachen und Riesen zu bekämpfen, gefangene Jungfrauen zu beschützen und dergleichen heilsame Sachen mehr zu thun. Leider gibt es aber keine Drachen und Zauberer mehr.«

»Nein, Drachen nicht, wie damals, feuerspeiende und mit langen Schwänzen, aber sonst sind noch Drachen genug da; der Meister Schwörer nannte die Meisterin oft einen Drachen.«

»Ich sehe, wir fangen an, uns zu verstehen. Da es jetzt keine Drachen mit langen Schwänzen mehr gibt, so müßte man also solche Drachen zu bekämpfen suchen, hie ihren Nebenmenschen durch giftige Reden und allerlei Unthaten das Leben sauer machen.«

Gottschalk, der sich etwas darauf einzubilden schien, daß seine Ansicht von den Drachen nicht verworfen wurde, setzte sich so breit wie möglich an seinen Tisch und entgegnete: »Es wäre aber gewiß ein undankbares Geschäft, Herr Larioz, sich darum zu bekümmern, was andere Menschen Unrechtes thun. Die Meisterin sagte oft, und ich habe es mir gemerkt: Wo es dich nicht juckt, da kratze nicht. Menge dich nicht in anderer Leute Sachen, und wo die Leute schmutzige Wäsche waschen, da geh vorbei und sieh dich gar nicht um.«

»Da hatte die Meisterin von ihrem Standpunkte Recht,« sagte der Schreiber; »aber schön wäre es doch, wenn Jemand es sich zur Lebensaufgabe machen wollte, das Unrecht, wo solches geschähe, unnachsichtlich aufzudecken und die Betreffenden zur Strafe zu führen. Ein solcher Mann müßte mit der Achtung der ganzen Welt belohnt werden.«

»Ja; er könnte aber auch zuweilen seine Prügel kriegen,« sagte Gottschalk mit großem Ernste; »ich habe das erlebt. Wenn sich der Meister und die Meisterin handgreiflich zankten, da hatten wir einen Obergesellen, der wollte sich auch hineinmischen und fing damit an, allen Beiden Unrecht zu geben. Meinen Sie, daß sie das geglaubt hätten? Gott bewahre! Ein Wort gab das andere, und zuletzt nahm der Meister die Elle zur Hand, und die Meisterin behalf sich bei dem Streite mit ihren zehn Fingern.«

»Du magst Recht haben,« warf der Schreiber gleichgültig hin, »daß dergleichen Undank vorkommt, denn wenn man sich einem Drachen nähert, so muß man am Ende auf Alles gefaßt sein; aber –« fuhr er nach einer ziemlich langen Pause fort, und dabei blickte er durch die trüben Scheiben in den Hof und über denselben in das benachbarte Haus hinein, und wenn man seinem stieren Blicke Glauben schenken wollte, weit, weit in unabsehbare Fernen hinaus, »es ist noch ein anderes Kapitel, mit welchem sich die damaligen Ritter so gern befaßten – der Schutz edler Frauen, und als Retter zu erscheinen hülflosen und in den Fesseln des alltäglichen Lebens schmachtenden Jungfrauen. Das wäre eine schöne Aufgabe, wer sie lösen könnte!«

Die letzte Rede schien Gottschalk nicht verstanden zu haben; auch sah er bedenklich und seufzend die vier Zeilen an, die auf dem vor ihm liegenden Bogen prangten und die sich von selbst nicht vermehren wollten; er mochte auch an Herrn Plager denken, der es liebte, die Arbeiten des neuen Schreiberlehrlings zuweilen zu untersuchen, und dabei erinnerte er sich sehr anzüglicher Redensarten, sowie auch unterschiedlicher Püffe, die bei derartigen Gelegenheiten schon gefallen waren, weßhalb er seufzend nach seiner Feder griff, die Spitze derselben von allen Seiten betrachtete, um dann auf dem größtmöglichen Umwege damit zum Dintenfasse zu fahren. Ehe er aber dasselbe erreichte, fiel ihm ein, die Dinte könnte des Umrührens bedürfen, weßhalb er nothwendiger Weise aufstehen mußte, um ein Stückchen Holz zu suchen und damit die schwarze Flüssigkeit in Bewegung zu setzen.

So waren denn glücklicher Weise wieder einige Minuten vertrödelt, und da es oft im Menschenleben Tage gibt, wo sich ein unangenehmer Moment an den andern reiht, so geschah es jetzt, daß, als Gottschalk wirklich seine Feder eingetunkt hatte, nun die Uhr auf dem benachbarten Kirchthurme Zehn schlug, zu welcher Zeit dem Schreiber eine halbe Stunde vergönnt war, um sich mit einem Stücke Brod zu restauriren.

Auch Herr Larioz hielt diese Zeit ziemlich pünktlich ein, doch legte er erst beim achten Schlage sein Lineal auf den Aktenstoß, um dann mit auf den Rücken gefalteten Händen an das Fenster zu treten und in den Hof zu schauen.

»Der Tiger kommt heute wieder recht spät,« meinte Gottschalk, der ebenfalls von seinem Stuhle aufgestanden war und gähnend auf den fast weißen Papierbogen blickte.

