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Zweites Kapitel.
Fremde Umgebungen


Wenn der geneigte Leser am Schlusse des vorigen Kapitels vielleicht mit einiger Spannung oder Gefühlen des Mitleids für den armen Schneiderjungen verblieb, so macht das seinem Herzen alle Ehre; doch sind wir weit entfernt, daraus den Schluß ziehen zu wollen, als glaube er in unserem aufgeklärten Jahrhundert an ein Sichtbarwerden des Teufels. Auch wir glauben nicht daran und wollen deßhalb dem freundlichen Leser gerne eine kurze Erklärung geben, daß Gottschalk nicht vom Teufel geholt wurde. Die Gestalt aber, die in der Mitternachtsstunde vor dem Gitter erschien, an welchem der Knabe hing, kann auf keinen Fall weggeläugnet werden, und wenn auch der Lehrjunge nicht die Augen des Meisters hatte und deßhalb weder Hörner noch Krallen entdeckte, so sah er doch ein unheimlich langes Etwas hinter sich stehen, mit einem hageren Gesichte, aus welchem große glänzende Augen ihn fest anschauten. Daß er hierüber erschrak, das Gitter losließ und auf den Boden niederglitt, ist durchaus nichts so Wunderbares; mancher Größere hätte es an seiner Stelle gerade so gemacht und wäre wahrscheinlich augenblicklich davon gelaufen, was Gottschalk aber nicht that; er lehnte sich vielmehr mit dem Rücken an die Mauer und sah seinerseits die Gestalt fest an. – Als der Schneider drinnen rief: »Der Teufel! der Teufel!« glitt ein verächtliches Lächeln über die Züge des langen Mannes, und er sagte mit ruhiger Stimme: »Du wirst doch wohl nicht glauben, was der da drinnen spricht? Ich bin weder der Teufel, noch sonst was Schlimmes, wollte, wie jeder andere Christenmensch, nach Hause gehen und blieb noch einen Augenblick an dem Fenster stehen, um den Spektakel zu hören.«

Der Lehrjunge hatte von seinem Vater eine gute Portion kecken Jägerblutes geerbt und fürchtete sich mehr vor der Elle des Meisters, sowie vor dessen dolchartiger Nase, als vor dem Teufel. Alles war auf so gutem Wege gewesen, er hatte schon den Hausschlüssel blinken sehen, und selbst die Strafpredigt des Meisters war bei ihrem gewöhnlichen Schlusse angelangt, wo er den Teufel ersuchte, Gesellen, Lehrjungen, kurz, wer ihn gerade ärgerte, Frau und Kinder nicht ausgenommen, augenblicklich zu holen. Da kam jener Zwischenfall, das Fenster flog klirrend zu, und das Licht erlosch.

Die lange Gestalt zog ihren Mantel, der in der That ein rothes Unterfutter hatte, fester um sich und sagte: »Ich habe keine Lust, hier länger im Regen zu stehen, und mag einen so kleinen Menschen, wie du bist, doch auch nicht in Sturm und Nacht allein lassen. Du bist der Lehrjunge des Meisters?«

»Ja, Herr,« versetzte der Knabe mit einem trostlosen Seitenblicke auf das dunkelgewordene Fenster.

»Und warum bist du nicht zur Zeit nach Hause gegangen?«

»Ich habe bei meiner Mutter das Bübchen herumtragen müssen und habe mich geirrt, als es neun Uhr schlug. Es mochte halb Zehn sein, als ich hieher kam,« setzte er fast weinend hinzu.