»Der Tiger ist sonst immer sehr pünktlich,« antwortete der lange Schreiber, – »richtig, dort kommt er auch.«

»Ja, da kommt er,« sagte freundlich der Lehrling. – »Wissen Sie auch, Herr Larioz,« fuhr er nach einem augenblicklichen Stillschweigen fort, »daß Sie mir schon lange einmal sagen wollten, warum eigentlich die alte Friedel der Tiger genannt wird? Die hat doch wahrhaftig nichts Tigerartiges an sich, und man könnte sie eher ein altes Schaf nennen.«

»Ich glaube, der Doktor hat ihr den Namen gerade des Contrastes wegen gegeben. Auch war sie selbst die unschuldige Veranlassung dazu. Bei dem Herrn Rechtsconsulenten befanden sich ein paar Herren, die wegen eines Pferdekaufs prozessiren wollten. Es sollte von Sachverständigen ein Gutachten abgegeben werden, bei welchem natürlich das fragliche Roß erscheinen wußte. Die alte Friedel war gerade im Zimmer und las Papierschnitzel auf, als einer der Herren zu unserem Prinzipal sagte: Der Tiger wird sogleich in den Hof gebracht werden. Sie hatte hierauf nichts Eiligeres zu thun, als zum Doktor hinauf zu laufen, der sich für alle Thiergattungen sehr interessirt, um ihm fast athemlos zu sagen: Herr Doktor, kommen Sie geschwind herunter, sogleich kommt ein Tiger in den Hof! Daher bekam sie denn ihren Beinamen.«

Bei diesen Worten trat der Tiger in die Stube.

Bei ihrem Anblick mußte man gestehen, daß für die arme alte Person die Bezeichnung des Knaben richtiger gewesen wäre, als der Vergleich mit jenem flinken, schlanken und schönen Raubthiere. Der Tiger mochte an die sechszig Jahre alt sein, hatte ein ewig betrübtes Gesicht, auf dem sich nur höchst selten ein Lächeln zeigte, das dann zu sagen schien: Wenn ihr so freundlich sein wollt, mich für ein Lächeln zu halten, so will ich mich bemühen, es nächstens besser zu machen. – Das einzig Glänzende in ihrem Gesichte, die Augen mit einbegriffen, war ein braunes Tröpfchen, das sich zuweilen an der Spitze ihrer röthlichen Nase zeigte, dessen sie sich aber zu schämen schien und das sie stets mit dem schüchternen Ausrufe: Ach Herr Jemine! wegwischte – Der Tiger war Wittwe, hatte alle seine Kinder ins Grab sinken sehen, überhaupt viel Unglück erduldet, woher es denn auch wohl kommen mochte, daß er seinen Kopf gegen die linke Seite geneigt trug, als beuge er sich vor den beständigen Schicksalsschlägen. Dabei war aber der Tiger ein sehr gutes, treues und ehrliches Gemüth, ohne alle Falschheit und Hinterlist, und trugen diese Eigenschaften dazu bei, ihr sehr nachläßiges, gar schmieriges Aeußeres vergessen zu machen. Ihre ältesten Bekannten erinnerten sich desselben Rockes, desselben wollenen, hinten geknüpften Halstuches und derselben Kopfbedeckung – eines Mitteldings zwischen Nachthaube und Turban, eigentlich Beides zugleich, denn sie pflegte die erstere mit einem einst roth gewesenen Tuche am Kopfe zu befestigen. Dabei liebte der Tiger seine Kleidung und trotzte muthig fast allen Anspielungen. Wir sagen: fast allen; denn eine des Armenarztes hatte sie doch einst so übel genommen, daß sie ihm auf ein Haar den Dienst gekündigt hätte. Der Doktor hatte nämlich eines Tages gesagt: »Tiger, wenn Ihr so fortmacht und Euch nicht reinlicher anzieht, so erleb' ich es noch, daß, wenn Euch Jemand an die Wand wirft, Ihr zwei Schuhe vom Fußboden kleben bleibt!« Darüber hatte der Tiger heftig geweint und gesagt: er könne das nicht vergessen, er habe sich im Traume so erblickt und es habe schrecklich ausgesehen.

Die alte Frau trat also in die Schreibstube, einen kleinen Korb in der Hand, woraus sie ein Brod hervorholte, sowie eine in Papier eingeschlagene Wurst, das Frühstück des Gehülfen und des Lehrlings. Beide machten sich auch bald darüber her, und wenn auch Tischtuch und Teller fehlten, so that es doch Herr Larioz nicht anders, als daß er einen Bogen Papier auf der Tischecke ausbreitete, darauf den abgerissenen Deckel eines Buches legte und auf diesem die Wurst zerschnitt. Der Tiger schaute zu und wartete geduldig auf das Ende des Frühstücks, da er wohl wußte, daß auch für ihn was abfallen würde.

»Nun, wie gehts denn mit Eurer Wohnung?« fragte der lange Mann, nachdem er ein Stück Brod und Wurst versorgt und dann das Messer mit aufwärts gekehrter Spitze in der Hand hielt. »Habt Ihr's dem Hausherrn tüchtig gesagt und ihn ermahnt, das Dach ausbessern zu lassen? Bei San Jago! Wenn man seinen Hauszins einstreicht, so muß man dafür sorgen, daß es den Hausbewohnern nicht auf das Bett regnet!«

Der Tiger hatte eine Stimme, welche zu seinem kläglichen und verwahrlosten Aussehen durchaus paßte. Seine Reden klangen immer wie ein fortgesetztes Schluchzen, und dann erhob er seine Stimme immer am unrechten Orte, so daß man Fragen zu vernehmen glaubte, wo gar keine hingehörten.

»Ach, du lieber Gott!« sagte er, »was kümmert sich der Hausherr um ein armes Thier, wie ich bin? So, das Dach ist entzwei? hat er mich gefragt, es regnet stellenweise in Eure Kammer? Nun, da weiß ich Euch vorderhand einen guten Rath: stellt Euer Bett nicht dorthin, wo es hinein regnet, denn sonst könnte es naß werden.«

»Der Hausherr hat den Teufel im Leib!« meinte der Schreiber.

»Ja, und da sagte er noch obendrein,« – fuhr der Tiger fort, – »ich solle mich an so ein bischen Wasser nicht kehren, das sollte ich schon lange gewohnt sein. Nun ist das freilich wahr, denn so lange ich da oben wohne, jetzt schon an die zwanzig Jahre, tröpfelt es von Zeit zu Zeit immer durch das Dach. Ach, du lieber Gott! Aber so arg, wie jetzt, war es noch nie.«

»An so was mag sich, wer will, gewöhnen!« erwiderte heftig Herr Larioz; »man muß dem Hauseigenthümer einmal tüchtig auf sein eigenes Dach steigen.«

»Aber man kann in der Welt doch viel gewohnt werden! spricht meine Großmutter,« – mischte sich der Knabe in das Gespräch,– »wie ja auch die alte Frau zum Aal gesagt hat, indem sie ihm die Haut abzog.«

»So wollen wir dich einmal in den Regen unter das Dach legen,« sagte der Schreiber mit einem mißbilligenden Blicke auf Gottschalk.

»Auch der Bäcker sagte schon: Gewöhne dich daran, Miez! da fegte er mit der Katze den Ofen aus,« – murmelte der Knabe in sich hinein, doch so leise, daß es sein Vorgesetzter nicht verstand; sonst würde ihm das unzeitige Citiren von Sprichwörtern wahrscheinlich einen neuen Klaps eingetragen haben oder ihm sein gewöhnlicher Antheil an der Wurst entzogen worden sein.

»Aber er macht's uns auch nicht besser!« fuhr der lange Schreiber fort, nachdem er abermals seinem Frühstück zugesprochen. »Wenn es auch bei uns gerade nicht hereinregnet, so wackeln doch Fenster und Thüren, und man verbraucht fast mehr Holz, als man erschwingen kann.«

»Ich habe es aufgegeben, was zu sagen,« meinte die alte Frau, »denn selbst der Herr Doktor, der doch sein Wort gut zu stellen versteht, wird ja nicht einmal mit dem Hausherrn fertig. Er hat sich an den Häusern verkauft, so sagt der Doktor, aus Aerger darüber trinkt er Abends mehr Wein, als er sollte, und das will er wieder dadurch hereinbringen, daß er auf dem Dach ein paar elende Ziegel erspart.«

»Dergleichen hat der bankerotte Apotheker auch gedacht,« sprach Gottschalk mit pfiffigem Lächeln; »denn er sagte: So muß Reichthum wiederkommen. Damit stand er über Nacht auf und verkaufte für einen Kreuzer Läusesalbe.«

»Und die hat er wohl an dich verkauft, he?« fragte der Schreiber mit finsterem Stirnrunzeln;. »Gottschalk, Gottschalk, du bist ein wirklicher Schalk, und es wäre besser, man schickte dich zu Meister Schwörer zurück! So lange du dort unter der Elle geseufzt hast, warst du ein Kopfhänger und hast nicht gewagt, dein Maul aufzuthun; hier aber, wo man dich mit Liebe behandelt, fließt die Schelmerei beständig aus dir heraus.«

»Aber ich meinte es ja nicht böse, Herr Larioz,« entgegnete der Knabe mit einem affektirt demüthigen Blicke; »das sind so Sprüchlein, die ich von den Gesellen gehört und die mir immer einfallen.«

»Ich wollte, dir fiele was Anderes ein,« sprach streng der Schreiber; »jetzt schau deine Arbeit an« – damit zeigte er mit seinen langen, dürren Fingern auf den Papierbogen, wo oben die vier Zeilen gegen das ganze weiße Uebrige wie gar nichts aussahen; »wenn der Herr Prinzipal nachher kommt, werde ich dir wahrhaftig nicht wieder durchhelfen. – Meinst du vielleicht, es sei so leicht, ein ordentlicher Schreiber zu werden, obendrein, wenn man die Sache so saumselig angreift? Ich kann dich versichern, Gottschalk, aller Anfang ist schwer, sogar bei dem größten Fleiße.«

»Ja, aller Anfang ist schwer,« seufzte wehmüthig der Knabe, »das hat der Bauer auch gesagt, da wollte er die Kuh am Schwanz in den Stall ziehen.«

Dieses Mal zuckten die Finger des Herrn Larioz nach dem großen Lineal; doch erhob sich der Lehrling so eilig wie möglich und begab sich an seinen Schreibtisch. Auch tauchte er die Feder nun geschwinder ein als gewöhnlich und fing mit aller Emsigkeit an zu schreiben.