» Caracho!« sprach der Fremde, indem er die Augenbraunen hoch emporzog. »Und so stehst du über zwei Stunden hier im Regen! – Ich will dir was sagen: Komm mit mir, da kannst du wenigstens trocken und warm schlafen. Wir wollen deine Angaben untersuchen und dich dann morgen früh kräftiglichst bei deinem Meister entschuldigen. Aber,« fuhr die Gestalt nach einer Pause fort, wobei sie mit feierlichem Ernste zwei hagere Finger in die Höhe streckte, »eine Lüge darfst du mir nicht gesagt haben, beim Eid! eine Lüge würde ich dir nicht verzeihen. Ich hasse das Lügen wie den Teufel! – Willst du nun mit?«

»Gelogen habe ich nicht,« erwiderte der Knabe: »aber wie soll ich mit Ihnen gehen, da ich Sie gar nicht kenne?«

Der Andere lachte bei diesen Worten eigenthümlich, lüpfte seinen Radmantel etwas auf der rechten Schulter und warf ihn dann mit solcher Geschicklichkeit um seinen Hals herum, daß er das Kinn bis zum Munde wie ein großes Tuch verdeckte. »Das kannst du halten, wie du willst,« sagte er darauf; »ich habe dir das Anerbieten gemacht, weil ich bei solchem Wetter und zu dieser Stunde einen Hund nach Hause tragen würde, der winselnd vor der verschlossenen Hausthüre säße. Du bist am Ende noch mehr werth als ein Hund, hast auch Verstand und Beine, welche von diesem Verstande regiert werden. Willst du also ins Trockene kommen, so magst du mir folgen. Wo nicht, so habe ich wenigstens das Meinige gethan.«

Diese Worte sprach die Gestalt mit hoch erhobenem Kopfe und sehr feierlichem, aber dabei gutmüthigem Gesichtsausdruck, und als sie solche gesprochen, winkte sie leicht mit dem Kopfe und schritt trotz des strömenden Regens langsam die Straße hinab.

In diesem Augenblick beleuchtete sich das Fenster des Meisters Schwörer wieder, und Gottschalk, der einer neuen Strafpredigt, ja, der kräftigsten Anwendung des Ellenmaßes zuversichtlich entgegen sah, kratzte sich verlegen in den Haaren und bedachte, daß der Fremde, wenn er ihm hätte ein Leid thun wollen, ihn ja gewaltsam mitnehmen konnte. – Dabei glaubte er auch schon die schlurfenden Schritte des Meisters zu vernehmen, weßhalb er sich kurz entschloß, den Kragen seines Jäckchens fest am Halse zusammen zog und mit einem ziemlich krummen Rücken der langen Gestalt nachtrabte.

Diese hatte schon das Ende der Straße erreicht und bog, ohne sich umzuschauen, nach rechts ab. Bald indessen war der Knabe dicht hinter ihr und ließ nun vom Laufen ab, um, langsamer gehend, seine neue Bekanntschaft sich nochmals sorgfältig anzusehen. Der Fremde war, wie schon mehrmals bemerkt, von außergewöhnlicher Größe und erschien jetzt in dem langen Mantel, der ihm bis an die Füße reichte, und bei dem ungewissen Schein eines flackernden Gaslichtes noch länger, fast unheimlich. Obgleich er langsam dahin ging, machte er doch so weite Schritte, daß sich der Knabe anstrengen mußte, um ihm zu folgen. In der linken Hand schien die Gestalt einen großen Stock zu tragen, den sie bei jedem Schritte gleichförmig und taktmäßig auf das Straßenpflaster niedersetzte. Gewiß war es, daß sie die Schritte des Knaben hinter sich hören mußte, doch wandte der Mann im Mantel nicht ein einziges Mal seinen Kopf herum, sondern ging ruhig seines Weges, bald rechts, bald links, und hatte nach einer Viertelstunde das höher gelegene, reichere Stadtviertel, wo unsere Geschichte begann, verlassen und ein Labyrinth von engen Gäßchen erreicht, welche die alte Stadt bildeten und in einem ziemlich weiten Umkreise das Rathhaus und den alten Marktplatz umschlossen. Hier, wo die Häuser enger bei einander standen und die Gassen so schmal waren, auch in Schlangenlinien fortliefen, daß das Gaslicht auf größere Strecken gar keine Wirkung mehr thun konnte, war es am heutigen Abend, bei dem immerfort niederströmenden Regen recht unheimlich und traurig. Auch ließ sich kein menschliches Wesen im Freien sehen, selbst nicht einmal der Nachtwächter, der augenscheinlich seine Stunde aus irgend einem Hausgange hervor abrief, welcher ihn vor dem Unwetter schützte.