»Es ist doch ein gutes Bürschlein,« sagte begütigend der Tiger, der den Knaben seines harmlosen, heiteren Gemüthes wegen lieb gewonnen hatte und ihm alles Mögliche zu Gefallen that. »Sie werden sehen, Herr Larioz, aus dem wird noch was Rechtes; freilich, fleißig muß er sein, recht fleißig.«

»Ja, aber da er nicht fleißig ist, so wird er in den Mühen des ernsten Lebens untergehen und kommt, wenn er nicht recht fleißig wird, auf keinen grünen Zweig.«

»Ja, aber er paßt auf und begreift leicht,« meinte der Tiger.

»Er begreift, was ihm Spaß macht,« sagte Herr Larioz, während er vor sein Stehpult trat und die Arbeit wieder aufnahm. »Aber ihm fehlt der gehörige Ernst; sieht Sie, Frau Friedel, jetzt geben wir ihm die besten Lehren, und macht er wohl ein ernstes Gesicht? Schaue Sie ihn sich an! Da braucht jetzt nur draußen das Allergeringste zu geschehen, da braucht zum Beispiel nur einer von den bunten Lappen an der Waschleine zu fallen, so wird er in ein lautes Lachen ausbrechen. – Sage mir doch eigentlich, Bürschlein, worüber lächelst du jetzt, he?«

»Ich lächle ja gar nicht, Herr Larioz,« erwiderte Gottschalk und machte die furchtbarsten Anstrengungen, ein ernstes Gesicht zu zeigen.

»Ja, ja, ich weiß wohl, du willst keine guten Lehren annehmen; aber ich sage dir, Gottschalk, wenn du so fortmachst, kommst du auf keinen grünen Zweig, sondern gehst unter.«

Mochten nun diese Worte für den jungen Menschen etwas so außerordentlich Komisches haben, oder plagte ihn sonst was – genug, er brach los und lachte so laut und fröhlich,, daß selbst auf dem harten Gesicht des Schreibers ein Lächeln wetterleuchtete und der Tiger mit lautem Gelächter einfiel. Dabei trat die alte Frau zu dem Knaben hin und patschte ihm auf den Rücken, wie man es bei ähnlichen Veranlassungen kleinen Kindern zu machen pflegt, damit sie bei einem Lachanfalle nicht so sehr außer Athem kommen.

»Lassen Sie ihn gehen, Frau Friedel,« sprach wieder ernst der Schreiber, »der Kerl ist unverbesserlich, und ich werde noch stark an ihm herunterhobeln müssen.«

Die alte gute Frau beugte sich aber tief zu dem Kopfe des Knaben hinab, so daß ihr runzeliges Gesicht sein frisches lockiges Haar berührte. Dann sagte sie halblaut zu ihm:

»Nicht wahr, du wirst brav, Gottschalk, und lernst tüchtig, daß was Rechtes aus dir wird? Und ich glaube, daß du es zu was bringst; denn ich habe neulich deinetwegen in den Karten nachgesehen, und da stand viel Ehre und Geld. Nicht wahr, du gehst mir nicht unter?«

»Nein, nein, ich gehe nicht unter,« versetzte abermals, doch jetzt verbissener lachend der Knabe. »Ich werde mich schon bemühen, in die Höhe zu kommen.« Und darauf setzte er flüsternd hinzu: »Fett schwimmt oben, sagte Bartel, da lebte er noch.«

Nachdem der Tiger auf dieses Intermezzo noch die Schriftzüge Gottschalks bewundert, auch das übrige Brod und ein Paar Wurstzipfel zusammengelesen und eingepackt, strich er dem Knaben noch einmal leicht über den lockigen Kopf, erkundigte sich, ob Aufträge für ihn da seien, verließ dann die Stube und schritt durch den melancholischen Hof zum Hause hinaus.

Herr Larioz arbeitete fleißig an seinem Auszuge, und auch Gottschalk bemühte sich, tüchtig darauf los zu schreiben. Doch war leider heute einer von den Morgen, wo er zu keiner anhaltenden Arbeit kommen konnte; denn kaum hatte er den vier schon vorhandenen Zeilen noch ein paar Dutzend zugefügt, als im Nebenzimmer, in der Stube des Prinzipals, eine Stimme laut wurde, die ihn veranlaßte, die Feder ruhen zu lassen und erstaunt zu Herrn Larioz aufzublicken. Es waren eigentlich zwei oder mit der des Prinzipals drei Stimmen, die sich vernehmen ließen und etwas Wichtiges zu besprechen schienen. Die eine Stimme sagte: »Sie werden mir aber zugeben, Herr Doktor, daß ich vielleicht triftige Gründe habe, meine Ansicht und die des braven Mannes hier zu verfechten. Erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß dem Schwörer eine gelinde Strafe nichts schaden kann, daß man ihm so zu sagen wegen des Vorfalles neulich Nacht etwas anhängen sollte, item, daß wir Alles dazu beitragen müssen, unsere Klage zu begründen und aufrecht zu erhalten.«

»Aber ich weiß gar nicht, wie da eine Klage zu formuliren wäre.«

»Nun, Sie werden mir zugeben,« fuhr die erste Stimme wieder fort, »daß es denn doch ein bischen stark ist, einen armen Buben bei Nacht auf die Straße zu setzen und den Teufel zu bitten, daß er ihn hole. Ach, erlauben Sie mir! Wenn das nicht strafbar ist, da weiß ich überhaupt nicht, warum man in dieser Welt noch Prozesse anfangen soll.«

»Das ist Doktor Flecker,« sagte Herr Larioz. »Er spricht von dir.«

Jetzt wurde auch die dritte Stimme laut, und bei dem Klange derselben fuhr der Knabe etwas Weniges zusammen.