So gingen die Beiden noch eine Zeit lang dahin; dann blieb der Mann im Mantel vor einem großen alterthümlichen Hause stehen, mit einer gewaltigen Front, mit unregelmäßig angebrachten, aber weiten und hohen Fenstern, der man aber deutlich ansah, daß sie die Rückseite eines weitläufigen und großen Gebäudes bildete. Hier war auch keine Hausthür, sondern ein großes Thor mit morschen Holzflügeln, die etwas schief in ihren Angeln hingen und halb geöffnet waren. Wenn man näher trat, bemerkte man wohl, daß eine vollständige Schließung dieses Thores ohne vorherige Wegräumung eines Haufens Schutt, der sich nach und nach im Thorweg angesammelt hatte und am Eingange einen förmlichen kleinen Hügel bildete, nicht gut möglich war. Der Mann im Mantel blieb einen Augenblick stehen und blickte zum ersten Mal auf seinen kleinen Gefährten hinab, der, die Hände in den Hosentaschen durchnäßt und triefend neben ihm stand; dann sagte er: »Gut, daß du mir gefolgt bist; es soll dich nicht gereuen. Jetzt werden wir gleich im Trockenen sein. Da du aber aus leicht begreiflichen Gründen die Lokalität meines Hauses nicht kennst, so gebe ich dir den guten Rath, den Zipfel meines Mantels zu fassen, ihn nicht loszulassen und genau hinter mir drein zu gehen. – So! hast du gefaßt? – Nun halte dich recht fest.«

Damit ging die Gestalt zwischen den weit genug offenstehenden Thürflügeln durch, trat unter einen ganz finsteren Thorweg, und von da kamen Beide in einen ziemlich großen Hof, von so riesenhaften Hauswänden gebildet, daß man hier kaum die Hand vor den Augen sah und nur die seltsam gezackten Giebel und Dächer erkennen konnte, wenn man lange genug in den etwas helleren Nachthimmel hinauf blickte.

Der Knabe hielt sich fest an den Mantel, und trotz der kühlen Nachtluft fing er an, warm zu werden. Wenn er seine scharfen Augen aufmerksam rechts und links in die Finsterniß hineinbohrte, glaubte er allerlei absonderliche und merkwürdige Gegenstände und Gestalten zu entdecken. Dabei war der Weg so uneben, daß er häufig stolperte und gewiß öfters hingefallen wäre, wenn er den Mantelzipfel losgelassen hätte.

Jetzt erreichten sie das Ende des Hofes, traten durch eine Thür, und dann ging es eine schlüpfrige Wendeltreppe hinan. Gottschalk wagte auch hier nicht, den Mantel loszulassen; denn wenn auch das Treppenhaus ein paar kleine Fenster hatte, so war doch die Nacht zu dunkel, um irgend etwas erkennen zu lassen. Glücklicher Weise für ihn war nun nach kurzer Zeit das Ziel der Wanderung erreicht; denn der Muth des kleinen Knaben fing an, wankend zu werden, und ein gewisses Schlucken, das ihn unwillkürlich ankam, war ein sicherer Vorbote von Thränen.

»So!« sagte der Mann im Mantel, »da wären wir. Jetzt noch ein paar Schritte ins Zimmer hinein, und dann bleibe ruhig stehen, bis ich Licht gemacht habe.«

Es ist nun ein ganz eigenthümliches Gefühl, im Dunkeln in eine fremde Umgebung zu kommen und dieselbe bei aufflammendem Lichte auf einmal zu übersehen. Der kleine Knabe machte es, wie es vielleicht mancher Erwachsene gemacht haben würde: er schloß fest die Augen, und erst als er an einem röthlichen Scheine vor denselben bemerkte, daß die Finsterniß gewichen sei, blickte er um sich.

Er befand sich in einem ziemlich großen, viereckigen Gemache mit gewölbter Steindecke, die von vier Pfeilern getragen wurde, welche die Ecken des Zimmers bildeten und mit festen Wänden verbunden waren. Drei dieser Wände bestanden aus Mauerwerk, auf dem man Spuren von Tapeten sah, die vierte aber war ein Holzverschlag mit einer kleinen Thür, die in ein Nebenzimmer, das Schlafgemach des Bewohners, führte. Das Ameublement im ersten Zimmer bestand aus, einem großen Tische, der in der Mitte stand, mit einem grünen Teppich bedeckt, auf welchem Bücher und Schreibmaterialien lagen. In der einen Ecke befand sich ein Kleiderkasten mit einem Paar Stiefel, und der Eingangsthür gegenüber war ein großer altmodischer Kamin, der aber des theuren Brennmaterials wegen nicht mehr gebraucht zu werden schien; vielmehr hatte man einen eisernen Ofen vor ihn hingestellt, dessen Rohr in den Kamin hineinführte. Ueber demselben hing ein altes Bild, welches die Aufmerksamkeit des Knaben mehr als alles Uebrige in Anspruch nahm. Es war das Brustbild der lebensgroßen Figur eines Mannes in malerischem Kostüme früherer Zeiten, seidenem Mantel und großer Halskrause, über welche ein langes schmales Gesicht fast drohend herab blickte. Das Gesicht hatte große glänzende Augen, eine bleiche Farbe und einen schwarzen Schnurr- und Knebelbart, die Spitzen des ersteren waren scharf aufwärts gedreht. Das Bild war umgeben von einem geschnitzten Holzrahmen, dessen Vergoldung verblichen und abgenutzt war und jetzt statt Glanz nur noch rothe Flecken zeigte.

Was eigentlich die Aufmerksamkeit des Knaben so besonders auf das Bild wandte, war die auffallende Aehnlichkeit desselben mit dem Mann im Mantel, der ihn hieher geführt. Gab man diesem die sonderbaren Gewänder und die Halskrause, so hätte man darauf schwören können, er habe dem Maler zu jenem Bilde gesessen. Doch sah man bei näherem Betrachten auch sonst noch einen kleinen Unterschied. Das Bild blicke starr, finster, unbeugsam, wogegen der Mann im Mantel, der diesen indessen abgelegt hatte, trotz aufwärts gekehrtem Schnurrbart, trotz dem hageren Gesichte mit den glänzenden Augen, etwas sehr Freundliches, ja, Gutmüthiges in seinen Mienen hatte; besonders jetzt, als er auf den kleinen, fröstelnden Buben zutrat, ihm sanft über das Haar strich, weniger um dies zu thun, als um seinen Kopf in die Höhe zu heben und ihm bequemer in das gute, kindliche Gesicht sehen zu können. Mit dem, was er gesehen, schien er auch vollkommen zufrieden; denn er schritt alsdann eilig nach dem Ofen, warf einige Stücke Holz in die glühenden Kohlen und ging eilig in sein Schlafzimmer, von wo er gleich darauf mit einem langen Pelzrocke zurück kam.

»So, mein kleiner Mann,« sagte er; »jetzt ist es vor allen Dingen sehr nothwendig, daß du dich ausziehest, damit wir sehen, wie tief der fatale Regen durch deine Umhüllung gedrungen ist.«

Damit hatte er ihn an den Ofen geführt, und nachdem der Bube sein Jäckchen aufgeknöpft, fuhr er kopfschüttelnd fort:

»Mir scheint, der Regen ist so weit gedrungen, bis ihm die Natur selbst Halt gebot. Nun, das geht in einem hin, du bist ein verständiger Knabe, das seh' ich dir schon an, und während ich im Nebenzimmer meine Stiefel ausziehe, legst du Hosen, Schuhe, kurz, alles von dir, was naß ist. Hier hast du ein Hemd, und damit kannst du sehen, wie du zurecht kommst.«

Der lange Mann ging ins Nebenzimmer, und Gottschalk, ehe er begann, dessen Rath zu befolgen, sah noch einmal aufmerksam im Zimmer umher, vor allen Dingen auf den finsteren Mann über dem Kamin, der ihn forschend anblickte; dann, da es ihn sehr stark zu frieren anfing, zog er seine Schuhe aus, hierauf die sehr kurzen Höschen, dann auch das Hemd, und begann einen Eingang in das Gewand gleichen Namens zu suchen, welches ihm der lange Mann hingereicht. Erst nach ziemlicher Mühe gelang ihm das, und als er so mit dem übergroßen Hemde bekleidet war, gewährte er einen wahrhaft komischen Anblick.