»Ich muß dem Herrn Doktor Flecker Recht geben,« ließ sich die dritte Stimme vernehmen; »was Teufel! man jagt keinen Hund Nachts bei Regenwetter aus dem Hause. Das soll mir der Schwörer, dieser Kerl, nicht umsonst gethan haben!«

»Das ist mein Vater,« meinte schüchtern Gottschalk.

»Allerdings, da haben Sie Recht,« hörte man den Rechtsconsulenten sagen, »und wenn es angeht, können wir den Schneidermeister Schwörer wegen Mißhandlung Ihres Sohns belangen.«

»Zu gelinde, viel zu gelinde! Erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, das wäre kaum der Mühe werth. Nein, nein! Man muß den Schwörer in seinem Glauben zu erhalten suchen, der Knabe sei verschwunden, und dabei will ich Ihnen zugeben, daß vernünftige Menschen meinen werden, er sei Gott weiß, wohin gekommen, verunglückt, meinetwegen von Räubern oder Zigeunern gestohlen; das ist mir Alles gleich viel, item, die Sippschaft des Schneidermeisters muß in ihrem Glauben erhalten und bestärkt werden, der Teufel habe ihn wirklich geholt.«

Herr Larioz hatte bei dem eben gehörten Gespräche seine Arbeit unterbrochen, hatte gedankenvoll das Kinn in die Hand gelegt und schüttelte augenscheinlich verdrießlich mit dem Kopfe.

»Sie sind sonst ein so gescheidter Mann, lieber Doktor,« hörte man den Rechtsconsulenten sagen, »aber dieses Mal haben Sie jedenfalls Unrecht; ich kann Sie versichern, ich wüßte nicht, in welcher Art ich eine Klage wegen Teufelholens anstellen sollte; ich müßte ja fürchten, mich völlig lächerlich zu machen. Und dann, wenn man die Sache ruhig betrachtet, so hat der Knabe irgend eine Veranlassung gegeben zu der übeln Behandlung, die ihm zu Theil geworden.«

»Dieses Mal nicht,« vernahm man die Stimme des Jägers, Herrn Brenner. »Zu Anfang, als mein Gottschalk in die Lehre kam, war es mir gelungen, dem Meister Schwörer die Livreen meiner Herrschaft zu verschaffen, damals lieferte er noch gute Arbeit. Als er sich aber nicht lange darauf mit seinen jetzigen stillen Freunden verband, da wurde die Arbeit immer schlechter, meine Kameraden klagten mit Recht über die mangelhaften Anzüge; ich versichere Sie, Westen und Hosen waren zu kurz und zu enge, auch mit der heißen Nadel genäht; und der Herr Baron von Breda nahm ihm die Arbeit ab. Von dem Augenblicke an war mein Gottschalk nichts mehr nutz. Ich weiß wohl, daß der Junge seine Fehler hat, wie jeder Andere, aber es lag klar am Tage, daß der Verlust der Kundschaft aus meinem Gottschalk mit einem Male den bösesten Buben gemacht.«

»Sie werden mir zugeben, mein lieber Doktor, daß so was unverantwortlich ist,« sagte der Armenarzt.

»Wenn ich das auch zugestehen muß,« entgegnete der Rechtsconsulent, »so werden Sie mir dagegen einräumen, daß ich von meinem Standpunkte aus Ihren Wünschen nicht nachkommen kann.«

»Sollte sich denn nicht eine kleine Handhabe drehen lassen können, womit sich die Sache nach unserer Ansicht bewegen ließe, mein lieber Herr Doktor? Habt ihr Herren vom Recht doch schon so viel, was gerade nicht Recht war, möglich gemacht, und wir sind hier so sehr in unserem Recht, daß, wie Sie mir zugeben werden, ein klein bischen Unrecht schon verzeihlich wäre.«

»Das Beste ist,« hörte man nach einem längeren Stillschweigen den Rechtsconsulenten sagen, »wenn wir die Hauptperson in dieser Geschichte, Herrn Larioz, noch ein Mal hörten. Ist's Ihnen gefällig, meine Herren, so treten wir einen Augenblick in die Schreibstube.«