Das mochte auch der Fremde denken, der nun ins Zimmer trat, denn er machte ein außerordentlich freundliches Gesicht, ja, lächelte ein wenig, als er einen der großen Lehnstühle näher an den Ofen schob, dem Knaben in den Pelzmantel hineinhalf und ihn dann niedersitzen ließ. Der Stuhl war so lang, daß die Füße des kleinen Buben noch vollkommen Platz auf dem Sitze hatten. Der Mann schlug den Pelzmantel um ihn herum und von unten wieder zurück bis über die Kniee, und so dauerte es denn gar nicht lange, bis eine behagliche Wärme den Körper des Knaben durchströmte.

Das frische Kindergesicht mit den großen braunen Augen schaute gar komisch aus dem alten Pelze hervor, und als Gottschalk sah, wie der fremde Mann, der neben ihm am Kamine stand und sich mit einer blechernen Kaffeemaschine zu schaffen machte, ihn zuweilen so liebreich anblickte, da lächelte auch er aus vollem Herzen und recht vergnügt; und so gaben die Drei, nämlich der lange Mann, der rundbackige lachende Knabe im Pelzrock und der ernste Kopf über dem Kamin ein gar hübsches Bild.

Was der Erstere indessen in seiner Kaffeemaschine zubereitete, roch so appetitlich, daß der Knabe zuweilen den Kopf dorthin wandte, um von dem Dufte etwas einzusaugen. Jetzt wurde dieser dampfende Inhalt des Blechgefäßes in zwei Gläser gegossen, von denen der Fremde eines auf das Kamingesims setzte, das andere aber dem Buben in die Hand gab mit der Ermahnung, es auszutrinken, so lange es noch recht warm sei, – ein Rath, den dieser auch alsbald befolgte, und worauf er dann fühlte, wie eine unendlich behagliche, ja, wohlthuende Wärme seinen Körper durchströmte.

»So!« sagte der lange Mann, nachdem er aus dem andern Glase einen ebenfalls tüchtigen Zug gethan, dann mit den Lippen geschmatzt und sich den Schnurrbart abgewischt hatte, »das wird wohlthuend von innen heraus wirken, während der Pelz von außen hinein wärmt.«

Bei diesen Worten zog er den andern Lehnstuhl an den Ofen, ließ sich darauf nieder und streckte die Beine so weit von sich, daß der Knabe dieser Bewegung mit einigem Schrecken folgte und schon glaubte, wenn das mit dem Ausstrecken noch eine Zeit lang so fortginge, so müßten die Füße des Mannes unbedingt die gegenüberliegende Wand erreichen. Sie hielten aber noch zu rechter Zeit an, und das beruhigte den Knaben wieder.

Der Mann hatte ihn einige Minuten lang forschend betrachtet, während er seinen rechten Arm auf die Lehne stützte und den Kopf darauf niedersinken ließ.

»Also du hast das Bübchen herumtragen müssen?« fragte er nach einer Pause. »Und wie alt ist denn das Bübchen?«

»Es wird im nächsten Sommer zwei Jahre alt,« erwiderte der Knabe, »und wenn man ihm einen Finger fest hinreicht, oder in den Hundeleitriemen einhängt, so macht es auch schon Versuche, allein herumzugehen. Aber das geht noch nicht recht, und es purzelt gleich hin.«

»Und trägst du oft das kleine Bübchen herum?« forschte der Andere weiter.

»Wenn mich der Meister zuweilen um sieben Uhr gehen läßt, und ich komme nach Haus, so ist die Mutter froh darum; denn während ich das Bübchen herumtrage oder mit ihm spiele, hat sie bessere Zeit, für die andern Kinder das Nachtessen zu besorgen, weil Judica meistens spät von der Nähterei heimkommt.«

»Das ist wohl deine Schwester?« fragte der lange Mann. »Ein sonderbarer Name, Judica!«

»Freilich ist es meine Schwester,« lachte der Knabe, »und den Namen hat der Vater erfunden; es hat aber auch Zank zwischen ihm und der Mutter, sogar einen kleinen Wortwechsel mit dem Herrn Pfarrer gegeben; denn auch den andern Kindern hat er so komische Namen beigelegt.«

»Und wie heißt du denn?«

»Eigentlich heiße ich Gottschalk; aber getauft bin ich Gottschalk Oculi; die Mutter ruft mich mit dem Namen Gottschalk, der Vater aber mit dem andern; doch die Mutter kann das nicht recht leiden, denn sie behauptet, Oculi sei nichts Besseres, als ein Hundename.«

»So seid ihr wohl euer vier Kinder?« bemerkte der lange Mann nach einer kleinen Pause.

»Ja wohl, Herr.«

»Und das dritte ist ein Mädchen?«

»Ja wohl, Herr.«

»Wahrscheinlich mit dem Beinamen Lätare?« bemerke der lange Mann lachend.

»Woher wißt Ihr das, Herr?«

»O, ich kann es mir denken. Und das Bübchen heißt Palmarum?«

»Ja, Herr, Franz Palmarum.«

»Und wie heißt ihr alle mit einander? Das heißt, wie ist euer Familienname?«

»Ich heiße Gottschalk Brenner, und so heißen auch die andern,« sprach das Kind. »Der Vater ist der herrschaftliche Jäger Brenner und dient beim Freiherrn von Breda. Ein recht braver Herr, und wenn er mir auf der Gasse begegnet und erkennt mich, was zuweilen vorkommt, so schenkt er mir einen Groschen.«

»Und wie ging es denn zu,« fragte der lange Mann nach einem augenblicklichen Stillschweigen, »daß du zu Meister Schwörer in die Lehre gekommen bist? Hattest du Lust, ein Schneider zu werden?«

»So eigentlich nicht, Herr,« meinte der Knabe, »ich wäre auch lieber ein Jäger geworden; aber die Mutter hat es durchgesetzt, denn sie sagte, Handwerk habe einen goldenen Boden; all' das Andere sei nichts Solides, nicht die Jägerei und nicht die Künstlerei und auch nicht die Schreiberei.«

»Daran ist etwas Wahres,« sagte nachdenkend der Mann; »aber du hättest ja Schlosser werden können, oder Schreiner oder dergleichen. Warum auch gerade Schneider?«

»Der Meister Schwörer war dazumal mit meinem Vater gut Freund, kam häufig ins Haus und konnte nicht genug loben, wie schön es sei, wenn man ein Schneider werde. Das sei ein lustiges und angenehmes Handwerk, sagte er, da säße man den ganzen Tag mit andern jungen Leuten auf dem Tische der Werkstatt und hätte Zeit, einander allerlei zu erzählen und lustige Lieder zu singen. Arbeit sei das Geschäft eigentlich gar nicht zu nennen; denn so einen Stich zu machen, das gehe leicht von der Hand und sei dabei eine sehr gesunde Beschäftigung. Der Vater meinte freilich wie Ihr, Herr, ein Schneider sei doch eigentlich nichts Rechtes; aber das nahm Meister Schwörer recht übel und erzählte, was für merkwürdige Leute aus dem Schneiderstand hervorgegangen seien. Ich weiß nicht mehr recht, vornehme Handelsherren, ja Künstler und Tänzer. Auch seien Schneider bedeutende Personen in der Stadt; denn bei jedem tüchtigen Krawall, wo's auf viel Lärmen und große Reden ankäme, gäben sie häufig den Ausschlag.«