Den Herren schien dieser Vorschlag in der That zu gefallen; denn im nächsten Augenblicke wurde die Thür geöffnet, und herein traten die Besitzer der drei Stimmen, welche man durch die dünne Wand sehr deutlich vernommen. Doktor Flecker schoß mit seiner gewöhnlichen Lebendigkeit herein, kniff sein rechtes Auge vertraulich gegen den Schreiber zu, wobei er bedeutend mit dem Kopfe nickte, und faßte zu gleicher Zeit den Lehrling am Rockkragen, ihn zur Begrüßung so freundlich und derb schüttelnd, daß die Feder fast der Hand entfallen wäre. Der Rechtsconsulent ging würdevoll wie es sich für einen Mann von seiner Stellung geziemte, das Kinn in die Halsbinde vergraben, auf dem Gesichte einen Zug stiller Sanftmuth und Ergebung, den er seinen Clienten gegenüber gern anzunehmen pflegte, um für eine umgängliche, ruhige und angenehme Persönlichkeit zu gelten, einen Zug, der aber zur Wahrheit wurde, so oft er sich seines Hauswesens, namentlich seiner Schwiegermutter erinnerte. Vater Brenner war eine breitschulterige, große Persönlichkeit, mit einem mehr als sanft gerötheten Gesichte. Dabei aber war er ein wohlgewachsener, hübscher Mann, vortrefflich im Dienste und der auch dort eine sehr gute Figur machte. Es konnte Niemand sicherer, mit größerer Leichtigkeit, ja, eleganter seinem Herrn die geladene Büchse präsentiren, als der Jäger Brenner. Wenn er hinten auf dem Wagen stand, so sah das so imposant aus, daß man hätte fragen können: »fährt dort vielleicht Seine Majestät in Allerhöchst eigener Person?« und wenn er bei der Tafel servirte, so geschah das mit einem solchen Aplomb und dabei mit einer solchen Umsicht, daß die Freunde des Barons Breda diesen um seinen Jäger ordentlich beneideten. Merkwürdig war es aber dabei, daß Herr Brenner, sobald er Federhut und Bandelier abgelegt hatte und sich im gewöhnlichen Leben bewegte, ziemlich steif und unbeholfen war, und daß es ihm da namentlich wie einem schlechten Schauspieler ging, der zwei Hände zu viel hat und absolut mit diesen nichts anzufangen weiß. Diese Schüchternheit war seltsam an Herrn Brenner, und er, der schon Ihrer Majestät der Königin ohne Furcht und Tadel ein Glas Wasser präsentirt hatte, war verlegen, wenn er außerhalb des Dienstes nur bei etwas höher gestellten Leuten ins Zimmer treten sollte. Zu Hause war das begreiflicher Weise nicht der Fall, und doch pflegte Herr Brenner bei großen Familienscenen, wo es eine bedeutende Abkanzelung galt, oder wo er sogar den Versuch machte, der Großmutter seine Meinung kund und zu wissen zu thun, mit Federhut und Bandelier zu erscheinen.

Jetzt war er also der Letzte, der ins Zimmer trat, und nachdem er eine Verbeugung gegen Herrn Larioz gemacht, streckte er seine rechte Hand nach Gottschalk aus, der sich ihm als gehorsamer Sohn augenblicklich näherte und nun vom Vater Brenner als Verlegenheits-Ableiter benutzt wurde; denn er behandelte ihn als Sache, die man zum Spielen in der Hand hält, man könnte sagen: als Spazierstock; denn er umfing mit seiner breiten Hand den Kopf des Knaben und drehte ihn zuweilen, wenn er seine Meinung abgab, nach allen Seiten herum.

»Da wären wir also,« sagte der Armenarzt, »ein vollkommenes und sehr respektables Concilium, das wird Jeder zugeben müssen, der uns hier beisammensieht. Erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß es vielleicht von Wichtigkeit sein wird, dem Herrn Larioz – meinem Freunde Don Larioz – als Haupthelden der ganzen Action, als ganz höllischer, verfluchter Persönlichkeit, die Sachlage nochmals ins Gedächtniß zurückzurufen.«

Vater Brenner, der nichts dagegen einzuwenden wußte, legte die linke Hand, die er gerade frei hatte, an sein bärtiges Kinn und nickte mit dem Kopfe.

»Ich halte das für unnöthig,« versetzte der Rechtsconsulent, indem er mit wichtiger Miene sein Kinn in die Halsbinde vergrub. »Herr Larioz kennt den vorliegenden Fall.«

»Ja, und ich erlaube mir, zu bemerken, daß der Fall sehr wichtig ist!« rief der Armenarzt, »und Sie werden mir zugeben, daß es nicht unnöthig ist, dieses unserem Freunde, Don Larioz, ins Gedächtniß zurückzurufen. Zum Henker, man läßt sich nicht nur so für den Teufel halten; und dieser vortreffliche Freund, der dort steht, weiß am besten, wie erstaunlich kläglich es war, als der arme kleine junge Mensch ganz durchnäßt in Kälte und Wind vor dem Hause herumlief; es war das ein Anblick, der auch das weichste Herz steinhart machen mußte.«

Während der Doktor dies mit großem Pathos sprach, hatte er ganz die Haltung eines Kampfhahns angenommen. Er stand da mit gespreizten Beinen, den Bauch so viel als möglich vorgedrückt, die Nase hoch erhoben und mit beiden Händen in der Luft herumfuchtelnd, wobei er in der Linken den Stock mit dem silbernen Knopfe trug. Seine Rede war besonders an Herrn Larioz gerichtet, von dem er wohl wußte, daß ihm der ganze Teufelshandel äußerst widerwärtig war, und den er durch seine begeisterten Worte mit sich fortzureißen hoffte; doch schien seine Absicht dieses Mal durchaus nicht gelingen zu wollen. Der Schreiber hatte sein Lineal hoch empor genommen und blickte ziemlich finster in den Hof hinaus.

»Nun, was meinen Sie?« fragte der Rechtsconsulent nach einer Pause, während welcher Alle schwiegen.