»Aber was die Freundschaft zwischen Meister Schwörer und deinem Vater anbelangt, so scheint sie jetzt nicht mehr sehr stark zu sein; denn heute Abend am Fenster habe ich allerlei Wort vernommen. Ist's nicht so?«

»Ja wohl, Herr,« sagte der Knabe nach einer Pause schüchtern; »dafür, daß mich der Meister in die Lehre nahm, verschaffte ihm mein Vater die Livree des Herrn Barons; doch dauerte das nicht lange. Denn schon nach einiger Zeit beschwerten sich alle Bedienten, sie hätten noch kein so schlechtes Tuch an ihren Röcken gehabt und noch nie so leichtsinnig genäht.«

»Aber der Meister Schwörer ist ein frommer Mann?«

»Ja, Herr, er sagt es, geht auch viel in die Kirche und hält wöchentlich ein paar Mal Betstunde im Hause, was aber die Meisterin nicht leiden kann; denn sie meint, dabei käme nichts heraus.«

»So sagt sie?«

»Ja, ich habe es oft gehört. Früher, wo die Gesellen lustige Lieder gesungen hätten, da seien die Nadeln nur so geflogen und die Stiche gleichförmig und fest geworden; jetzt aber, wo der Meister, sowie auch der Altgesell das Singen nicht leiden könnten und statt des Liederbuches allerlei fromme Büchlein in die Werkstatt gebracht hätten, da ginge es faul und langsam zu, daß sich Gott erbarm'!«

Während der Knabe dies sprach, hatte ihm der Fremde aufmerksam zugehört und ihm dabei forschend in die Augen geblickt; ja, als nun der Kleine geendigt, erhob sich der Andere von seinem Stuhle und legte sanft seine Hand auf den Kopf desselben.

»Du hast eine sehr heiße Stirn,« bemerkte der Mann nach einer Pause; »fühlst du dich auch recht wohl?«

»Es ist mir sehr warm,« erwiderte das Kind; »auch trocken im Munde; und wenn ich etwas Wasser trinken könnte, wäre es mir sehr angenehm.«

»Du bist doch zu lange im Regen gewesen!« meinte besorgt der Fremde. Und damit faßte er seinen Arm und fühlte nach dem Puls. »Ein bißchen Fieber!« murmelte er, »und fliegende Röthe im Gesicht; wird aber morgen schon besser sein. Zum Ueberfluß will ich dir etwas Kamillenthee machen. Das schmeckt freilich nicht besonders, ist aber gesund.«

Der Knabe fühlte ebenfalls wohl, daß es ihm nicht so wie sonst zu Muthe sei. Es lag schwer auf seinen Augenlidern; er mußte sie oft unwillkürlich schließen, und zuweilen fühlte er ein Frösteln in seinem ganzen Körper, welches aber gleich darauf wieder von einer starken Hitze verdrängt wurde. Trotzdem aber fühlte er sich gar nicht unbehaglich in dem Lehnstuhle und vermißte durchaus nicht sein Lager unter dem Dache im Hause des Meisters Schwörer; selbst nicht, wenn er an die Schlittendecke dachte, auf welche er sich für die heutige Nacht recht gefreut hatte. Eigentlich mußte er sich über sich selbst wundern, daß es ihm hier in dem seltsamen, so eigenthümlich gewölbten Zimmer bei dem fremden Manne nicht unheimlich war. Obgleich dieser so ruhig und feierlich sprach, obgleich er die unbedeutendsten Dinge, wie z. B. jetzt das Ausspülen des Blechgefäßes mit so großem Ernste, und ohne ein Wort zu sprechen, that, so hatte dagegen wieder das ganze Benehmen des langen Mannes gegen ihn, sowie dessen Gesichtsausdruck und Blick so etwas Zuthunliches und Angenehmes, daß der kleine Knabe ohne Scheu vor dem ihm doch so fremden Wesen die Augen schloß und sich dabei freute, so oft er die langsamen Schritte des Mannes hörte, wenn derselbe vom Ofen nach dem Schlafzimmer ging oder zurückkehrte. Auch mochte er dabei eingeschlummert sein; wenigstens kam es ihm so vor, als sei eine lange, lange Zeit vergangen, wie er nun auf einmal fühlte, daß Jemand leise seine Stirn berührte.

Der Knabe schlug die Augen auf und sah den langen Mann mit einer Tasse dampfenden Thee's vor sich stehen; doch fühlte er sich so matt, daß es ihm schon recht angenehm war, wie ihn jener langsam aufrichtete, dann die Tasse an seinen Mund brachte, so daß er nur zu schlucken brauchte, um etwas von dem warmen, gerade nicht so unangenehm schmeckenden Getränk zu erhalten. – Als Gottschalk nach und nach die Tasse geleert, lehnte ihn der lange Mann wieder sanft in den Stuhl zurück, rückte den andern unten an seine Füße, so daß beide zusammen ein förmliches Bett bildeten, schob ihm ein Kissen unter den Kopf und schlug alsdann den großen Pelzrock wieder sorgfältig um ihn her.

Der Knabe schlummerte fast augenblicklich wieder ein, schlief aber nicht so ruhig, wie er sonst zu thun pflegte. Seltsame Gestalten zogen an ihm vorüber, und dabei glaubte er bald in einem großen Feuer zu liegen, aus welchem jene Gestalten aufstiegen und ihn unheimlich anstierten; dann war es ihm wieder, als befände er sich in kalter Nacht auf der Straße; es regnete heftig in Einem fort, und wo die Tropfen seinen Körper berührten, da war es gerade, als stäche ihn Jemand mit Nadeln; – viel Wasser, unendlich viel Wasser stürzte vom Himmel hernieder, so viel, daß es nirgends mehr abfließen konnte und zu seinen Füßen immer höher emporstieg. Dabei stand er gerade an der Straßenecke dicht bei dem Hause, wo seine Eltern wohnten, an der wohlbekannten Ecke, wo sich in einer Nische der heilige Christoph befindet. Und der stieg herunter, wuchs zusehens in die Höhe und sah nun gerade aus, wie der lange Mann, dem er heute Abends durch die Straßen gefolgt war. In heftiger Angst hängte er sich an seinen Mantel; das Wasser wuchs immer höher, so daß er in der Todesangst zu beten anfing; und als er das recht inbrünstig und warm gethan, blieb der lange Mann stehen, blickte recht freundlich auf ihn hernieder, hob ihn auf seine Schultern und trug ihn fort durch das brausende Wasser – – darauf fühlte er wohl, wie er warm und behaglich im großen Lehnstuhle lag. Ueber, ihm war die gewölbte Decke, neben ihm der Ofen und der Kamin, und über dem letzteren das große Bild, vor dem er sich aber nicht im Geringsten mehr fürchtete, selbst nicht, als dasselbe jetzt höchst sonderbarer Weise lebendig wurde und langsam aus seinem Nahmen herabstieg.

Ja, es stieg herab und stellte sich neben ihn. Es war dasselbe Gesicht, nur freundlicher anzusehen; auch hatte es statt des bunten Gewandes eine weiße Jacke an und eine spitze Nachtmütze auf dem Kopfe. Auch war der Schnurrbart nicht mehr so drohend in die Höhe gekehrt. – Wie hätte er sich noch fürchten können! das Bild war ja so gutmüthig um ihn besorgt. Jetzt legte es ihm die Hand auf die Stirn; jetzt deckte es ihn wieder sorgfältig mit dem Pelzmantel zu, der auf einer Seite herabgerutscht war; ja, jetzt warf es sogar neues Holz in die verglimmenden Kohlen des Ofens. Und nachdem alles das geschehen war, schwebte es langsam hinweg, und als der Knabe in die Höhe blickte, stand es wieder wie vorher in dem blauen Holzrahmen und sah starr vor sich hin, als wenn gar nichts geschehen wäre und als ob es durchaus keine Berechtigung hätte, den innigen Dank des Knaben anzunehmen.


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