»Ich meine,« entgegnete Herr Larioz, »daß die ganze Sache ein unangenehmer Handel ist, der sich am besten dadurch ausgleicht, daß man ihn liegen läßt und so nach und nach vergißt.«

»Den Teufel auch!« rief der Doktor; »Freund, lassen Sie mir Ihre gewöhnlichen Phantasien von Recht und Gerechtigkeit nach Ihrer Art! So kommt man nicht durch die Welt, das kann ich Sie versichern.«

»Ich meine ferner,« fuhr der Schreiber, gänzlich unbewegt durch diese Exclamation, fort, »daß, wenn Herr Brenner gegen Meister Schwörer wegen unbefugter Mißhandlung seines Sohnes zu klagen hat, ich gern bereit bin, seine Klage durch mein Zeugniß zu unterstützen, daß ich aber dagegen mit der ganzen Teufelsgeschichte nichts zu thun haben will. Bei San Jago! Es hat freilich der Larioz genug gegeben, die den Teufel im Leibe hatten, davon bin ich überzeugt, aber keinen, der Lust gehabt hätte, sich mit der Person des Höllenfürsten zu identificiren.«

»Kindereien, Kindereien, Kindereien!« schrie der Doktor, und er sprach dieses Wort jedes Mal mit lauterer Stimme aus; »Sie werden mir zugeben, bester Don Larioz, daß ich mir meinen Spaß nicht so verderben lassen darf. Die Sache ist aufs beste eingefädelt, Meister Schwörer ist der festen Ansicht, er habe wirklich den Teufel gesehen, und wollen Sie,« setzte er mit komischer Wehmuth hinzu, »diesem Manne seinen guten Glauben verderben?«

»Bester Doktor,« nahm der Rechtsconsulent, der beinahe ungeduldig zu werden begann, das Wort, »Sie sehen, wir Männer vom Fache finden, daß der Sache keine rechtliche Handhabe zu drehen ist. Sie haben sich nun einmal in die Teufelsidee hinein verbissen, aber wir können die Sache nach Ihrer Idee unmöglich unterstützen. Wollen Sie eine Klage– Brenner contra Schwörer, Mißhandlung des jungen Menschen betreffend, so stehen wir mit allen unseren Kräften zu Befehl. Da ist aber die Grenze, und ich versichere Sie, ich könnte wahrhaftig in die Lage kommen, mich lächerlich zu machen, wenn ich mich in eine solche Teufelsgeschichte einließe, von der ich voraus weiß, daß sie nicht durchzuführen ist. Vielleicht,« setzte er mit Würde hinzu, wobei sein ganzes Kinn in der Halsbinde verschwand, »finden Sie einen Winkeladvokaten, der die Sache annimmt, Sie um Ihr Geld bringt und dann sitzen läßt. Aber wenn Sie den Rath eines guten Freundes annehmen wollen, bester Herr Doktor, so –«

»Das ist alles recht gut und wohl,«, rief der Arzt, der sich während der Rede des Advokaten wie eine Wetterfahne gedreht hatte, um alle Anwesenden der Reihe nach zu betrachten, »das ist vortrefflich gesprochen; aber Sie kennen jenes Volk nicht! Nur wenn wir sie mit ihrer Teufelsfurcht anpacken, ist was aus ihnen herauszupressen. Kommen wir ihnen aber mit einer ganz gewöhnlichen Klage auf den Leib, so wette ich Hundert gegen Eins, sie sind gerade so pfiffig wie wir, und wir können mit langer Nase abziehen.«

»Und das wäre das Beste,« ließ sich der Schreiber vernehmen, »wenn das Recht nicht auf unserer Seite ist.«

»Das Recht, lieber Freund, das Recht!« rief der Doktor mit komischer Entrüstung, wobei er ordentlich in die Höhe sprang; »Sie sollten mir eigentlich nicht erlauben, daß ich Ihnen bemerke, das Recht läßt sich drehen, wie eine wächserne Nase, aber es ist leider Gottes so. Was wollen Sie mit Ihrem Recht! Aber ich kenne Ihre Ansichten, und mit diesen werden Sie doch hundert Mal anstoßen. Sie halten die ganze Welt für ehrlich und werden bei dem Glauben verbleiben, bis man Sie mehrere Mal donnermäßig über den Löffel barbirt hat, und wenn das einmal recht tüchtig geschehen ist, dann werden Sie nach Gott schreien und – Ihrem ganz ergebensten Diener.«

Damit wandte sich der Doktor um und machte Miene, wie im Zorne, das Zimmer verlassen zu wollen. An der Thür aber drehte er sich auf dem Absatze herum, machte ein pfiffiges Gesicht und rief, wie um eine letzte, vielleicht günstige Entscheidung zu hören: »He?«

Vater Brenner hatte bedeutend mit dem Kopfe geschüttelt, und auch ihm wollte das Benehmen des Schreibers nicht einleuchten. Er strich sich mit der Hand über den Bart, schob Gottschalk wie zum Schutze einen Schritt vor sich hin und wollte mit einer feierlichen Rede gegen das Stehpult avanciren, war jedoch sehr froh darüber, daß der Doktor abermals das Wort nahm.

»So ist denn nichts zu machen?« sagte dieser. »Ich hätte das nimmer von Euch gedacht, Don Larioz. Nun gut, ich gehe meinen eigenen Weg und will schon sehen, was ich für meine armselige Person allein herausschlagen kann. Aber Eines werden Sie mir zu bemerken erlauben: lassen Sie mich meinen Weg gehen und kommen Sie mir nicht in die Quere. Es ist mir ja nicht um meinetwillen, sondern hauptsächlich um Sie selbst zu thun. Sie kennen jenes Volk nicht, und wenn Sie, gerade und ehrlich, wie Sie sind, mit demselben zu thun kriegen, so kommen Sie in Schaden, darauf können Sie Gift trinken – meinetwegen einen ganzen Schoppen Blausäure. Item, jetzt bin ich fertig.«

Der Rechtsconsulent schien hoch erfreut, daß der Doktor wirklich fertig sei; denn die Unterredung hatte ihm schon viel zu lange gedauert. Trotzdem aber machte er zum Abschiede ein freundlich lächelndes Gesicht, sagte etwas von sonst in allen Dingen gern zu Diensten stehen, von thätiger Rechtshülfe, unbedingt Vertrauen verdienen, und was dergleichen Phrasen mehr sind, und manövrirte dabei so glücklich mit Complimenten und Wendungen, daß sich der Armenarzt und Vater Brenner im nächsten Augenblicke unter der Thür befanden. Hier aber blieb der Letztere stehen, und da er an dem Thürpfosten einen soliden Anhaltspunkt gefunden hatte, so zeigte er ohne allzu große Verlegenheit auf seinen Sprößling, und sagte dabei: »Und der Herr Doktor sind mit meinem Kleinen da zufrieden? Glauben Sie, daß er sich zum Schreiber eignet? Es sollte mich wahrhaftig freuen; denn ich selber habe das Schneiderhandwerk all mein Lebtag nicht ausstehen können. Nur meine Alte meinte, es sei ersprießlich, wenn der Kerl da seinen Geschwistern baldigst die Kleider sticken könnte.«

Der Rechtsconsulent versicherte, es werde sich schon machen, er habe alle Hoffnung dazu, und dann ließ auch Vater Brenner seinen Thürpfosten fahren, worauf er augenblicklich im dunkeln Gange draußen verschwand. Doch hörte man seine tiefe Stimme noch zurückrufen: »Also, Oculi, halte dich brav, und mach' mir keine Schande!«

Der kleine Armenarzt war im halben Zorne davon geeilt, doch war er viel zu gutmüthig und hatte ein zu versöhnliches Gemüth, um das Haus in Feindschaft mit seinem alten Freunde verlassen zu können. Deßhalb kehrte er auch im Hofe wieder um, trat an die trüben Fensterscheiben der Schreibstube und klopfte heftig daran, und als der Schreiber lächelnd geöffnet, rief er hinein: »Freund Larioz, Ihr werdet mir zugeben, daß Ihr einen verdammt harten Kopf habt. Und ich habe es doch so gut mit Euch und dem Knaben gemeint! Na, denken wir vorderhand nicht mehr daran, und laßt mich machen! Aber kommt mir nicht in meinen Weg, das rathe ich Euch wohlmeinend; denn wenn Ihr in meinen Weg kommt, so werde ich zornig, und der Doktor Flecker in seinem Zorn ist eine gar gefährliche Persönlichkeit. Addio, caro amico!«

»Addio!« erwiderte lachend Don Larioz; dann schüttelten sich Beide die Hände, und der kleine Doktor, die gefährliche Persönlichkeit, hüpfte wie eine Bachstelze aus dem Hofe hinaus.

Draußen an dem halbzertrümmerten Thorflügel stand Vater Brenner; er hatte die linke Hand unter das Kinn gelegt, schien über etwas nachgedacht zu haben, und sagte nach einer Pause: »Herr Doktor, mit den vornehmen Advokaten ist es nichts. Ich kenne einen stillen Entenmaier, der sich der Sachen armer Leute gern annimmt.«

»Lieber Freund,« versetzte der Doktor, indem er seine beiden Hände, wie beschwörend, emporhob, »lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrem stillen Entenmaier; ich fürchte selbst, daß in der Sache auf dem Wege Rechtens nichts zu machen ist, weil der da drinnen sie nicht übernehmen wollte; denn wenn Einer mit dem Teufel umzugehen weiß, so ist es der Rechtsconsulent Plager.«

Bei diesen Worten lächelte er eigenthümlich und eilte in die nächste Gasse hinein. Vater Brenner aber blieb einen Augenblick gedankenvoll stehen, und da er aufblickend gewahrte, daß er sich in der Nähe eines Weinhauses befand, so fiel er dort ein, um sich nach den gehabten Strapazen zu einem kühlen Trunke zu verhelfen.

Unterdessen schrieb Gottschalk drinnen in der Stube fleißiger als vorher an seinem Bogen, wogegen Herr Larioz zerstreut schien und seine Auszüge nicht mehr so emsig machte, wie früher; ja, er nahm zuweilen die Feder quer in den Mund und blickte gedankenvoll in den Hof hinaus. Er schien lange etwas zu überlegen und endlich zu einem Entschlusse gekommen zu sein, worauf er zu sich selber sagte: »Ich muß dem Meister Schwörer beweisen, daß ich nicht der Teufel bin.«


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